Leitartikel

Fachkräftepotential jenseits des Horizonts

In vielen Branchen wird der Fach- und Arbeitskräftemangel immer drängender. Bis das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz in allen Ausbaustufen in Kraft ist und vor allem in der Praxis greift, setzen die Unternehmen auf kreative und individuelle Lösungen, wie vier Beispiele aus der Region zeigen.
Die IHK in Ulm hatte im Februar 2023 zu einem Infoabend zum Thema internationale Fachkräfte eingeladen. Vertreter verschiedener Unternehmen der Region sollten von ihren Erfahrungen berichten, praxisnah, ungeschönt. Unter den zahlreichen Zuhörern sitzen an diesem Winterabend auch Philipp Gerster und Thomas Graf. Der eine Juniorchef der Gustav Gerster GmbH & Co. KG, traditionsreicher Hersteller von Heimtextilien sowie innovativen technischen Geweben mit Sitz in Biberach, der andere sein Personalleiter. Die beiden wissen, dringend benötigte Fachkräfte und auch Auszubildende sind rar, und im Wettbewerb um immer weniger Bewerber zieht ihr Unternehmen oft den Kürzeren. Potenzielle Mitarbeiter außerhalb Europas zu finden und nach Deutschland zu holen, schien Gerster und Graf nicht als K
önigslösung, aber doch als zusätzliche Option und spannende Erweiterung herkömmlicher Recruiting-Kanäle.
Doch freudiger Erwartung war bald Ernüchterung gewichen. „Die Erfahrungsberichte der Referenzunternehmen waren ziemlich durchwachsen“, erinnert sich Thomas Graf, „da war wenig Positives.“ Dann treffen die Biberacher Emissäre auf einen Referenten der Agentur für Arbeit. Der hatte schon viel etwa mit jugendlichen Flüchtlingen gearbeitet, etliche als Auszubildende in Unternehmen vermittelt, beraten, unterstützt und gecoacht. Offenbar mit Erfolg und ansteckender Begeisterung, denn, erzählt Personaler Graf, „dieses Gespräch war der Auslöser, da haben wir beschlossen, es doch wenigstens einmal zu versuchen“.

Auszubildender aus Marokko, Elektriker aus dem Iran

Und die Biberacher wurden fündig, zunächst in Marokko. Bei einer Infoveranstaltung der Agentur für Arbeit in der Hauptstadt Rabat stellte sich Mouad E. vor, 23 Jahre jung. Der Kontakt zu Gustav Gerster war schnell hergestellt, am 23. Mai 2023 dann das Vorstellungsgespräch per Video-Call. Ende August waren alle Hürden genommen worden, Mouad in Deutschland und in einer Betriebswohnung
untergebracht. Am 1. September startete der junge Mann seine zweijährige Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer mit der Option, noch ein Jahr dranzuhängen und als Produktionsmechaniker Textil abzuschließen.
Der Betriebselektriker, den Gustav Gerster im Januar dieses Jahres eingestellt hat, stammt aus dem Iran. Morteza S., 44 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder, hatte sich auf die Ausschreibung des Unternehmens auf der Vermittlungsplattform UBAconnect beworben, ein Angebot der DIHK, eigens für das Recruiting von internationalen Mitarbeitern entwickelt.
Wir haben beschlossen, es doch wenigstens einmal zu versuchen.
Thomas Graf, Personalleiter der Gustav Gerster GmbH & Go. KG in Biberach

Julia Rietzler-Cakmak
© Rolf Schultes, Drumlin Photos
Türkei im Fokus

Mit Nachwuchsmangel hat auch die Sauter Druck GmbH in Leutkirch zu kämpfen. Das Unternehmen bildet in vier verschiedenen Berufen aus, eigentlich. „Für das laufende Ausbildungsjahr haben wir in der Produktion keinen Ausbildungsplatz besetzen können“, klagt Geschäftsführerin Julia Rietzler-Cakmak. Selbst auf eine Recruiting-Kampagne in sozialen Netzwerken reichten gerade mal zwei Bewerber ihre Unterlagen ein. Beide kamen aber nicht in Frage. Was also tun?
Das Unternehmen beschäftigt Menschen aus verschiedenen Nationen, auch mit Fluchthintergrund, da gibt es keine Berührungsängste. Mehrere langjährige Mitarbeiter stammen aus der Türkei. „Einer von den Kollegen hat mich angesprochen, ein Bekannter in der Heimat würde hier gerne eine Ausbildung machen, ob ich mir den nicht mal anschauen wolle“, erinnert sich Rietzler-Cakmak. Sie wollte, der Stein kommt ins Rollen: Die Chefin informiert sich bei IHK und AHK, der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer, will wissen, wie gut einer Deutsch sprechen sollte, welche bürokratischen Hürden es gibt und wie man sie überwinden kann. Sie will wissen, was da auf sie zukommt und letztlich, wie Integration wirklich funktioniert.

Engagiertes Onboarding

Serkan N. wird also voraussichtlich im nächsten Jahr nach Deutschland kommen und bei Sauter Druck seine Ausbildung zum Anlagen und Maschinenführer starten. Bis dahin lernt der 33-Jährige, der bereits eine Ausbildung in einem medizinischen Beruf absolviert hat, sich aber unbedingt weiterentwickeln möchte, eifrig Deutsch. Er kümmert sich selbst um all die nötigen Behördengänge vor Ort, während sich in Leutkirch die künftigen Kollegen auf die neue Herausforderung vorbereiten. Serkan wird bei Verwandten unterkommen und mit dem Kollegen pendeln können, erklärt Firmenchefin Rietzler-Cakmak. Überhaupt wird man schauen müssen, wie‘s läuft, das sei alles noch ein bisschen handgestrickt. Und auch wenn die Sprachbarriere erstmal kein Hindernis darstelle, werde „das Onboarding sicher sehr viel aufwändiger als sonst“. Dabei klingt sie schon ein wenig skeptisch und räumt das auch ein, einerseits. Andererseits weiß sie, dass sie eigentlich keine Wahl hat und will das Projekt nun mit Verve anpacken.
Das Onboarding wird sicher sehr viel aufwändiger als sonst.
Julia Rietzler-Cakmak, Geschäftsführerin der Sauter Druck GmbH in Leutkirch

Beste Bewerbung aus Marokko

Ein Anpacker ist auch Martin Sommer. Der Informatiker und leidenschaftliche Pädagoge hat 2021 gemeinsam mit einem Mitstreiter die digi professionals GmbH in Ulm gegründet. Das Unternehmen hat sich auf E-Learning spezialisiert; es unterstützt Unternehmen mit verschiedenen digitalen Formaten wie etwa Videoclips dabei, beispielsweise neue Mitarbeiter rasch und unkompliziert einzuarbeiten oder auch neue Abläufe und Prozesse zu vermitteln, zum Beispiel in Montage oder Werkstatt. Als das junge Unternehmen 2023 erstmals eine Stelle für die Ausbildung für E-Commerce-Kaufleute ausschreibt, erleben Sommer und seine Kollegen eine Überraschung. Eine Kampagne in einschlägigen Recruiting-Plattformen bringt dem Didaktik-Spezialisten zahlreiche Bewerbungen ein. Unter den Aspiranten ist auch Hamza Lotfi aus Tanger, Marokko. „Hamza hat ein tolles Video geschickt, in dem er von sich und seiner Motivation, seinen Vorstellungen und Zielen erzählt“, schildert Sommer, „das war mit Abstand die beste Bewerbung.“

Viel Digitalkompetenz im Gepäck

Überzeugt habe auch die Persönlichkeit des 27-Jährigen, und dass er schon ganz viel Digitalkompetenz mitbringt. So gibt Hamza auf der Social-Media-Plattform Instagram Tipps zu IT-Themen, zählt hier mehr als 100.000 Follower, auf TikTok sind es immerhin rund 58.000. Sommer ist beeindruckt: „Das muss man erstmal hinkriegen.“ Hamza ist nicht nur smart, sondern auch schnell und zielstrebig: Die Prüfung für das Deutsch-Zertifikat B2 am Goethe Institut in seiner Heimatstadt besteht Hamza im Mai, sein Bewerbungsvideo schickt er im Juni, „und im September steht er bei uns vor der Tür, bereit, gleich mit seiner Ausbildung loszulegen.“
Hamza hat ein tolles Video geschickt, in dem er von sich und seiner Motivation, seinen Vorstellungen und Zielen erzählt.
Martin Sommer, Geschäftsführer der digi professionals GmbH in Ulm

Multi-Kulti-Branche Gastronomie

Eine echte Erfolgsgeschichte erzählen auch Monika Marschall und ihr Mann Thomas Stippe, Betreiber des Café-Restaurants Stippe in der Ravensburger Altstadt. Die beiden arbeiten seit Jahrzehnten in der Gastronomie, das sei schon immer eine international besetzte, eine echte Multi-Kulti-Branche. Sie sind überzeugt, „ohne diese Leute, ohne junge Menschen mit Migrationshintergrund in der Küche oder im Service gäbe es schon längst keine Gastronomie und auch keine Hotellerie mehr“. Entsprechend bunt ist das Stippe-Team.
Davon weiß auch eine Freundin. Und von der chronischen Personalnot, der hohen Fluktuation, auch das typisch für die Branche. „Die kam eines Tages im Restaurant vorbei, hat uns von einem jungen Mann aus Pakistan erzählt“, erinnert sich Marschall. Der war 2015 mit der großen Flüchtlingswelle allein nach Deutschland gekommen.

Vom Azubi zum Restaurantleiter

Ein paar Tage später stellt sich der damals 21-Jährige selbst vor, sympathisch, „mit einer sehr positiven Ausstrahlung“, schildert die Stippe-Chefin. Hasnain N. will aber nicht nur als Spüler in der Küche jobben, sondern eine richtige Ausbildung zum Restaurantfachmann machen, und so kommt es dann auch. Nach zwei Jahren in Ausbildung arbeitet Hasnain noch ein weiteres Jahr im Stippe, dann übernimmt er die Geschäftsführung eines Cafés in der Nähe. Bis Thomas Stippe ihn zurückholt – als Restaurantleiter.
Derzeit macht er die Ausbildereignungsprüfung, darf also künftig selbst den Nachwuchs ausbilden. Außerdem will er Partner werden, als Gesellschafter in die Betreibergesellschaft einsteigen, nicht von heute auf morgen, sondern sukzessive. Stippe und Marschall sind bereit, schließlich steht Hasnain, mittlerweile 30 Jahre alt und frisch verheiratet, auch für die Zukunft ihres Betriebs. Allein die Behörden zieren sich noch etwas. Aber Thomas Stippe ist zuversichtlich: „Es gibt nicht viele wie Hasnain, dem muss man einfach eine Chance geben.“

Lob für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz

Auch Martin Sommer, Gesellschafter und Spiritus Rector von digi professionals, traut seinem Schützling eine Menge zu: „Hamza wird seinen Weg gehen.“ Die hohen Erwartungen hat er bis hierhin jedenfalls erfüllt. „Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist eine richtig gute Geschichte“, resümiert Sommer, „das hätte ich mir schon früher gewünscht.“ Den Weg, Fachkräfte im Ausland zu suchen und zu finden, würde er jederzeit wieder gehen, da sieht er großes Potenzial. Nur einfacher müsse es werden, die aktuelle Novellierung sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Einen konkreten Verbesserungsvorschlag hat er auch zur Hand: „Angehende Mitarbeiter und Auszubildende sollten schon einige Zeit vor dem Schul- oder Arbeitsbeginn ins Land kommen können“, erklärt er, „um sich kulturell zu akklimatisieren und sich an ihr neues Lebensumfeld gewöhnen zu können.“ Außerdem würde er sich eine Art Integrationsbeauftragten wünschen, der sich auch um die Mitarbeitenden kleiner Betriebe kümmert, „die können sich ja eigentlich nur größere Unternehmen leisten“.
Hamza hat ein tolles Video geschickt, in dem er von sich und seiner Motivation, seinen Vorstellungen und Zielen erzählt.
Martin Sommer, Geschäftsführer der digi professionals GmbH in Ulm

Ein Schritt nach dem anderen

An dieses Potenzial internationaler Fachkräfte glaubt auch Julia Rietzler-Cakmak, die Druckerei-Chefin aus Leutkirch, gibt sich aber verhalten optimistisch. „Wir wollen jetzt erstmal abwarten, wie sich die arbeitspolitischen Rahmenbedingungen entwickeln werden“, sagt Rietzler-Cakmak. Was nicht heißt, dass sie die Hände in den Schoß legen werde, dafür ist der Druck zu hoch. Dennoch werde sie sich jetzt erst einmal auf die Türkei fokussieren, will hier weitere Erfahrungen sammeln. Dafür arbeite sie eng mit der IHK zusammen. Rietzler-Cakmak: „Ein Schritt nach dem anderen, dann sehen wir weiter.“

Die Kommunikation machtʼs

Und wie läuft es bei Gustav Gerster? Die Biberacher hadern etwas, bleiben aber tapfer am Ball. Mit Mouad, dem jungen Mann aus Marokko, laufe es wirklich gut, schildert Thomas Graf. Und auch Morteza, der Elektriker aus dem Iran, gebe sich sehr große Mühe, „und er weiß auch wirklich zu schätzen, welche Chance er hier hat, was wir für ihn tun“, so Personaler Graf.
Aber es ist offenbar alles nicht so einfach, wie erhofft: der kulturelle Unterschied, die sprachlichen Defizite, viele Missverständnisse, auch vielfach fehlendes technisches Wissen und Verständnis. „Die Zusammenarbeit besteht aus etwa 80 Prozent Kommunikation“, schätzt Graf, und weiß, „ohne den anderen Kollegen aus dem Iran, der schon viele Jahre im Haus ist, der sich kümmert und oft dolmetscht, würde es nicht gehen“. Unter dem Strich haben Graf und seine Kollegen und Kolleginnen schon viel Kraft investiert, Zeit und Geld also, um das Projekt zu stemmen. Trotzdem, Graf ist überzeugt: „Das kriegen wir hin.“

Internationale Fachkräfte sind eine attraktive Option

Von der Politik wünscht er sich einstweilen, dass die Prozesse künftig noch einfacher werden, weniger Papierkram und Bürokratie, „und dass alles insgesamt sehr viel schneller geht“. Außerdem sollten weitere Hürden abgebaut, die Angebote niederschwelliger werden. „Nur dann könnten wir auch kurzfristig und flexibel unseren Personalbedarf aus Ressourcen im Ausland decken“, resümiert HR-Experte Graf. Das Fazit? Nicht immer läuft alles von Anfang an einfach und reibungslos, aber auf alle Fälle sind internationale Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt eine attraktive Option – man muss es nur engagiert anpacken.
 
René Kius lebt und arbeitet als freier Journalist in Ravensburg