Der Tag, an dem das Sauerstoffwerk Friedrichshafen (SWF) den ersten Wasserstoff produziert hat, ist schon etwas her. Es war 1913, als man die Versorgung der Zeppeline aufzubauen begann. Rund 1.000 Kilogramm Wasserstoff wurden damals pro Tag produziert und via Pipeline zum „Weltluftschiffhafen“ gepumpt. Aber das ist Geschichte. SWF stellt selbst keinen Wasserstoff mehr her, sondern handelt lediglich damit. In den SWF Luftzerlegungsanlagen in Friedrichshafen und Bielefeld werden heute hochreine technische Gase auf Basis von Stickstoff, Sauerstoff und Argon erzeugt.
© Rolf Schultes, Drumlin Photos
Doch nun kommt auch der Wasserstoff zurück. In Aitrach habe man 20.000 Quadratmeter Fläche gekauft und werde dort ab 2026 rund 900 Kilogramm grünen Wasserstoff pro Tag produzieren, kündigt Oliver Fuchs, Leiter Unternehmensstrategie und Projektleiter Wasserstoff, an. Die Nachfrage wachse, aus Forschung wie Industrie. Erst kürzlich hat SWF drei Wasserstoff-Trailer mit je 320 Kilogramm Kapazität angeschafft, um den zugekauften grauen – und künftig den eigenen grünen – Wasserstoff zum Kunden zu bringen.
Wer die Farbenlehre nicht kennt: Grauer Wasserstoff wird aus fossiler Energie gewonnen, meist aus Erdgas mittels Dampfreformierung. Grüner Wasserstoff entsteht aus regenerativ erzeugtem Strom mittels Elektrolyse. Daneben gibt es noch blauen Wasserstoff, bei dem das aus grauer Produktion entstandene CO2 gespeichert wird. Für SWF kommt nur grüner Wasserstoff in Frage. „Nur der bringt uns bei der Energiewende voran“, sagt Fuchs – ist aber aktuell noch deutlich teurer. Doch gerade dies soll sich nach dem Technologiehochlauf der Elektrolyse – die Wasser in Wasser- und Sauerstoff zerlegt – ja schließlich ändern. Und dazu müsse der Start gefördert werden, richtet Fuchs gleich einen Appell an die Politik – „nicht nur für die Anlagen-, auch die Betriebskosten“. In Anlehnung an die EU-Wasserstoffbank etwa könnte eine Ausgleichsbörse die Differenz zwischen Verkaufspreisen und Produktionskosten auffangen, so die Idee. Fuchs wirft eine Zahl in den Raum, die nicht weit von der Realität liegen dürfte: „Wenn uns die Produktion anfangs 20 Euro pro Kilogramm kostet, der Markt aber nur 15 Euro zahlt, müsste der Staat 5 Euro kompensieren.“
Klar ist aber auch: Damit grüner Wasserstoff wirtschaftlich wird, müssen auch dessen Nebenprodukte genutzt werden. Das sind in erster Linie rund 25 Prozent Prozesswärme. Daher strebt SWF in Aitrach den Aufbau eines Nahwärmenetzes an, um umliegende Gewerbe zu versorgen.
Doch es geht noch ganzheitlicher: In Berkheim an der A7, etwas nördlich von Aitrach, hat sich SWF mit acht Partnern zusammengetan, um eine komplette Wasserstoffinfrastruktur aufzubauen. Geplant ist eine Kapazität von bis zu drei Tonnen pro Tag, aus Photovoltaik-, Wind-, Wasserkraft- und Biogas-Strom. Über eine Tankstelle von Avia sollen die LKWs der Spedition Honold, des Bauunternehmens Max Wild sowie die SWF-Trailer versorgt werden. Und auch hier geht die Abwärme in ein Nahwärmenetz. Dass die Partner, zu denen auch die Gemeinde Berkheim, Biogasproduzent Ziesel CH4, die Kleinwasserkraftwerke sowie Wind und Sonnenstromproduzent Laoco gehören, es ernst meinen, zeigt die jüngste Gründung einer gemeinsamen GmbH.
“Nur grüner Wasserstoff bringt uns bei der Energiewende weiter.”
- Oliver Fuchs
Auch die regionale Wasserstoffproduktion hat Zukunft
Zu deren Gesellschaftern gehört auch Handtmann e-solutions in Ochsenhausen. Die Leistungselektronik-Einheit der Biberacher Handtmann-Gruppe ist vor drei Jahren beim Wasserstoff eingestiegen. Entwickelt werden modulare Elektrolyseure bis 1 Megawatt, untergebracht in Containern, die flexibel aufgestellt werden können, an Wind- und Solarparks, auf Firmengeländen oder eben in Projekten wie Berkheim.
Geschäftsführer Markus Ammann erläutert die Philosophie: „Wir werden einen starken Ausbau von Wind- und Solarenergie sehen. Doch nicht alles davon wird in Batterien zu speichern sein.“ Gefragt seien Lösungen, die Stromüberschüsse längerfristig speichern oder in andere Sektoren bringen könnten.
Konkret sieht Ammann drei Anwendungsszenarien für Wasserstoff: Erstens die stoffliche Nutzung – als Ersatz für Industriegase, ergänzend zum Heizen. Zweitens Intralogistik und Mobilität: „Wasserstoffbetriebene Gabelstapler, Tankstellen auf Firmengeländen, das sind interessante Business Cases.“ Und schließlich die Einspeisung ins Gasnetz oder in Tanks. Man habe etwa Kunden mit schwachem Stromanschluss, die PV-Strom ausbauen, aber nicht einspeisen könnten. „Die Kombination von Batterie und Elektrolyse wäre hier eine Lösung.“ Und so sieht sich Ammann nicht nur als Technikanbieter, sondern als „Problemlöser für dezentrale Energiefragen“.
Wobei die Umwandlung von Strom in Wasserstoff und wieder zurück für ihn „nicht der bevorzugte Business Case“ ist. Dafür seien die Umwandlungsverluste noch zu hoch. In einem idealen Szenario würden vielmehr sämtliche Elektrolyseprodukte genutzt, also neben Wärme auch der entstehende Sauerstoff, „etwa in Krankenhäusern oder als Ozon in Kläranlagen“.
“Dezentrale Lösungen werden die Transformation vorantreiben!”
- Markus Ammann
Letztere könnten so vom Kostenfaktor zum Energielieferanten werden. Auch in der Landwirtschaft und „überall, wo Prozessgase gebraucht werden“, sieht Ammann Chancen. Erste Elektrolyseure sollen 2024 in den Echtbetrieb gehen – bei Kunden und eventuell bei Handtmann selbst. Wobei man für den energieintensivsten Betrieb, die Gießerei, Potenzial nur für Teilprozesse sieht. Deren Erdgasbedarf im Gigawatt-Bereich durch dezentral erzeugte Elektrolyse zu decken sei unrealistisch, sagt Ammann: „Hier sind wir auf eine Pipeline angewiesen, durch die irgendwann Wasserstoff fließen wird.“
Langfristig könnten 30 Prozent des in Europa benötigten Wasserstoffs lokal produziert werden, zitiert Ammann Experten. Seiner Vorstellung nach sollte künftig „für jeden Wind- und Solarpark eine Elektrolyse in Betracht gezogen werden“. Dadurch bringe man nicht nur überschüssige Energie in andere Sektoren, sondern leiste gleichzeitig einen Beitrag zur Stabilisierung des „durch fluktuierende Energie immer volatiler werdenden Stromnetzes“.
Politik und Markt müssen es regeln
Für Richard Balzer, Technischer Leiter des Filterspezialisten Spörl aus Sigmaringendorf, ist indes längst nicht ausgemacht, wie sich die Wasserstofftechnologie entwickeln wird. Er hat das abrupte Ende des Erdgas-Antriebs vor Augen. „Vor ein paar Jahren konkurrierten auf der IAA noch Erdgas-LKWs mit Diesel- und Elektroantrieben“, erinnert sich der Ingenieur. Doch seit dem Ukraine-Krieg sei das Thema „praktisch tot“. Geänderte Rahmenbedingungen könnten einen Markt „ruckzuck drehen“. Balzer weiß dies aus erster Hand. Denn die feinen Filtergewebe von Spörl kommen überall zum Einsatz, bei Diesel, Erdgas – und seit zehn Jahren auch bei Wasserstoff. „Was würde passieren, wenn Vulkanausbrüche plötzlich die Photovoltaikproduktion lahmlegten“, stellt Balzer eine hypothetische Frage.
Doch von derlei globalen Unwägbarkeiten abgesehen ist der Spörl-Technikchef davon überzeugt, dass „die Brennstoffzelle jetzt kommt“. Das spiegelten ihm seine Kunden wider. „Viele haben weit entwickelte Produkte und sind bereit, in die industrielle Produktion zu investieren.“ Toyota etwa verbaue seit 20 Jahren Brennstoffzellen in PKWs.
Das allerdings werde in Europa nicht kommen – „weil es politisch nicht gewollt ist“, so Balzer. Die Brennstoffzelle sieht er zunächst im LKW- und Schiffsverkehr. Hier spüre er regelrecht die Dynamik: „Speditionen beschäftigen sich zunehmend damit.“ Gleiches gelte für die Küstenschifffahrt – und „überall dort, wo hohe Umweltstandards gelten“. Oder auch bei der Stromversorgung. Ein Kunde versorge Rechenzentren mit Brennstoffzellen. „Der hat enorme Wachstumsraten.“
Für Balzer hängt – bis „irgendwann der Markt das Ganze richtet“ – viel an der Politik. Und die ist ihm zu einseitig. „Alles, was mit Brennstoffzellen zu tun hat, wird mächtig gefördert.“ Dabei könnte auch das direkte Verbrennen in Motoren oder Turbinen sinnvoll sein, sagt er. Oder die Erzeugung aus Erdgas mittels Methanpyrolyse. Der dabei entstehende Kohlenstoff könnte für Kohlefaserstrukturen im Leichtbau verwendet werden. „Das hat Charme“, werde aber politisch abgelehnt – „weil nicht erneuerbar“. Hier würde sich Balzer mehr Technologieoffenheit wünschen.
Und wie sieht es mit der Elektrolysetechnik aus? Die liege gegenüber der Brennstoffzelle um rund zehn Jahre zurück, sagt Balzer: „Man spricht beim Elektrolyseur immer etwas flapsig von einer umgekehrten Brennstoffzelle.“ Doch das Ganze sei komplizierter. „Da herrschen ganz andere chemische Bedingungen, und die Werkstoffe werden anders belastet.“ Balzer muss es wissen. Denn mit seinen Filtergeweben ist er in viele Projekte involviert. „Da wird immer wieder probiert und angepasst, bis die Dinge endlich funktionieren.“
Ein Problem sieht er auch im Leitungsnetz – zumindest lokal. Das bundesweite Erdgasnetz soll zwar künftig auch für Wasserstoff genutzt werden. Doch für die Region Sigmaringen sähen die Planungen aktuell keine Umstellung vor. Das schaffe nicht gerade Vertrauen.
Für Großverbraucher muss Wasserstoff aus der Pipeline kommen
Und wie sehen die künftigen Wasserstoffverbraucher das Thema? Der Ulmer Arzneimittelhersteller Ratiopharm hat bei der jüngsten Analyse des baden-württembergischen Umweltministeriums Bedarf angemeldet (siehe Kasten S. 22). Zwischen 45 und 50 Gigawattstunden Erdgas braucht das zur israelischen Teva-Gruppe gehörende Unternehmen an seinen deutschen Standorten Ulm und Blaubeuren-Weiler im Jahr – in etwa der Bedarf von 3.000 Haushalten. Die gelte es perspektivisch durch Wasserstoff zu ersetzen, sagt Thomas Köberle, Head of Energy Management. Denn Teva habe sich verpflichtet, seine Emissionen bis 2025 um 25 Prozent und bis 2030 um 46 Prozent gegenüber 2019 zu reduzieren. Da spielt der Gasverbrauch eine wichtige Rolle.
„Wir brauchen Gas einerseits für die Gebäudeheizung, andererseits für die Prozesse“, erläutert Köberle. Rund die Hälfte geht in zwei hocheffiziente Blockheizkraftwerke, die daraus Wärme, Dampf und Strom erzeugen. Die andere Hälfte fließt in die Dampfkessel, die etwa Reindampf für die Reinigung produzieren. In Ulm wurde die Heizung bereits auf Fernwärme umgestellt. „Eine Energiequelle mit sehr niedrigem CO2-Fußabdruck“, schwärmt Köberle – in Blaubeuren aber noch nicht verfügbar.
Nicht ausreichen wird die Fernwärme indes zur Dampferzeugung. „Dafür sind die Temperaturen zu niedrig.“ Einzige Erdgas-Alternative ist hier – „neben Strom, was aber viel zu teuer wäre“ – aktuell Wasserstoff. Wobei Köberle hinzufügt: „grüner Wasserstoff zu bezahlbaren Preisen.“ Und der müsse vom Energieversorger per Pipeline kommen. Denn was Köberle sich nicht vorstellen kann, ist, „dass wir jemals selbst zum Wasserstofferzeuger werden“. Dafür habe man schlicht keine Energie übrig. Der Ertrag der 1,2-Megawatt-PV-Anlage wird komplett selbst verbraucht, daran werde auch eine künftige Erweiterung nichts ändern. Der Wasserstoff muss also vom Versorger kommen. Und das wird frühestens 2032 der Fall sein, wenn nach Regierungsplänen das im Aufbau befindliche Netz Ulm erreichen soll. Für Köberle gibt es bis dahin viele Detailfragen zu klären. Etwa, ob der Wasserstoffanteil
im Erdgasnetz stabil oder schwankend sein wird – „aktuell könnten unsere Kessel mit Schwankungen nicht arbeiten“. Oder welche Anpassungen bei Dichtungen und sonstigen Komponenten nötig sind. Und was Köberle besonders interessiert, ist die Versorgungssicherheit: „Um zuverlässig Medikamente herstellen zu können, brauchen wir eine zuverlässige Versorgung.“ Daher wird Ratiopharm genau verfolgen, wo der künftige Wasserstoff produziert und eingespeist werden soll. Doch bevor Wasserstoff via Pipeline nach Ulm fließt, wird er Ratiopharm vermutlich über den Fuhrpark erreichen. In zwei bis drei Jahren, schätzt Köberle, dürften die ersten Brennstoffzellen-Zugmaschinen für 40-Tonner kommen. „Da werden wir sicherlich dabei sein.“
Diese gesamte Übergangsphase werde für alle Beteiligten extrem spannend, glaubt Energieingenieur Köberle – bis irgendwann die Wasserstoffwirtschaft „zur Selbstverständlichkeit“ werde. So sieht es auch SWF-Manager Fuchs. Die jüngste Bedarfsanalyse der Firmen habe eine vierfach höhere Nachfrage ergeben als zuvor. „Das bestärkt uns in der Überzeugung, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“
Jürgen Baltes, textbar, Überlingen