Interview

„Der Underdog hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt.“

Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass aktuell viele Unternehmen nach Wegen suchen, zumindest Teile ihrer Produktion aus  Asien zurück nach Europa zu verlagern: stabilere Lieferketten, kürzere Lieferzeiten und kürzere Transportwege sind nur einige  davon. Die weltweiten Versorgungsengpässe machen die Türkei überraschend zu einem begehrten Fluchtpunkt deutscher  Im- und Exporteure. Für immer mehr KMUs gewinnt das Land unmittelbar vor den Toren der Europäischen Union für die  Warenversorgung massiv an Bedeutung. Für die Türkei ist Deutschland seit Jahren das mit Abstand wichtigste Exportland.  Viele deutsche Unternehmen beziehen Waren und Zulieferungen aus der Türkei oder produzieren selbst vor Ort. Die Türkei hat  durch die Nearshoring-Bestrebungen im Zuge der Corona-Pandemie als Zulieferstandort weiter an Bedeutung gewonnen.
Kitlik Consulting unterstützt KMUs seit vielen Jahren bei der Beschaffung aus der Türkei. Geschäftsführer Kemal Kitlik spricht im Interview über seine Erfahrungen als „Brücke zwischen Deutschland und der Türkei“.

Herr Kitlik, Nearshoring ist zurzeit  in aller Munde. Sie haben sich damit eingehend beschäftigt, was genau  beschreibt der Begriff?

Nearshoring ist die Verlagerung ins nahe Ausland. Wie zum Beispiel in die östlichen europäischen Länder oder auch in die Türkei. Ziel des Nearshoring sind Kosteneinsparungen – beispielsweise bei Personal- und Lohnkosten sowie Fertigungskosten. 

Warum sollte man ausgerechnet  die Türkei für Nearshore-Aktivitäten in Betracht ziehen?

Die Türkei war bis dato immer ein Underdog, doch der hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt, sodass man bei einer realen Analyse um die Türkei nicht mehr herumkommt. Die Türkei ist auf Rang 5 in Europa und auf Rang 14 weltweit in der Fahrzeugproduktion, dadurch hat sich ein stabiler Industriezweig entwickelt. OEMs wie Renault, Ford, Toyota, Hyundai oder Mercedes sind in der Türkei und investieren in ihre Werke. Das Land bietet viele Vorteile: Zum einen hat die Türkei eine unheimliche Fertigungstiefe. Es gibt dort so gut wie jede Technologie – Kunststoffspritzguss, Stanz- und Tiefziehteile, Aluminiumdruckguss, Druckguss, Dreh- und Frästeile, mechanische Baugruppen, Kautschukteile, Sondermaschinenbau, Werkzeug- und Vorrichtungsbau und vieles mehr –  sowie die dazugehörige Manpower. Gut ausgebildetes Fachpersonal und eine junge Bevölkerung, Fachkräftemangel wird sich aufgrund der Population nicht ergeben. Hinzu kommt, dass die Nachwuchsgeneration wissbegierig ist. Die hohe Flexibilität der Unternehmen ist ein weiterer Vorteil: Schnelle Reaktionszeiten gepaart mit Pragmatismus und Improvisationskunst – eine sehr attraktive Kombination, die gute Ergebnisse hervorbringt. Sprachliche Barrieren  gibt es keine mehr. Die englische Sprache ist inzwischen Standard und Deutsch beinahe auch. Partner in der Türkei erreichen Sie zudem mit einer halben Tagesreise, kurze Dienst-reisen, und wenn es mal brennt sogar Sondertransporte, sind möglich. Außerdem gehört die Türkei zur Zollunion, es fallen also keine Steuern an. Alles in allem ist die Türkei eine gute  Alternative zu China.

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Wie läuft Nearshoring bzw. Sourcing denn ganz praktisch ab, und wie sehen Sie die Chancen und Potenziale für  Unternehmen aus unserer Region?

Nearshoring basiert auf Zahlen, Daten und Fakten. Man betrachtet das Produkt und die dazugehörigen Kosten. Man ermittelt genau, was es kostet, es am Standort in Deutschland zu produzieren, und was es in der Türkei kosten würde. Für eine TCO-Betrachtung – Total Cost of Ownership – werden alle relevanten Kostenarten ermittelt. Die Analyse der gesammelten Daten bildet dann die Grundlage für die Entscheidung: Nearshoring – ja oder nein. Für die Unternehmen aus der Region schätze ich die Chancen sehr gut ein –wenn man es richtig macht. Die Unternehmen erfüllen alle Standards. Es sind aber vor allem Offenheit und das Eliminieren möglicher Vorurteile wichtig, um den richtigen Partner zu finden. Große Vorteile gibt es bei Baugruppen oder Produkten mit hohem Bearbeitungsanteil. Aktuell unterstützen wir zum Beispiel einen namhaften Tier-1-Lieferanten aus der Automobilzulieferindustrie, der vor der Herausforderung steht, Prototypen mit kurzen Lieferzeiten in der gewünschten Lieferzeit zu bekommen. Zunächst war eine gewisse Skepsis da, ob die gewünschte Qualität geliefert werden kann. Doch erste Muster, die wir auf unsere Kosten fertigen ließen, konnten letzte Zweifel beseitigen, und der Kunde war überzeugt.

Auf welche Herausforderungen stoßen Unternehmen, die die Fertigung aus Asien Richtung Europa zurückholen wollen?

Die größte Herausforderung ist die Kostenstruktur. Zum einen ist Europa teurer als Asien, und dazu kommen noch die gestiegenen Rohstoff- und Energiekosten. In diesem Zuge sollte man unbedingt den finanziellen Background der jeweiligen Partner prüfen,  um sicher zu sein, dass nicht kurz nach der Verlagerung die Insolvenz ansteht. Leider geht die Welle der Insolvenzen momentan erst los.
Interview: Halil Kükürt, Christin Schiele