Interview

"Gewähr für hohe sachliche Kompetenz"

Thomas Dörr ist seit November 2022 Präsident des Landgerichts Ulm, davor war er 13 Jahre lang Präsident des Landgerichts Ravensburg. Wir sprachen mit ihm darüber, wie Richter und Sachverständige zusammenarbeiten und warum er dabei besonders die Expertise öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger zu schätzen weiß.
In welchen Fällen haben Sie als Richter vor dem Landgericht besonders oft mit Sachverständigen zu tun?
Die Tätigkeit der Richter ist im Grunde zweigeteilt. Wir müssen, wenn der Sachvortrag der Parteien streitig ist, zunächst einmal den Sachverhalt ermitteln, den wir unserer rechtlichen Prüfung und Bewertung zugrunde legen. Die Rechtsprüfung ist dann erst der zweite Schritt. Bei einer Beweisaufnahme ziehen wir Urkunden heran, hören Zeugen und befragen Sachverständige, wenn es um strittige Bewertungen aus anderen Fachgebieten geht. Sachverständige haben daher für die Entscheidung eines Rechtsstreits eine große Bedeutung. Wenngleich wir uns bemühen, die Ausführungen in einem Sachverständigengutachten sachlich nachzuvollziehen und Gutachten auch kritisch hinterfragen, sind Richter letztlich darauf angewiesen, dass ein Sachverständiger die Beweisfragen überzeugend und richtig beantwortet. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein inhaltlich falsches Gutachten, dem der Richter folgt, führt automatisch zu einem falschen Urteil. Daher kommt den Sachverständigen eine große Verantwortung in den Verfahren zu.
In der Praxis werden Sachverständige aus den verschiedensten Bereichen benötigt. In drei Sparten haben die Gerichte besonders oft mit Sachverständigen zu tun: Bei Verkehrsunfällen werden Sachverständige für die Rekonstruktion von Unfallhergängen und zur Einschätzung der Höhe von Fahrzeugschäden benötigt. In Baufällen, in denen es um Werklohnforderungen von Unternehmen oder um Ansprüche von Auftraggebern wegen behaupteter Baumängel geht, werden Sachverständige aus den unterschiedlichsten handwerklichen Berufszweigen und, für übergeordnete Fragestellungen, Architekten, Ingenieure und Statiker benötigt. Und in Arzthaftpflichtverfahren brauchen wir Ärzte, die prüfen, ob ein ärztlicher Behandlungsfehler festgestellt werden kann.
Ist Ihnen ein Fall besonders in Erinnerung, in dem es um hohe Summen ging und in dem ein Sachverständiger unabdingbar war?
Die Frage, ob ein Sachverständiger unabdingbar ist, hängt nicht von der Höhe des Streitwerts, sondern davon ab, ob für die Entscheidung eines Rechtsstreits die Expertise eines Gutachters erforderlich ist. Allerdings gelingt es in Fällen, in denen der Streitwert eher niedrig ist und die voraussichtlichen Kosten eines Gutachtens hoch sind, häufig, eine vergleichsweise Regelung zu erzielen und damit die Beauftragung eines Sachverständigen zu vermeiden. Die höchsten Streitwerte weisen üblicherweise Baufälle auf, vor allem wenn sie größere Objekte betreffen und es um zahlreiche Mängel geht. Dann müssen in einem Rechtsstreit mitunter auch mehrere Sachverständige eingesetzt werden, was dann oft zu der vielfach beklagten langen Verfahrensdauer führt.
Sachverständige begutachten Sachverhalte, sind also in der Beweisaufnahme relevant. Welche Aufgaben haben sie noch?
Sachverständige erheben zunächst die tatsächliche Situation, etwa durch einen Ortstermin oder die Untersuchung eines Menschen. Daran knüpfen sich die eigentliche gutachterliche Stellungnahme und die Beantwortung der vom Gericht gestellten Beweisfragen an. Häufig stellen sich aber nach einem schriftlichen Sachverständigengutachten noch weitere Fragen, zu deren Beantwortung Sachverständige dann zur mündlichen Verhandlung geladen werden. Hier ist es bedeutsam, dass der Sachverständige gut vorbereitet ist und seine Bewertung dem Gericht und den Parteien, die nicht vom Fach sind, überzeugend und verständlich nahebringen kann. Der Idealfall ist, dass ein Sachverständiger auch die Partei, zu deren Nachteil die Begutachtung ausgeht, inhaltlich überzeugen kann.
Warum sind öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige so wichtig für die Rechtsprechung?
Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige bieten in der Regel Gewähr für eine hohe fachliche Kompetenz des Sachverständigen und damit für eine richtige Beurteilung der Beweisfragen. Hinzu kommt, dass öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige häufig mehrfach von Gerichten eingesetzt werden und sie daher eher in der Lage sind, ihre Bewertungen auch so darzustellen, dass sie für das Gericht und die Parteien verständlich und nachvollziehbar sind.
Was war der vielleicht ungewöhnlichste Fall mit einem Sachverständigen, der Ihnen untergekommen ist?
Ungewöhnlich, nicht von der Beweisfrage her, sondern vom Ablauf des Verfahrens, war ein Fall, in dem ein Bausachverständiger mit den Parteien und Anwälten einen Ortstermin durchgeführt hat und sich unmittelbar nach Beendigung des Ortstermins mit einem der Rechtsanwälte privat auf einem Parkplatz getroffen hat. Dies hat der Anwalt der Gegenpartei beobachtet und den Sachverständigen daher – letztlich erfolgreich – wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Es ist von großer Bedeutung, dass Sachverständige bei der Begutachtung absolut neutral bleiben und jeden Anschein einer Parteilichkeit vermeiden. Dies gilt sowohl für die eigentliche Gutachtertätigkeit als auch für berufliche oder private Beziehungen zu einer Partei. Besteht eine wie auch immer geartete Beziehung zu einer der Parteien, sollte der Sachverständige dies unbedingt dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten mitteilen und das Gericht dann gegebenenfalls einen anderen Sachverständigen suchen. Tatsächlich kommt es in der gerichtlichen Praxis aber sehr selten zu Ablehnungen von Sachverständigen. In der Regel haben sowohl das Gericht als auch die Parteien ein großes Vertrauen nicht nur in die Fachkunde, sondern auch in die Integrität der Sachverständigen. Wir Richterinnen und Richter sind auf die Bereitschaft der Fachleute angewiesen, sich als Sachverständige bestellen zu lassen. Es ist eine sehr verantwortungsvolle, aber – wie ich von Sachverständigen immer wieder höre – auch erfüllende Aufgabe, an der Lösung eines Rechtsstreits mitzuwirken.
Interview: Cynthia Krauss, IHK Ulm
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