Interview

"Die Türkei profitiert vom Trend zum Nearshoring"

Ob Erdbeben oder Inflation - trotz schwierigen Zeiten für das Land am Bosporus ist das Stimmungsbild bei deutschen Unternehmen in der Türkei eher positiv, und es bieten sich ihnen weitere Potenziale. Wir sprechen darüber mit dem Chef der Auslandshandelskammer in der Türkei, Thilo Pahl.

Wie schätzen Sie die Situation in der Türkei nach den Erdbeben vom Februar 2023 ein?

Diese verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien haben mehr als 55.000 Menschen das Leben gekostet – eine unfassbare menschliche Tragödie. Die Kosten für den Wiederaufbau werden für die Türkei auf rund 100 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das entspricht 11 Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts. Die Türkei wird für eine längere Zeit auf weitere Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sein.

Welche Rolle spielt dabei die Inflation?

Die Erdbeben haben die Türkei in einer fragilen wirtschaftlichen Gesamtsituation getroffen – geprägt von hoher Inflation und einer starken Abwertung der türkischen Lira. Im Oktober 2022 lag die Inflation bei 86 Prozent, der höchste Stand seit 24 Jahren. Aktuell sind es im April 2023 immer noch 44 Prozent. Gegenüber dem US-Dollar hat die türkische Lira im Jahr 2022 rund 30 Prozent an Wert verloren. Dadurch werden Importe teurer, insbesondere von Energie. Die schwache Währung und die gestiegenen Energiepreise treiben das Leistungsbilanzdefizit der Türkei in die Höhe, im vergangenen Jahr betrug es 49 Milliarden US-Dollar.

Gibt es auch positive Nachrichten zur wirtschaftlichen Lage?

Ja, durchaus. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen ist die türkische Wirtschaft erstaunlich robust. Im Jahr 2022 wuchs sie um 5,6 Prozent. Die Exporte stiegen auf ein Allzeithoch von 254 Milliarden US-Dollar. Davon profitieren auch deutsche Unternehmen. Das Handelsvolumen zwischen Deutschland und der Türkei erreichte 2022 einen neuen Rekord von 45 Milliarden US-Dollar.
Diese positiven Wachstums- und Exportzahlen schlagen sich auch im Stimmungsbild der deutschen Unternehmen zur Geschäftslage in der Türkei nieder. In unserer aktuellen Umfrage aus dem Frühjahr 2023 bezeichnen 69 Prozent der Unternehmen ihre Geschäftslage als gut, nur 3 Prozent als schlecht. Deutlich pessimistischer zeigten sich die Unternehmen jedoch mit Blick auf die weitere Geschäftsentwicklung. Hier wirkten sich Unsicherheiten bezüglich des wirtschaftspolitischen Kurses nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 in der Türkei aus.

Wie sind die Aussichten, wo liegen die größten Potenziale für deutsche Unternehmen?

Mittel- bis langfristig schätzen die deutschen Unternehmen das wirtschaftliche Potenzial der Türkei als hoch ein. Die Infrastruktur ist vielfach ausgezeichnet, die Industriebasis breit, es gibt viele logistische Optionen für den Handel mit Europa, die Produktion ist immer noch vergleichsweise günstig, und die Verfügbarkeit von Arbeits- und Fachkräften ist gut.

Aus diesen Gründen investieren auch immer mehr deutsche Unternehmen in der Türkei. Im vergangenen Jahr lagen die Direktinvestitionen bei knapp 700 Millionen US-Dollar. Das ist der zweithöchste Wert in den letzten 13 Jahren. Die Türkei profitiert vom Trend zum Nearshoring. Das trifft jedoch überwiegend auf die Unternehmen zu, die den türkischen Markt bereits kennen. Investitionen von deutschen Unternehmen, die bisher nicht in der Türkei engagiert waren, sind wesentlich seltener.

Ein großes wirtschaftliches Potenzial liegt im Bereich der erneuerbaren Energien und des grünen Wasserstoffs. Die natürlichen Bedingungen für Wind- und Solarenergie sind in der Türkei hervorragend. Einige Projekte konnten wir als AHK bereits unterstützen, das Potenzial für mehr ist vorhanden.

Welche Weichen müssen jetzt gestellt werden?

In unseren Umfragen nennen 75 Prozent der deutschen Unternehmen den Wechselkurs als größten Risikofaktor für ihre geschäftlichen Entwicklungen, 60 Prozent die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Global liegen diese Werte bei lediglich 28 Prozent für den Wechselkurs und 39 Prozent für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
An diesen beiden Punkten sollte die Wirtschaftspolitik nach den Wahlen ansetzen. Eine konsequent inflationsorientierte Geldpolitik mit einer unabhängig agierenden Zentralbank würde helfen, den Wechselkurs der türkischen Lira zu stabilisieren. Die Wirtschaftspolitik sollte unvorhersehbare Eingriffe in die Rahmenbedingungen vermeiden. Auch sollte ein stärkerer Fokus auf Innovationen und Bildung gelegt werden.
Interview: Thilo Kunze