Oktober 2024 | Interview

"Es braucht einen guten Branchenmix"

Grit Müller, Handelsreferentin in der IHK-Geschäftsstelle Stralsund, spricht im Interview über die Bedeutung florierender Innenstädte und die Möglichkeiten zeitgemäß zu gestalten.
In vielen, vor allem kleineren und mittleren, Städten ist zu beobachten, dass sich wachsender Leerstand im Zentrum breitmacht. Ist das allein durch die Konkurrenz des Onlinehandels zu erklären?
Grit Müller: Die Innenstädte sind schon seit vielen Jahren einer umfassenden Veränderungsdynamik ausgesetzt. Das allgemein veränderte Einkaufs- und Mobilitätsverhalten der Menschen setzt gerade die Ortskerne unter einen Anpassungsdruck. Diese Entwicklung wurde durch die Pandemie noch einmal deutlich verstärkt und beschleunigt.
Die Kundenerwartungen hinsichtlich des angebotenen Warensortiments und der Lieferzeiten sind gestiegen und somit hat sich das Kaufverhalten zugunsten des Onlinehandels verschoben. Die Handelsstrukturen sind bundesweit einem enormen Wandel unterworfen, der durch die Ansiedlungsentscheidungen größerer Handelsketten und dem Ausbau von Shoppingcentern und Outlets das Gesicht der Städte und deren Umgebung maßgeblich prägt.

Die Bedürfnisse und das Erwartungsbild der Menschen an die Stadtzentren haben sich wesentlich geändert. Einwohner und Besucher erwarten heute von den Innenstädten, dass sie angesagte Begegnungsorte mit einer hohen Aufenthaltsqualität sind, an denen sie Kunst und Kultur genießen können und die darüber hinaus auch vielfältige Einkaufsmöglichkeiten bieten.
Was können Kommunen und Institutionen tun, um dem entgegenzuwirken?
Es bedarf einer Strategie zur Innenstadtbelebung, deren Umsetzung aus vielen verschiedenen Einzelmaßnahmen besteht und möglichst viele Akteure für die Umsetzung einbeziehen sollte. Angefangen von der digitalen Sichtbarkeit und einem kommunalen digitalen Informationsangebot über die Gestaltung der innerstädtischen Verkehrspolitik und der Einrichtung von Ruhe- und Begegnungszonen bis hin zur Gestaltung der verdichteten Innenstadtlagen im Hinblick auf die zunehmende Hitze im Sommer existieren viele Einflussmöglichkeiten.
Neben einer Förderung der Sanierung der Innenstädte sollten öffentliche Flächen für alternative Nutzungsformen angeboten werden. Gespräche mit Eigentümern und ein professionelles Immobilien- und Leerstandsmanagement sind ebenso hilfreich wie die Rücknahme überzogener Lärmschutzvorgaben, die wirtschaftliche Entwicklung in den Innenstädten hemmen und die Wohnnutzung einschränkt.
Der Einzelhandel wird auch zukünftig eine bedeutende Rolle im Angebot der Innenstädte spielen, aber die frühere Dominanz wird er nicht mehr erhalten. Zu einer erfolgreichen Entwicklung gehört immer ein guter Branchenmix und ein interessantes gastronomische Angebot. Stadtmarketing und Kulturmanagement fördern den Tourismus als Aushängeschild einer Kommune und schaffen Aufenthaltsqualität.
Die Organisation von Stadtfesten und verkaufsoffenen Sonntagen stellt eine wichtige Maßnahme dar. Die Erreichbarkeit mittels Individualverkehr und ausreichend kundenfreundliche Parkmöglichkeiten müssen weiterhin gesichert sein. Zudem werden auch Postfilialen mit der Möglichkeit einer Paketannahme oder Bankautomaten zur Bargeldversorgung von den Innenstadtbesuchern und Einwohnern erwartet. Ein Fehlen dieser Strukturen führt ebenso zu einer geringen Kundenfrequenz im Innenstadtbereich.
Grundsätzlich wird in der Debatte zum Thema Innenstädte oft hervorgehoben, dass die Zentren als Erlebnisort für die ganze Familie gedacht werden müssen. Sind die Kommunen in MV darauf eingestellt?
Es gibt zahlreiche Initiativen, um die Kommunen bei dem Wandel zu unterstützen. Das „Dialogforum Einzelhandel Mecklenburg-Vorpommern“ wurde bereits 2016 als eine Plattform für einen breiten Informationsaustausch und eine Diskussion zwischen Politik, Verwaltung, Handel, Land, Kommunen, Wissenschaft und Verbrauchern initiiert. Das Mittelstand-Digital Zentrum Rostock bietet den Unternehmen in M-V Unterstützung bei der Digitalisierung der betrieblichen Prozesse und nicht zuletzt unterstützt die IHK zu Rostock ihre Mitgliedsunternehmen bei dem Transformationsprozess.
Der Wettbewerb „Erfolgsraum Altstadt“ ist eine gemeinsame landesweite Initiative der IHKs in M-V und zahlreicher Unterstützer, die erfolgreiche Praxisbeispiele sichtbar macht und zum intensiven Austausch anregt.
Die Kommunen in M-V sind unterschiedlich weit bei der Umgestaltung ihrer Innenstädte. Die Landesregierung hat ab 2021 mit dem Sofortprogramm „Re-Start Lebendige Innenstädte M-V“ eine bedeutende Förderung des Wandels in den Kommunen angestoßen. Mit dem Programm erhielten die Kommunen Unterstützung durch eine Personalkostenförderung für neue oder bereits bestehende Citymanager sowie ein Aktivitätsbudget zur Umsetzung. Darüber hinaus wurden Maßnahmen zur Revitalisierung von Einzelhandel, Gastronomie und Tourismus in den Innenstädten gefördert.
Hier wurde viel erreicht und nun gilt es, weiterhin auf dem Erreichten aufzubauen und dafür Sorge zu tragen, dass die Ortskerne an Vielfältigkeit gewinnen und sich die Innenstädte entwickeln können.
Welche konkreten Trends zur Innenstadtnutzung lassen sich allgemein in MV, Deutschland, international beobachten?
Die Durchführung von Einkaufsnächten, eine vorübergehende Gastronomie zum Beispiel als Biergarten, eine besondere Beleuchtung zur Weihnachtszeit wie die Stralsunder Sterne oder der Projektladen „KaMa“ in Bützow sind nur einige Beispiele, die nachweisbar die Attraktivität der Innenstädte erhöhen. Es gilt, innovative Ansätze für die Umgestaltung zu testen, wie den Bau eines Mobility-Hubs in der Altstadt Stralsund, und das Feedback der Menschen vor Ort sowie die gewonnen Erfahrungen bei der Umsetzung für die weiteren Planungen zu nutzen.
Die Großmarkt Rostock GmbH berichtet davon, dass viele Händler aufgrund von Nachfolgeproblemen und Personalproblemen wegbrechen. Wie gravierend ist die Gesamtsituation?
Die Strukturen aller Branchen unterliegen besonders im Osten Deutschlands einem Veränderungsdruck, der durch einen Generationswechsel in den Unternehmen, durch die demografischen Veränderungen in der Altersstruktur und durch ein verändertes Einkaufs- und Mobilitätsverhalten der Menschen geprägt ist. Darüber hinaus bildet das Unternehmertum Risiken ab, die nicht jeder bereit ist, zu tragen.
Das bedeutet für die Veranstalter von Wochenmärkten, dass Marktteilnehmer ihre gewerbliche Tätigkeit aufgeben, weil sie keine Nachfolger finden und es schwer ist, neue Teilnehmer zu akquirieren.
Zusätzlich geraten die Veranstalter unter Druck, wenn etablierte Wochenmarktflächen in ihrer Nutzung durch Straßen- und Bauarbeiten blockiert sind oder durch eine geänderte städtische Nutzung nicht mehr für Märkte zur Verfügung stehen. Von dieser Entwicklung sind insbesondere Wochenmärkte in kleinen Städten betroffen.
Welche Bedeutung haben Wochenmärkte für die Stadtzentren?
Die Durchführung von Wochenmärkten mit einem regionalen Frischeangebot stellt eine attraktive und wesentliche Säule bei der Belebung der Innenstädte dar. Die Identifikation der Kunden mit regionalen Erzeugern oder Dienstleistern sind in der Regel höher als bei einem allgemeinen Warenangebot, welches vielfach austauschbar ist. Je nach Branchenmix der umliegenden Einzelhändler profitieren auch sie von der höheren Kundenfrequenz während der Marktzeiten. Ein Markt ist seit alters her ein Tauschort für Waren und Nachrichten, für die Kommunikation der Menschen untereinander unerlässlich. Mit dem Verschwinden der Wochenmärkte würde eine alte Handelskultur verschwinden.
Wie können die Städte und Organisatoren der Märkte diesem Negativtrend entgegenwirken?
Für den Umgang mit den Herausforderungen ist nur ein gemeinsames Handeln möglich. Dazu ist eine Bereitschaft aller Akteure notwendig, auch althergebrachte Paradigmen auf den Prüfstand zu stellen, die Eigentümer der Immobilien gehören dazu, wie die Einwohner und Besucher der Innenstadt. Es braucht Zeit und Verlässlichkeit und das Vernetzen von Informationen, wobei digitale Tools und die sozialen Medien eine große Hilfe sein können.