Leitartikel

Nearshoring – Einkaufen in der Nähe

Angesichts der weltweiten Krisen und Lieferkettenprobleme wünschen sich Unternehmen vor allem eines: mehr Planbarkeit. Nearshoring, das Verlagern von Produktion und Zulieferern aus der Ferne näher zur Heimat, könnte für mehr Sicherheit sorgen. Doch wie lässt sich dies in der Praxis umsetzen? Vier Unternehmen aus der Region berichten.
Wer eine Regenjacke von VAUDE kauft, kann davon ausgehen, dass diese in Asien gefertigt wurde – etwa in Myanmar, Kambodscha oder Vietnam, den Hauptproduktionsländern der Outdoor-Marke. Eine wasserdichte Fahrradtasche dagegen kommt vom Stammsitz Obereisenbach bei Tettnang. Und die Kunststoffschalen dafür wiederum aus Tschechien. „Technische Zelte“ dagegen werden in China gefertigt. Dort habe man einen langjährigen Partner mit hoher Expertise, sagt Susanne Medesi, Head of Vendor Management bei der VAUDE Sport GmbH & Co. KG. Einige TShirt- und Fleece- Modelle wiederum stammen aus Portugal und Italien – traditionell starken Ländern für Strickwaren. Die Beispiele zeigen, wie weitverzweigt die Lieferbeziehungen von VAUDE sind. „Die Produktion in Deutschland liegt uns sehr am Herzen“, sagt Medesi, „denn hier liegen unsere Wurzeln.“ Vor allem entwicklungs- und Know-how-intensive Produkte würden vor Ort hergestellt. Für vieles gebe es aber keine Alternative zu Fernost. „Wir sind Teil der Textilbranche und deren Globalisierung“, sagt Medesi. Bereits in den 1980er-Jahren sei diese Richtung Asien gewandert, inklusive Know-how, Maschinen und Zulieferern.
Je näher am Markt, desto exakter lässt sich planen.
– Susanne Medesi
Heute produziert VAUDE zu 85 Prozent in Asien und zu 15 Prozent in Europa, auch etwa in der Ukraine oder neu in Rumänien. Für Europa spricht vor allem eines: die Lieferzeit. „Wenn ich die Sommerkollektion aus Asien im Januar im Haus haben möchte, muss sie im November verschifft werden“, rechnet Medesi vor. „Dann muss ich sie im Juni in Auftrag geben.“ Doch „bis dahin war noch keine Messe, die mir verlässliche Absatzzahlen liefert“. Aus Europa dagegen reiche die Auftragserteilung im September: „Je näher am Markt, desto exakter lässt sich planen.“ Man prüfe immer wieder von neuem mögliche Produktionen in Europa. Doch es mangele hier vor allem an Kapazitäten. „Das ist ein komplexes Zusammenspiel zwischen Produzenten, Vorlieferanten und Anforderungen an das Produkt“, sagt Medesi. So sitze etwa das Know-how zur Herstellung funktionaler Outdoor-Stoffe, wie sie VAUDE benötige, vor allem in Japan, Taiwan und Korea. Wichtiger als die Frage, wo etwas hergestellt wird, ist für VAUDE ohnehin, „wie es hergestellt wird“. Denn „Globalisierung heißt für uns, weltweit Verantwortung für faire Produktionsbedingungen zu übernehmen“, sagt Medesi. Dazu gehörten faire Löhne und hohe Umweltstandards „überall auf der Welt“. Besonderes Augenmerk habe man derzeit denn auch auf Myanmar: „In den zehn Jahren vor dem Militärputsch sind dort viele Arbeitsplätze entstanden, es wurde viel Positives bewirkt.“ Doch nun beobachte man die Lage genau – gemeinsam mit der Organisation Fair Wear, welche die VAUDE-Produktionsstätten regelmäßig kontrolliere. Und was die Lieferketten insgesamt angeht: „Natürlich wären kürzere Transportwege sinnvoll“, sagt Medesi. Doch von der CO2-Bilanz her machten die Seewege aus Asien gegenüber europäischen LKW-Transporten kaum einen Unterschied.

Waldner braucht vor allem Sicherheit in der Lieferkette

Für Wolfgang Weimer indes ist der Weg nach Asien „nur bedingt“ eine Option. „Unsere Lieferketten sind seit jeher europäisch“, sagt der Einkaufsleiter der Waldner Laboreinrichtungen SE & Co. KG in Wangen. Lediglich 10 Prozent kommen aus Fernost. Möbelgriffe zum Beispiel, die in China gefertigt werden. Waldner stattet Labore aus, mit Sicherheitseinrichtungen, Medienträgern und Möbeln. In diesem Segment sei man „mit Abstand größter Anbieter in Deutschland und Europa“. „Wir richten hierzulande jedes dritte Labor ein“, so Weimer, „und sind in vermutlich jedem zweiten Tatort zu sehen“ – denn darunter sind viele Pathologien.
In der Lieferkette von Waldner Laboreinrichtungen geht es vor allem um Sicherheit. Einmal um die der Produkte: „Wenn ein Abzug im Labor nicht funktioniert, besteht Lebensgefahr.“ Aber auch um Sicherheit in der Kette. „Wir sind im Bauwesen tätig“, erläutert Weimer. „Da steht der Terminplan eines neuen Gebäudes, und in den müssen wir uns einfügen.“ Da könne man nicht „drei Monate auf irgendein fehlendes Teil warten“.
Sein Lieblingsbeispiel ist hier die Autoindustrie. „Wenn der typische deutsche Autokunde vom Händler erfährt, dass er neun Monate auf seinen Wagen warten muss“, so Weimer, „dann sagt er: Ok.“ Unter solchen Rahmenbedingungen könne man ganz andere Lieferketten aufbauen. Doch „wenn wir sechs Wochen in Verzug sind, dann zahlen wir Vertragsstrafe“. Der Risikominimierungsgedanke habe bei Waldner daher schon immer Priorität: Die Produktion findet zu 98 Prozent vor Ort in Wangen statt. Single-Source-Situationen, also die Beschaffung eines Bauteils über nur einen einzigen Lieferanten, versuche man zu vermeiden. Und wo das in Einzelfällen nicht gehe, habe man technische Backup-Lösungen in der Schublade. Wieder kommt Weimer auf die Autoindustrie. Dass bei hiesigen Autobauern wegen fehlender Kabelbäume die Bänder stillstehen, weil man sich auf einen einzigen Lieferanten in der Ukraine verlassen hat, sieht er kritisch: „Das Vermeiden von Single Source ist elementarer Baustein jedes Risikomanagements.“ Dennoch ist auch Waldner von weltweiten Lieferengpässen betroffen. Denn viele indirekte Lieferanten sitzen in Asien. Ein Nadelöhr sind elektronische Bauteile. „Trotz aller Gegenmaßnahmen“ haben sich hier Lieferzeiten verschoben. „Und so treffen die geopolitischen Verwerfungen am Ende doch den kleinen Anbieter im beschaulichen Wangen“, sinniert Weimer.
Das Vermeiden von Single Source ist elementarer Baustein jedes Risikomanagements.
– Wolfgang Weimer
Der Einkaufschef sieht es so: „Wir kommen aus einer Zeit des Überflusses. Es war immer genug da, Einkäufer konnten sich ihre Lieferanten aussuchen.“ Doch nun spüre man erstmals seit langem wieder Mangel – und habe daher „einen klaren Verkäufermarkt“. Mittelfristig werde sich dies aber wieder normalisieren, so Weimers Überzeugung. Und nicht zuletzt müsse man das Ganze ins Verhältnis setzen zur Zahlungsbereitschaft der Kunden: „Und die ist definitiv gestiegen.“ Schlussendlich gelte es daher nicht nur, etwas irgendwo möglichst preiswert zu bekommen, sagt Weimer, sondern, „die Gesamtanforderung des Kunden zu erfüllen“, die sich „aus Preis, Qualität und Lieferfähigkeit zusammensetzt“.

Wölfle hat Standort in Marokko aufgebaut

Preis, Qualität und Lieferfähigkeit: In diesem „magischen Dreieck der Beschaffung“ bewegt sich auch die Wölfle GmbH aus Ochsenhausen, Spezialist für Thermomanagementlösungen im sogenannten Off-Highway-Markt, zu dem etwa Baumaschinen, Mähdrescher oder Traktoren gehören. „Wir sind hier klassischer Tier-1-Zulieferer“, sagt Geschäftsführer Thomas Wölfle, im Vergleich zur Autoindustrie aber „in homöopathischen Mengen“.
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Die Corona-Krise habe gezeigt, „in we
lchen Abhängigkeiten wir wirklich stecken“, so Wölfle. „Das war einem all die Jahre nicht richtig bewusst.“ Selbstverständlich arbeite auch die Wölfle GmbH an Risikominimierung. Doch manche Abhängigkeiten könne man „kurzfristig nicht ändern“. Auch Wölfl e nennt hier vor allem Halbleiter. „Kaum war etwas Entspannung in Sicht, brennt in China die wichtige Vishay-Fabrik ab“, sagt er. Das Problem: Die Entwicklung eines elektronischen Steuergeräts dauert zwei bis drei Jahre. Sei nun ein Bauteil nicht mehr verfügbar, könne man das Layout mit Tests und Prüfungen „nicht bis übermorgen ändern“. Der Gedanke des Nearshoring indes gefällt Thomas Wölfl e: „Das Beste aus zwei Welten – zwischen Offshoring und Localshoring.“ Bereits vor Jahren ist man daher auf die Suche nach einem Standort zur Auslagerung lohnintensiver Produktion gegangen. Nicht zu weit weg sollte er sein, aber mit ausreichend Arbeitskräften zu niedrigen Kosten. Wichtig waren Wölfle auch „kurze Reaktionszeiten, ähnliche Mentalität, keine zwölf Stunden Flug und keine acht Wochen Container“. Fündig geworden ist man im marokkanischen Tetouan, unweit von Gibraltar. „Wir hatten einfach den Zirkel auf die Landkarte gelegt“, erinnert sich Wölfle. Schnell sei dabei klar geworden, dass der gesamte osteuropäische Markt „überlaufen“ war. Jeder sei nach Osten gegangen. Das habe sich dann „einmal durchkaskadiert, bis überall Vollbeschäftigung herrschte“. Wölfle betreibt bereits einen Standort in Tschechien, kann dort aber wegen fehlender Fachkräfte nicht wachsen.
Wir hatten einfach den Zirkel auf die Landkarte gelegt.
– Thomas Wölfle
Marokko dagegen ist für den Firmenchef „ideal“: Ähnliche Zeitzone, Kommunikation auf Französisch, EU-Ausland, reichlich günstige Arbeitskräfte. Der typische „Milk Run“, einmal LKW rauf und runter, dauere fünf Tage. So habe man das Auftragswachstum nach Corona „gut mitnehmen können“. Zudem fühlt sich Wölfle in Marokko sicher. „Das Land hat praktisch keine Bodenschätze, deshalb lässt die Welt Marokko in Ruhe.“ Gefertigt werden hier vor allem elektrische Bauteile. „Klassische Lohnveredelungstätigkeiten“, sagt Wölfle, „die wertschöpfungsintensiv sind, aber mit geringem Transportvolumen.“ Kabinen schweißen – Wölfl es Spezialität sind klimatisierte Plug&Play-Fahrerkabinen – würde man in Marokko sicherlich nicht. „Am Ende kommt es in der Wertschöpfungskette immer auf die klassischen Lohnstückkosten an“, erklärt Wölfle. Natürlich könnte man auch 50 Kilometer um den Standort in Oberschwaben sourcen, doch „dann wären wir sicher nicht mehr wettbewerbsfähig“. Rund 260 Mitarbeiter arbeiten derzeit am Standort in Tetouan. Wölfles Maßnahme gegen anhaltende Unsicherheiten in der Lieferkette: Demnächst beginnt dort der Bau einer weiteren, 5.000 Quadratmeter großen Produktionshalle.

Kässbohrer setzt auf Produktion in der Türkei

Wir haben die Corona-Zeit mit zuverlässigen Partnern durchgestanden.
– Iffet Türken
Im benachbarten EU-Ausland produziert heute auch der Anhänger- und Auflieger-Spezialist Kässbohrer mit Hauptsitz in Achstetten. Seit 2002 wird praktisch das gesamte Portfolio aus Tiefladern, Tank- und Silowagen, Containerchassis und Kippern in der Türkei hergestellt. Hintergrund: Kässbohrer wurde damals vom türkischen Tirsan-Konzern übernommen. Auf dem Adapazari Mega Campus nahe Istanbul, einem der großen türkischen Fahrzeugbau-Standorte, laufen bis zu 20.000 Einheiten im Jahr vom Band. In Ulm erfolgten die Fertigstellung der Stückgutfahrzeuge, Qualitätskontrolle sowie optionale Umrüstungen, erläutert Iffet Türken, Vorstandsmitglied von Kässbohrer. Zudem betreibt Kässbohrer ein Werk in Goch bei Düsseldorf.
Die Lieferbeziehungen von Kässbohrer seien fast ausschließlich europäisch, erläutert Türken. Holz, Achsen, Bremssysteme und Reifen kommen aus Europa, hauptsächlich von Partnern in Deutschland und Österreich. Den Vorteil des Produktionsstandorts Türkei sieht sie nicht nur in kurzen Wegen, sondern auch in der Adaption europäischer Produktionsstandards und Rechtsvorschriften. Zudem sei die Türkei bereits seit 1996 in der EU-Zollunion, was einen völlig zollfreien Warenverkehr ermögliche. Überhaupt habe die Autoproduktion in der Türkei eine lange Tradition, erläutert Türken, die eine internationale Ausrichtung und Kompetenz mit sich bringe. Bereits seit 1959 seien hier US-Autobauer aktiv. Ende der 1960er Jahre folgten deutsche und japanische Hersteller. Das weltweite Forschungs- und Entwicklungszentrum von Ford etwa befinde sich hier, ebenso das F&E-Zentrum von Mercedes-Benz sowie das viertgrößte Toyota-Werk, weiß Türken zu berichten. Die Corona-Pandemie habe dazu geführt, dass man die Beziehungen zu den Partnern noch weiter intensiviert habe. Auch wenn es stellenweise Engpässe gab, bei elektronischen Bauteilen etwa, Holz oder Gummi: „Wir haben es gemeinsam mit zuverlässigen Partnern durchgestanden“, sagt Türken, „und unsere Beziehungen haben sich dadurch gefestigt.“ Für die Managerin ist die geografische Nähe dabei kein unwesentlicher Faktor.

Jürgen Baltes lebt und arbeitet als freier Journalist in Überlingen