Wettbewerbsfähiges Europa - wie lässt sich ein starker Standort für den Mittelstand sichern?

Wettbewerbsfähiges Europa

Der Wirtschaftsstandort Deutschland hat sich verändert, und darauf müssen Unternehmen ebenso reagieren wie die Politik. Business as usual reicht nicht mehr aus, Europa ist auf der Suche nach Möglichkeiten, Abhängigkeiten zu verringern und seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen – aber wie?
Die Erfahrungen und Krisen der letzten Jahre haben die deutsche Wirtschaft, aber auch den Wirtschaftsstandort Deutschland verändert. Durch die Pandemie unterbrochene Lieferketten haben den Materialmangel verschärft, und die Folgen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sorgen dafür, dass die ohnehin schon hohen Energiepreise noch weiter steigen. Das Erlebte zeigt: Unsicherheiten nehmen zu, und daran müssen sich Unternehmen und Politik gleichermaßen anpassen. Business as usual führt nicht mehr zu tragfähigen Ergebnissen. Daher sucht Europa nach Möglichkeiten, Abhängigkeiten bei essenziellen Produkten – etwa in der Energieversorgung oder bei kritischen Rohstoffen – zu verringern und seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.

Die Lage der deutschen Wirtschaft: Es ist kompliziert

Unternehmen äußern sich zunehmend kritisch über die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Umfragen, die die DIHK regelmäßig mit den IHKs und AHKs durchführt, zeigen, dass die Unternehmen mit steigenden Kosten, wachsender Bürokratie und zunehmenden Handelsbarrieren konfrontiert sind.
In Kombination mit der noch immer schwächelnden Konjunktur in Deutschland und der Welt heißt das: Der nötige Investitionsschub für die Transformation der Wirtschaft bleibt momentan aus – und damit auch die Investitionen in unsere Wettbewerbsfähigkeit. Neben den Energie und Rohstoffkosten bewertet die Hälfte der Unternehmen vor allem den anhaltenden Fachkräftemangel sowie die letztlich auch damit verbundenen steigenden Arbeitskosten als relevantes Geschäftsrisiko. Auch die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen werden genannt – vor allem Bürokratie, Inflation, Energie und Steuern.
International agierende Unternehmen berichten von weiter zunehmenden Handelshemmnissen. Auch diese sind Kostentreiber für die stark international verflochtene deutsche Wirtschaft und erschweren die Diversifizierung von Lieferketten, die Unternehmen seit den Ausfällen während der Corona-Pandemie anstreben. Nicht alle bürokratischen Hürden im internationalen Geschäft werden von Drittländern eingeführt: Auch die Umsetzung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes stellt viele Betriebe vor große Herausforderungen und Kosten – vor allem kleine und mittlere Unternehmen.

Die Ansätze der EU-Kommission – stabile Rahmenbedingungen oder kleinteilige Steuerung?

Blickt man auf die europäische Gesetzgebung, so sieht man hier sehr viele neue Auflagen und Gesetze, die das Wirtschaften verteuern: höhere Preise für CO², neue Berichtspflichten von der Nachhaltigkeitsberichtserstattung bis hin zu einem europäischen Lieferkettengesetz, striktere Renovierungsauflagen für Gebäude und Emissionsstandards für Fahrzeuge, um nur einige Auswirkungen der Initiativen zu nennen. Während die Ziele der grünen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft von der Wirtschaft unterstützt werden, ist es fraglich, inwieweit die Wechselwirkungen der Vielzahl der aktuellen Regulierungen ausreichend geprüft sind oder ob es effizientere Ansätze für die Regulierungen und insbesondere ihre Umsetzung gibt. Allein das schiere Ausmaß an neuen Regelungen überfordert den deutschen Mittelstand, insbesondere vor dem Hintergrund der momentanen Situation. In den vergangenen Wochen und Monaten hat die Europäische Kommission einige Initiativen vorgelegt, um die Industrie zu unterstützen: Der sogenannte Industrieplan des Green Deal soll die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Bereich Clean Tech stärken. Der Green Deal stützt sich auf vier Säulen:
  1. planungssichere und einfachere Regelungen
  2. schnellerer Zugang zu EU-Finanzmitteln
  3. Ausbau von Kompetenzen bei Fachkräften
  4. offener Welthandel für resiliente Lieferketten.
Im Rahmen der ersten Säule hat die Kommission unter anderem zwei Gesetzesentwürfe vorgelegt, welche die Planungs- und Zulassungsverfahren für acht Clean-Tech-Branchen sowie für den Abbau von Rohstoffen innerhalb der EU beschleunigen sollen. Beide setzen Ziele, um wie viel Prozent die Produktions- beziehungsweise Abbaukapazitäten innerhalb der EU bis 2030 gestärkt werden sollen. Dadurch sollen die Produktion von erneuerbaren Energien ausgebaut und die Abhängigkeiten von Lieferanten außerhalb der EU verringert werden. Auch bei den Säulen zwei und drei dreht es sich um EU-Finanzmittel und Kompetenzen für die grüne Transformation; bei der vierten Säule allgemein um einen besseren Marktzugang über die Welthandelsorganisation WTO, Freihandelsabkommen oder auch einen multilateralen Rohstoffclub.
Während diese Vorschläge valide Ansatzpunkte enthalten, für die sich auch die IHK-Organisation einsetzt – Planungsbeschleunigung, Vereinfachung von Verfahren, Möglichkeit für schnellere Investitionen und Finanzierung, marktgerechte Ausbildung von Fachkräften –, beinhalten die Gesetzesvorschläge auch Maßnahmen, die über das Ziel hinausschießen. Zu nennen sind hier die Zielvorgaben für eine Mindestproduktion kritischer Rohstoffe in Europa oder die Diversifizierung von Bezugsquellen. Ebenfalls kritisch sieht die DIHK den in den Gesetzesvorschlägen angedachten Aufbau von staatlich koordinierten strategischen Reserven oder das Monitoring von Lieferketten. Es gehört zum unternehmerischen Alltag, das Risiko zum Beispiel durch Lieferanten zu streuen und die Produktion zu planen. Dafür bedarf es keiner staatlichen Vorgaben.
Aufgabe der politischen Initiativen sollte es stattdessen sein, belastbare Rahmenbedingungen und Planungssicherheit zu schaffen, damit Unternehmen entsprechend agieren und Entscheidungen treffen können. Abschottung und staatlich verordnete Rückverlagerung von Unternehmen – sogenanntes Reshoring – können für das global vernetzte Europa keine Lösung sein.

Arbeit an den Standortfaktoren: Konkrete Erleichterungen statt noch mehr Ankündigungen

Zusätzlich zu den konkreten Gesetzesvorschlägen zu Clean Tech und Rohstoffen hat die Europäische Kommission im März 2023 eine Strategie zur Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit der EU veröffentlicht, die die Weichen für die Zeit nach 2030 stellen soll. Darin wird auf die wichtigsten Standortfaktoren eingegangen, allerdings bleiben die Maßnahmen sehr generell.
Hier ist ein konkreterer Fahrplan nötig, denn die Erfahrung hat gezeigt, dass Strategien oft abstrakt bleiben. Bereits im Jahr 2000 hatte die EU die sogenannte Lissabon-Strategie verabschiedet, durch die sie innerhalb von zehn Jahren zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ werden wollte. Viele der Ziele aus dieser Strategie sind bis heute nicht erreicht.
Als nächsten Schritt hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun zudem angekündigt, im Herbst Vorschläge dafür vorzulegen, wie Berichtspflichten für Unternehmen um 25 Prozent gesenkt werden können. Grundsätzlich ist jede Art von Bürokratieabbau ein Schritt in die richtige Richtung. Doch auch hier gilt: Die Ankündigung muss mit Leben gefüllt werden und zu spürbaren Vereinfachungen führen.
Wie der Erfüllungsaufwand von Berichtspflichten und Gesetzen zu bemessen ist und entsprechend reduziert werden kann, ist bereits bei dem Ansatz „One in, one out“ – also der Regel, dass bei jedem neuen Gesetz eine Regel abgeschafft werden soll, die den gleichen bürokratischen Aufwand bedeutet – viel diskutiert worden. De facto wird das Prinzip trotz aller Bekenntnisse dazu nicht angewandt.
Auch im Bereich Mittelstandspolitik bleibt es momentan nur bei Ankündigungen: Bislang kommen mit dem von der EU-Kommission angekündigten sogenannten „Entlastungspaket für den Mittelstand“ in erster Linie die seit Langem geplante Überarbeitung der Zahlungsverzugsrichtlinie sowie eine Körperschaftsteuerreform, aber keine realen, konkreten Entlastungen für den Mittelstand. Diese Arten von Ankündigungen schwächen das Vertrauen von Unternehmen in den Standort Europa.

Wir brauchen eine neue EU-Agenda für Wettbewerbsfähigkeit

Dieses Jahr feiert Europa das 30-jährige Bestehen des Binnenmarkts. Auch wenn er noch nicht vollendet ist, hat er das Wirtschaften innerhalb Europas stark vereinfacht und dadurch wesentlich zu unserer Wettbewerbsfähigkeit beigetragen. Um diese Erfolgsgeschichte fortzusetzen, brauchen wir eine Vollendung des Binnenmarkts und eine umfassende Agenda für Wettbewerbsfähigkeit. Hierfür sind der ernst gemeinte Abbau von Bürokratie, erschwingliche Energie sowie eine kohärente und verhältnismäßige Regulierung, die Rechtssicherheit bietet, ebenso essenziell wie genug Freiheit für Forschung, Entwicklung und Unternehmertum. Es braucht mehr Förderung von Innovation und Fachkräften sowie eine proaktive Handelsagenda, um neue Märkte zu erschließen und verlässliche und durchsetzbare Rahmenbedingungen für international agierende Unternehmen zu schaffen. Europa muss in seinen Verfahren schneller werden und sich jetzt auf die Initiativen konzentrieren, die uns aus der Krise herausführen – nur so können wir ein starker Standort für die Wirtschaft und insbesondere für den Mittelstand bleiben.
Freya Lemcke, Leiterin der DIHK-Vertretung bei der EU