Etliche hundert Patente hält die Vetter Pharma-Fertigung GmbH & Co. KG aus Ravensburg aktuell. Und „jedes Jahr kommen im Schnitt fünf bis zwölf Patente hinzu“, sagt Michaela Nusseleit, die gemeinsam mit ihren Kolleginnen Kaschlin Miller und Stefanie Jeske das interne Patentwesen von Vetter verantwortet. Das auf gut 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewachsene Familienunternehmen füllt teils lebensnotwendige Medikamente für die Pharma- und Biotechindustrie ab. Patente halte man vor allem auf „Produkte und Prozesse rund um Primärpackmittel“, erklärt Nusseleit. Dazu gehört etwa der Originalitätsverschluss V-OVS®, der Medikamente vor Manipulation schützt – und der das Unternehmen ebenso bekannt gemacht hat wie seine sonstigen Entwicklungs- und Verpackungsdienstleistungen. „Patente sind für uns sehr wichtig“, sagt Nusseleit, „einerseits um unsere technischen Erfindungen zu schützen, andererseits für unsere Positionierung im Markt als innovatives Unternehmen.“
Was man zum Patent anmeldet, wird indes gut überlegt. Denn damit veröffentliche man ja „quasi eine Gebrauchsanleitung“, mit der Mitbewerber einen Prozess nachahmen könnten, so Nusseleit. Vieles wird daher auch als Betriebsgeheimnis behandelt.
Wir wollen dem Einheitspatent eine Chance geben.
– Michaela Nusseleit
In den vergangenen Monaten war die Patentabteilung des global tätigen Pharmadienstleisters vor allem damit beschäftigt, sich ihr Patentportfolio genau anzuschauen. Denn für jedes einzelne Patent musste eine Entscheidung getroffen werden: Opt-out oder nicht?
Hintergrund: Alle Patente eines Unternehmens fallen seit Juni automatisch unter die Jurisdiktion des Einheitlichen Patentgerichts (EPG), so lange der Inhaber kein Opt-out erklärt. Streitigkeiten werden nicht mehr national geklärt, sondern vor dem EPG. Dessen Urteil gilt dann unmittelbar für alle 17 Länder – etwa wenn ein Patent für nichtig erklärt werden sollte. Verhindert werden kann dies nur durch einen aktiven Opt-out. Dann bleibt es bei der bisherigen Bündelpatent-Regelung, bei der Patente in jedem Staat separat validiert und auch Streitigkeiten national geklärt werden.
Für Vetter ist klar: „Wir wollen auf keinen Fall mit unserem gesamten Portfolio ins Einheitspatent gehen“, so Nusseleit. „Aber auch nicht generell den Opt-out erklären, wie dies andere tun.“ Denn grundsätzlich hält die Expertin das Einheitspatent – obwohl es „nicht perfekt ist“ – für „eine gute Sache“. Die Strategie von Vetter sieht daher wie folgt aus: Für besonders wichtige Patente wird der Opt-out erklärt. Darunter fallen solche, bei denen man einen Angriff durch Wettbewerber fürchtet, oder auch neuere Patente, bei denen „wir noch nicht so genau wissen wo die Reise hingeht“. Für andere hingegen nicht. „Wir wollen dem Einheitspatent eine Chance geben“, begründet Nusseleit, „müssen aber gleichzeitig unser Portfolio schützen.“
Die Sorge bezieht sich vor allem auf zwei Punkte: Mitbewerber oder auch andere Unternehmen könnten sich darauf fokussieren, gezielt Patente vor dem EPG anzugreifen. Gleichzeitig weiß bislang niemand, wie das neue, international zusammengesetzte Gericht agieren wird.
„Jeder Patentinhaber sollte jetzt drei Fragen beantworten“
Patentanwälte teilen diese Sorge: „Die Situation ist für alle neu“, sagt Patric Geiger von der Überlinger Kanzlei Heyerhoff Geiger & Partner – ob für einen Einzelerfinder oder einen Großkonzern. Denn „es gibt schlicht keinerlei Erfahrungswerte.“ Doch wie könnte unter diesen Umständen eine Patentstrategie aussehen? Geiger empfiehlt, sich hinsichtlich der Entscheidung über einen möglichen Opt-out zunächst drei Fragen zu stellen: jene nach der Wettbewerbssituation, der Verletzungswahrscheinlichkeit und der Rechtsbeständigkeit – „und zwar für jedes einzelne Patent.“
Der Patentanwalt erläutert: Zur Wettbewerbssituation stelle sich die Frage, wie relevant eine Technologie noch am Markt ist. Ist sie entscheidend für die Zukunft des Unternehmens? Oder hat sie sich schon überlebt? Gibt es überhaupt noch Interesse von Wettbewerbern? Hinsichtlich der Verletzungsgefahr müsse das Risiko eines Angriffs abgeschätzt werden. Besteht eine reale Gefahr? Gab es vielleicht in der Vergangenheit schon Kopier- oder Angriffsversuche? „Oft kennt man ja bereits seine Pappenheimer“, so Geiger.
Die Rechtsbeständigkeit schließlich stelle auf die Stärke eines Patents ab: „Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Angreifer, der mein Patent vernichten will, Erfolg hat?“, fragt der Experte. Und zeichnet auf dieser Basis verschiedene Szenarien: Für ein starkes Patent, an dem schwer zu rütteln sei, für das aber gleichzeitig eine „reale Angriffsgefahr“ bestehe, weil „da noch Musik drin ist“, könne es sinnvoll sein, keinen Opt-out zu erklären. Denn für einen Verletzungskläger, der Kopierversuche abwehren müsse, könne es interessant sein, „diese Frage in einem zügigen Verfahren in allen 17 Staaten zu klären“.
Die Situation ist für uns alle neu, es gibt keinerlei Erfahrungswerte.
– Patric Geiger
Bei einem schwachen Patent hingegen, das einem Angriff vielleicht nicht standhalten würde, könnte man „eher geneigt sein, den Opt-out zu erklären“, so Geiger, da „es mir vielleicht nicht so recht ist, wenn es gleich in 17 Staaten vernichtet wird“.
Viele weitere Szenarien seien denkbar, etwa die strategische Patentnutzung. Beispiel: Ein Inhaber verklagt trotz schwachem Patent Mitbewerber. Die Gegenseite antwortet mit einer Nichtigkeitsklage. Vor dem EPG würden beide Verfahren vom gleichen Spruchkörper verhandelt – ein wesentliches Element des erwarteten zügigen Verfahrens. National dagegen laufen beide Verfahren getrennt. Der Patentinhaber hat ein Interesse, das Verletzungsurteil schnell, das Nichtigkeitsurteil spät zu bekommen, um Mitbewerber möglichst lange vom Markt auszuschließen. In diesem Fall wäre es also sinnvoll, das Patent nicht dem EPG zu unterwerfen. „Das Ganze ist also hinreichend komplex“, schließt Geiger. Patentinhabern empfiehlt er, „ein Gefühl für all diese Spielarten zu entwickeln“. „Gleich seine wichtigsten Patente einem Gerichtssystem zu unterstellen, das sich erst noch in der Praxis bewähren muss“, würde er ebenso wenig empfehlen wie den generellen Opt-out. Denn werde man dann mit einer Klage angegriffen, sei der Weg zurück vor das EPG versperrt, das „vielleicht gar nicht so schlecht arbeitet“.
Senkt das Einheitspatent Aufwand und Kosten?
Der Ulmer Patentanwalt Klaus Peter Raunecker bringt einen weiteren Punkt ins Spiel: Aufwand und Kosten. Gemeinhin schätzen Experten, dass das Einheitspatent von den Gebühren her ab vier bis fünf Ländern günstiger wird als das Bündelpatent. Auch Übersetzungskosten sind hier zu berücksichtigen. Raunecker berichtet etwa von Automobilherstellern, die typischerweise nur in wenigen europäischen Staaten Schutz benötigen, „weil sie Märkte und Produktionsstandorte der Wettbewerber genau kennen“. Hier könne es sinnvoller sein, „mit dem Bündelpatent weiterzumachen“.
Ein Privaterfinder hingegen habe eine Erfindung in der Gastronomie patentieren lassen, die „in vielen Betrieben einsetzbar und ohne große Investitionen nachbaubar“ wäre. Das ist für Raunecker „ein klassischer Fall für das Einheitspatent“, da „ich zu überschaubaren Kosten einen vernünftigen Schutz in 17 Staaten bekomme“. Im Prinzip empfiehlt er das Einheitspatent „für alles, was sich mit geringem Investitionsaufwand nachbauen lässt und in zahlreichen EU-Staaten einen nennenswerten Markt vorfindet“. Insbesondere dann, wenn man den finanziellen Aufwand für die Aufrechterhaltung des Schutzes möglichst geringhalten wolle. Im Grunde ist der Ulmer Patentanwalt „glücklich“ über die neue Regelung. Denn er sei „ein Freund schneller Rechtssicherheit“. Sein Negativbeispiel ist der einige Jahre alte Epilady-Fall. Der Epilierer, auf den es ein europäisches Bündelpatent gab, wurde von einem Mitbewerber in ähnlicher Weise nachgebaut. Nun mussten mehrere nationale Verletzungsgerichte über den exakt selben Tatbestand entscheiden – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Für Raunecker „ein unerfreulicher Zustand“.
Für uns ändert das Einheitspatent nicht viel.
– Julian Utz
Zudem ist für ihn das Argument pro Bündelpatent, nämlich, dass ein Angreifer dieses in allen Ländern einzeln wegklagen müsse, zweischneidig. Für den Patentinhaber könnte dies womöglich auch zu einem „langen und irre teuren Rückzugsgefecht“ werden – was zudem „ein erhebliches Maß an Ressourcen der Geschäftsleitung binden“ würde.
Die Kosten des Verfahrens vor dem Einheitlichen Patentgericht (EPG) seien da deutlich kalkulierbarer. Zumal hier Patentanwälte alleinvertretungsberechtigt seien, während zumindest in den Verletzungsverfahren vor deutschen Landgerichten üblicherweise zwei Anwälte eingesetzt würden, ein Rechtsanwalt und ein Patentanwalt. Auch in parallelen Nichtigkeitsverfahren vor dem Bundespatentgericht sei dies nicht unüblich.
Rauneckers Strategie lautet daher tendenziell, „das Neue zu umarmen“, wie er sagt – allerdings „stets mit der gebotenen Vorsicht“. Seine grundsätzliche Empfehlung, zunächst in Deutschland anzumelden, bevor man international geht, werde dadurch ohnehin nicht berührt. „Mit der Erstanmeldung in Deutschland erhält man zu überschaubaren Kosten eine sehr qualifizierte Recherche und gute Einschätzung über das Potenzial einer Entwicklung.“ Die Frage nach der Ausprägung des EU-Schutzes stelle sich dann ja erst mit der Erteilung des europäischen Patents. „Und das kann Jahre dauern.“ Bis dahin erhofft sich Raunecker „erste hilfreiche Erfahrungen mit dem EPG“.
Europäisches Patentgericht kann die Abwehr erleichtern
Recht entspannt gibt sich zum Thema die Ulmer Uzin Utz SE. „Für uns ändert das Einheitspatent nicht viel“, sagt Vorstandsmitglied Julian Utz. Das Familienunternehmen hat sich auf Bodenverlegesysteme spezialisiert, mit diversen Klebe- Spachtel- und Mörtelmassen sowie Werkzeugen. Unter den Patenten des Unternehmens finden sich durchaus einige wichtige, etwa auf den Linocut, ein Verlegewerkzeug, das „den Markt für viele Jahre geprägt hat“, wie Julian Utz sagt. Oder auf eine Produktrezeptur, die den Einsatz von Zement reduzieren hilft. Uzin Utz verfolgt aktuell eine eher defensive Patentstrategie. „Ein chemisches Mischprodukt wie eine Spachtelmasse ist funktional anders zu bewerten als etwa ein Tetrapak“, so Utz. Ein neues Produkt hier umfassend zu schützen, sei viel schwerer. Auch wenn etwa gewisse Rohstoffmischungen geschützt würden, könnten Wettbewerber „links und rechts daran vorbei entwickeln“. Zudem bringe ein Schutz in der Vermarktung wenig. „Kein Kunde würde unser Produkt kaufen, nur weil dort ein Patentschutz drauf steht.“
Für Uzin Utz geht es daher mehr darum, sich durch Patente von Wettbewerbern nicht im eigenen Handeln einschränken zu lassen. „Als Mittelständler sind wir von zahlreichen Großkonzernen umgeben“, berichtet Utz. Und denen gehe es weniger um einzelne Produkte oder „das, was wir so machen“ – sondern darum, bestimmte Felder zu besetzen. So würden derzeit verstärkt Verfahren zum Rohstoff-Recycling sowie zu Recycling-Rohstoffen in Bauprodukten „durch die Patentlandschaft geschleust“. Man beobachte dies genau, um zu verhindern, „irgendwann in der eigenen Entwicklung und Kreativität durch Patente anderer eingeschränkt zu werden“. Dazu werden intern regelmäßige Patentradar-Meetings sowie ein „automatisiertes Scouting“ durchgeführt. Tendenziell ist Uzin Utz also eher damit beschäftigt, Patente von Mitbewerbern abzuwehren. Und hier könnte das Europäische Einheitspatent durchaus von Vorteil sein, da es weniger administrativen Aufwand und niedrigere Kosten verspricht. Wichtig findet Utz ein zusätzliches „aktives Patentmanagement“, um „eigene Entwicklungsfelder offen zu halten“, wie der Vorstand sagt.
Grundsätzlich positiv gegenüber dem Einheitspatent
Letztlich stehen also Unternehmen wie Anwälte dem Einheitspatent tendenziell positiv gegenüber. „Wir haben ja so lange darauf gewartet“, sagt Michaela Nusseleit, die seit 20 Jahren im Patentwesen arbeitet. „Wir sind gut beraten, die Einheit des Kontinents auch auf diesem Gebiet voranzutreiben“, findet Anwalt Geiger. Wie dies letztlich gelebt werde und ob der gewählte Weg der richtige sei, müsse sich noch zeigen, ergänzt Kollege Raunecker. Möglicherweise werde die EU nochmal nachjustieren müssen. Europa lebe eben traditionell von Kompromissen, so Geiger, und vergleicht die EU mit der Bundesrepublik: „Stellen Sie sich vor, Sie müssten jedes Patent separat in Baden-Württemberg und 15 anderen Bundesländern anmelden.“ Diesen Weg zur Einheit habe Europa eben noch vor sich.
Wobei sich Michaela Nusseleit durchaus etwas mehr Einheit gewünscht hätte. „Von den 13 europäischen Ländern, in denen wir üblicherweise Patente anmelden, sind fünf nicht dabei“, sagt sie. Das führe nun zu einem aufwendigen „Mischsystem“. Ihre ganz persönliche Meinung dazu: Vielleicht hätte man doch noch etwas länger verhandeln und dann ein „echtes Gemeinschaftspatent“ auf den Weg bringen sollen. „Bei der Unionsmarke hat das ja auch geklappt.“ Doch wer weiß: Vielleicht sind weitere EU-Staaten ja schon bald dabei.
Jürgen Baltes lebt und arbeitet als freier Journalist in Überlingen