Fachkräfte durch Einwanderung

Fachkräfte aus der Ferne

Gute Mitarbeiter gesucht? Viele Unternehmen werden außerhalb Europas fündig. Wer Formalitäten nicht scheut, das „beschleunigte Verfahren“ wählt und die IHK-Expertinnen mit ins Boot holt, kann motivierte Fachkräfte finden.  
Wenn das Reisebüro Lückertz in Münster Auszubildende suchte, landeten vor zehn Jahren noch gut 300 Bewerbungen auf dem Schreibtisch von Matthias Lückertz. „Heute sind es maximal 40“, berichtet der Geschäftsführer. Es sei mittlerweile ein Problem in der Reisebranche, gute Tourismuskaufleute zu bekommen. „Ein massives Problem“, fügt er hinzu.

Fachkräfteeinwanderungsgesetz öffnet Türen

Doch Reisebüros sind schließlich international ausgerichtet – da lag der Gedanke nahe, selbst die Fühler ins Ausland auszustrecken. Vermittelt über die Agentur für Arbeit, meldeten sich Bewerberinnen und Bewerber unter anderem aus Portugal, Italien und Frankreich - und auch Ikram Sabs aus Marokko. Die 21-Jährige, gebürtig aus Casablanca, suchte „der Liebe wegen“ einen Arbeitsplatz in Deutschland. Per Videocall lernten sich das Reisebüro und die junge Marokkanerin kennen. „Mit ihrer offenen Art, ihrem herzlichen Auftreten und ihren Deutschkenntnissen hat sie uns beeindruckt“, fasst Matthias Lückertz, Sohn des Geschäftsführers, seine Eindrücke zusammen. Zudem kann sie bereits einen Bachelor in Ökonomie und Management vorweisen.
Da spielte es kaum eine Rolle, dass sich das Unternehmen mit einem Bewerber aus dem EU-Ausland einige Formalitäten erspart hätte. Denn das Fachkräfteeinwanderungsgesetz öffnet deutschen Unternehmen seit zwei Jahren einige Türen, wenn sie qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten einstellen oder ihnen eine Ausbildung ermöglichen.
Ein anderes Beispiel: Bei der Säkaphen GmbH führte eine nicht seltene Kombination aus „Familienzusammenführung und Fachkräftesicherung“ dazu, erstmals eine Lacklaborantin auszubilden – und diese Stelle mit Sorour Abbassi zu besetzen. Die 24-Jährige aus Teheran ist die Schwester von Sina Abbassi, der seit Jahren bei dem Gladbecker Unternehmen arbeitet. Nach einem Gespräch mit der Geschäftsführerin folgte die Idee, Sorour Abbassi nach Deutschland zu holen. Denn Interesse an Chemie und Naturwissenschaften bringt sie mit. Damit erfüllt sie eine Grundvoraussetzung für eine Tätigkeit bei dem Hersteller von Lacken und Beschichtungen für den schweren Korrosionsschutz.
Vor genau einem Jahr fiel dann der Startschuss: Über ein „beschleunigtes Verfahren“ sollte die junge Iranerin nach Deutschland gelangen, berichtet die Ausbilderin Susanne Sauter. Dem folgten fast neun Monate gefüllt mit Checklisten, Anträgen und Formularen. „Ohne die IHK-Unterstützung hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft“, meint Sauter. Seit März 2020 können Arbeitskräfte auf Grundlage des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in deutschen Unternehmen arbeiten. Die IHK-Mitarbeiterinnen Anke Leufgen und Stephanie Görtz verweisen Unternehmen, die Fachkräfte aus dem Ausland suchen, an die passenden Stellen. Leufgen hat ein großes Netzwerk geknüpft, ihre Kollegin Stephanie Görtz ist Expertin für Fragen rund um die Anerkennung beruflicher Qualifikationen, die im Ausland erworben wurden (siehe Seite 24). Gemeinsam erläutern sie Betrieben, welche Voraussetzungen sie erfüllen und worauf sie achten müssen. Wenn das Verfahren mal stockt, berichten sie von den vielen erfolgreichen Beispielen – und ermuntern damit viele Unternehmer, nicht aufzugeben.

Bewerbung via Video und WhatsApp

Ist die passende Kandidatin oder der passende Kandidat gefunden, stehen Vorstellungsgespräche über Kontinente hinweg an. Während Lückertz per Videoschaltung Kontakt zu Ikram Sabs knüpfte, erfolgte bei Säkaphen das erste Kennenlernen über WhatsApp. Der persönliche Eindruck war auch auf diesem Weg sehr positiv. „Außerdem haben uns ihre guten Noten in den naturwissenschaftlichen Fächern überzeugt“, erklärt Susanne Sauter. Die Zeugnisse mussten aus dem Persischen übersetzt und die Übersetzung von der Deutschen Botschaft beglaubigt werden.
„Es zieht sich etwas“, fasst Susanne Sauter ihren Eindruck von einem Verfahren zusammen, das gerade am Anfang nicht so beschleunigt wirkt. Das „beschleunigte Verfahren“ ist aber vor allem ein Turbo für die wichtigen letzten Schritte des Verfahrens. „Liegen alle Unterlagen erst einmal bei der Agentur für Arbeit vor, geht es schnell“, bestätigt sie deshalb.
Bis dahin ist eine lange Checkliste der „Zentralstelle Fachkräfteeinwanderung“ abzuarbeiten. Die ZFE NRW wurde im März 2020 vom Land Nordrhein-Westfalen bei der Bezirksregierung Köln als Ausländerbehörde eingerichtet (siehe unten). Als Erstes wird zum Beispiel eine Vollmacht der künftigen Auszubildenden oder des Auszubildenden benötigt. Der Reisepass als Farbkopie ist ebenso notwendig wie der Ausbildungsvertrag und ein Nachweis der Sprachkenntnisse.
Dies war gerade für Säkaphen eine besondere Herausforderung, da coronabedingt momentan keine Deutschprüfungen an den verschiedenen Sprachinstituten in Teheran stattfanden. Ikram Sabs konnte Lückertz dagegen ein Zertifikat des Goethe-Institut in Casablanca vorweisen. Säkaphen musste in einer Erklärung versichern, dass die Deutschkenntnisse von Sorour Abbassi zunächst als ausreichend eingeschätzt werden und sich der künftige Arbeitgeber um weitere Sprachkurse kümmert. Auch über die Bestreitung des Lebensunterhalts der Azubis in Deutschland verlangt die ZFE NRW Auskunft. Dafür musste Ikram Sabs ein Sperrkonto einrichten, von dem sie nur einen festgelegten Betrag pro Monat abheben kann.
Aufgrund der vielen Formalitäten lautet der wichtigste Tipp von Ute Brune, Assistentin der Geschäftsleitung bei Lückertz, „spätestens ein halbes Jahr vor Ausbildungsstart“ mit dem Verfahren zu beginnen. Bei Säkaphen war sogar noch mehr Zeit nötig. Allein bis der Ausbildungsvertrag per Kurier in Teheran ankam, dauerte es vier Wochen, und weitere vier Wochen, bis er wieder unterschrieben in Gladbeck war.
Während Ikram Sabs eine Punktlandung gelang und sie rechtzeitig für den Ausbildungsstart Anfang August bei Lückertz ein Visum in der Tasche hatte, war dieser Termin für Sorour Abbassi zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne. Das zog weitere Formalitäten nach sich: Säkaphen und die Berufsschule mussten bestätigen, „dass sich der verzögerte Ausbildungsstart nicht negativ auf die Ausbildung zur Lacklaborantin auswirkt und die Lerninhalte nachgeholt werden“, berichtet Susanne Sauter. 

Auch um Integration kümmern

In Deutschland angekommen, ist die Integration die nächste Herausforderung. Die ersten Eindrücke der Neuankömmlinge sind positiv: Sorour Abbassi besuchte nach einem freundlichen Empfang und drei Arbeitstagen bei Säkaphen, die „vollgepackt waren mit Basiswissen“, vier Wochen lang den Blockunterricht in der Berufsschule. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist sie für berufsbegleitende Sprachkurse angemeldet. 
Ikram Sabs hat viele Kontakte bei Lückertz geknüpft, mit Kolleginnen und Kollegen und den Ausbildungspaten. Was sie besonders freut: „Ich konnte Kunden, die eine Gruppenreise nach Marokko planten, schon ein paar Tipps geben.“ Für die Unternehmen hat sich der Aufwand gelohnt. Matthias Lückertz zieht ein positives Zwischenfazit: „Die kulturelle Diversität ist eine Bereicherung“.