Sozialvorschriften

Anmerkungen zur Fahrzeugübernahme fernab vom Unternehmensstandort

Grundsätzlich muss die Anreise zu einem Fahrzeug, das ein LKW- oder Busfahrer nicht am Unternehmensstandort übernimmt, als Arbeitszeit erfasst werden. Gegebenenfalls kann die Zeit aber auch als Bereitschaftszeit gelten.
Hintergrund und Rahmenbedingungen der hier behandelten Thematik: Sowohl bei der Beförderung von Personen als auch beim Transport von Gütern gibt es Abläufe, die bedingen, dass ein Fahrer das Fahrzeug nicht an der Betriebsstätte, der er „normalerweise“ zugeordnet ist* übernimmt oder „zurücklässt“, sondern an einer x-beliebigen Stelle im Irgendwo. Fahrzeugabstell- oder -übernahmeorte sind in aller Regel Parkplätze in Industriegebieten, auf Rastplätzen neben Bundesfernstraßen, vom Unternehmen angemietete Flächen oder auch irgendwie geartete Außenposten des Unternehmens, also Orte, die man gemeinhin als Betriebsstätte bezeichnen würde (auch wenn sie dies im engeren Sinne nicht sind - insbesondere dann, wenn der einzelne Fahrer dieser Örtlichkeit arbeitsrechtlich nicht zuzuordnen ist).
Die Strecke zwischen der Wohnung des Fahrers und diesem Ort (oder andersherum) wird mit einem Fahrzeug** (im weiteren „Shuttlefahrzeug“) bewältigt, das nicht einer fahrpersonalrechtlichen Aufzeichnungspflicht unterliegt*** - also ein Fahrzeug mit maximal 2.800 kg zulässiger Höchstmasse und mit maximal acht Fahrgastsitzplätzen. Wesentliche Rechtsgrundlage ist der Artikel 9 Absatz 3 der VO (EG) Nr. 561/2006 und ergänzend dazu die Leitlinie Nr. 2 der EU-Kommission.
Für die straßengebundene An- oder Rückreise zu oder von dem Fahrzeugstandort gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
a) Der (spätere) Fahrer lenkt das Shuttlefahrzeug selbst
In diesem Fall dürfte es unstrittig sein, dass der Arbeitnehmer für seinen Arbeitgeber aktiv ist. Die Anreise und auch die Rückreise erfolgen den Ausführungen des Artikel 9 Absatz 3 der VO (EG) Nr. 561/2006 und auch des Artikel 3 Buchstabe a) der Richtlinie 2002/15/EG zufolge im Interesse des Arbeitgebers und sind definitiv nicht der privaten Lebenssphäre des Arbeitnehmers zuzuordnen (wie es nach allgemeiner Auffassung der Fall wäre, wenn die Strecke zwischen der Wohnung und der „Betriebsstätte“ des Fahrers zu überbrücken wäre). Er übt während der Fahrten seine Tätigkeit oder Funktion für den Arbeitgeber aktiv aus - würde er hinterm Steuer inaktiv werden, könnte (und würde) dies schlimme Folgen für ihn haben. Das „Fahren“ im Sinne von „aktiv das Steuer eines Fahrzeugs führen“ wird in der Richtlinie 2002/15/EG ja explizit der Arbeitszeit zugeordnet.
Fazit: Nach der Ankunft am aufzeichnungspflichtigen Fahrzeug muss der Fahrer für die Anreise Arbeitszeit nachtragen. Gleiches gilt, wenn er vom Fahrzeug aus nach Hause gefahren ist und am nächsten Tag oder bei der nächsten aufzeichnungspflichtigen Fahrt im Zuge des Lückenschlusses Nachträge vornimmt. Auch in der betrieblichen Arbeitszeitaufzeichnung nach §21a Absatz 7 ArbZG sind diese Zeiträume als Arbeitszeit zu erfassen. Im Zuge der Disposition des maximal zur Verfügung stehenden Zeitrahmens der täglichen Arbeits- beziehungsweise Lenkzeit von zehn Stunden sind die An- und Rückreisezeiten zu berücksichtigen.
b) Der (spätere) Fahrer befindet sich nur als Passagier an Bord des Shuttlefahrzeugs
Warum soll es einen großen Unterschied machen, ob der Fahrer selbst fährt oder nur „danebensitzt“ und zum Fenster rausschauen kann. Unstrittig dürfte sein, dass er die An- oder Rückreisezeit nicht zum „Privatvergnügen“ verbringt. Daraus ergibt sich, dass die Zeiten nicht als Freizeit im Sinne von Ruhezeit angesehen werden können. Vom Thema „nicht frei über die Zeit verfügen können“ mal ganz abgesehen. Der fahrpersonalrechtliche 24-Stunden-Zeitraum beginnt also auch hier in dem Moment, in dem der Fahrer im „Shuttlefahrzeug“ platznimmt. Auch eine Pause kann nicht vorliegen, da eine solche erst dann eingelegt werden kann, wenn zuvor (in nennenswertem Umfang) gearbeitet wurde bzw. im weiteren Verlauf noch Arbeitszeit anfällt. Dies wäre ein höchst unwahrscheinlicher Ablauf - üblicherweise ist das Arbeitszeit- und/oder Lenkzeitkontingent des Fahrers in dem Moment, in dem er das Fahrzeug abstellt, erschöpft.
Ob es sich bei „Passagierzeiten“ aber gleich um Arbeitszeit handeln muss, ist strittig. Im Artikel 9 Absatz 3 der VO (EG) Nr. 561/2006 wird die hier praktizierte Differenzierung zwischen a) „selber fahren“ und b) „gefahren werden“ nicht angestellt. Dieser Vorschrift zufolge sind alle derartigen Zeiträume als „andere Arbeit“ anzusehen. Nun kommt aber die Leitlinie Nr. 2 ins Spiel, die genau diese Differenzierung aufmacht. Wie immer im juristischen Kontext muss man sehr genau hinschauen und die gewählten Begrifflichkeiten würdigen. Im ersten Spiegelstrichabsatz der Leitlinie ist davon die Rede, dass der Fahrer zu einem Ort „gelangt“ beziehungsweise von einem solchen „zurückkehrt“. Diese Worte drücken ein doch hohes Maß an Passivität aus, insbesondere in Abgrenzung zu den Begrifflichkeiten, die im zweiten Spiegelstrichabsatz gewählt wurden. Hier wird nämlich (allem Anschein nach vom Fahrer selbst) „gefahren“ und „weggefahren“. Für den Fall, dass der Fahrer passiv bleibt, sagt die Richtlinie, dass die Zeiten „entweder als ‚Bereitschaftszeiten‘ oder als ‚andere Arbeiten‘ erfasst werden“. Ein klassischer Fall von Wahlmöglichkeit.
Was also tun? Klar muss sein, dass vor Gericht die Leitlinien (guidance notes) oder auch Klarstellungen (clarification notes) der EU-Kommission gewürdigt werden können - letztlich zählen aber nur die Gesetze und Verordnungen. Ein Richter kann sich der Meinungsäußerung der EU-Kommission in der Leitlinie Nr. 2 anschließen, muss dies aber nicht tun. Adressat der Leitlinien sind in allererster Linie die EU-Mitgliedstaaten und deren Verwaltungsbehörden. Gerichte sind als davon unabhängig anzusehen. Merke: Der Einzelfall wird entscheidend sein!
Wie ist die Wirkung dieser Wahlmöglichkeit im Sinne des Arbeitsschutzes zu beurteilen? Aus Sicht des abhängig beschäftigten Fahrers erscheint es, je nach individueller Einstellung, günstiger, wenn die Zeit der Arbeitszeit zuzurechnen ist. Darüber hinaus würde die Zeit voll entlohnt werden müssen. Erfolgt eine Erfassung als Bereitschaftszeit, beginnt zumindest der relevante 24-Stunden-Zeitraum zu laufen. Auch wenn das Arbeitszeitkontingent von maximal zehn Stunden also nicht gemindert wird, geht die An- oder Rückreise zumindest von der „Schichtzeit“ ab, was wiederum bei längeren Reisezeiten auch eine Minderung der Maximalarbeitszeit zur Folge haben kann. Entlohnungsseitig kann individuell eine Schlechterstellung gegenüber einer Aufzeichnung als Arbeitszeit gegeben sein.
Fazit: Wer Rechtssicherheit erreichen will, dokumentiert die An- und Rückreise als Arbeitszeit. Wer ein nicht von der Hand zu weisendes Restrisiko in Kauf nehmen will, beruft sich bei passenden Rahmenbedingungen auf die Leitlinie Nr. 2 und kann die Zeiten dieser zufolge auch als Bereitschaftszeit dokumentieren. In der betrieblichen Arbeitszeitaufzeichnung sind die Zeiten ebenfalls entsprechend zu hinterlegen.
Gesamtfazit: Die hier behandelte Thematik ist eine von vielen im Fahrpersonalrecht, die die Betroffenen (und dazu zählen nicht nur die Fahrer und Unternehmen, sondern auch die Aufsichts- und Ahndungsbehörden) in Unklarheit darüber belässt, wie rechtskonformes Verhalten aussieht. Der EU-Gesetzgeber äußert sich widersprüchlich und so bleibt es nicht aus, dass sowohl im Unternehmen zwischen Fahrern und Verantwortlichen als auch infolge von Kontrollen mit den Aufsichts- und Ahndungsbehörden unschöne Diskussionen und Auseinandersetzungen zu beobachten sind. Da es hier ja nicht immer nur um die Fälle geht, in denen ein in Deutschland ansässiger Arbeitnehmer anstatt der Strecke von vielleicht 10 Kilometern zwischen Wohnung und Unternehmensstandort auch mal 50 oder 100 Kilometer bis zum in der Pampa stehenden Fahrzeug überbrücken muss sondern auch die Fälle zum Alltag gehören, in denen der in Rumänien sesshafte Fahrer 1.XXX Kilometer ins Ruhrgebiet zu „seinem“ LKW fährt oder gefahren wird, ist insbesondere unter Arbeitsschutzgesichtspunkten ohne weiteres nachvollziehbar, dass sich an dem Thema die Gemüter erhitzen und es zwischen Fahrern, Unternehmern und Behörden und auch „der Allgemeinheit“ (stark) abweichende Interessen gibt.
Dass es nach geltendem Rechtsstand für die Behörden nur sehr schwer möglich ist, die genauen Abläufe durchzuermitteln, ist der allgemeinen Straßenverkehrssicherheit nicht zuträglich. In gewisser Weise ändern könnte sich dies, wenn ab Mitte 2019 die ersten Fahrzeuge mit „smarten“ Fahrtenschreibern in den Markt kommen. Diese hinterlegen mit gewisser Regelmäßigkeit einen GPS-Koordinatenpunkt in den Aufzeichnungen. Den Kontrollorganen wird es dadurch möglich, im Zuge von Ermittlungen relativ einfach herauszufinden, ob der Übernahme- oder Abstellpunkt des Fahrzeugs „die“ Betriebsstätte war oder ein anderer Ort. Das erleichtert es schon einmal, Spreu und Weizen auseinanderzuhalten. Nichts ändert sich aber wohl an der Tatsache, dass die Anreise zum Fahrzeug, das eben nicht in der Pampa steht sondern an der Betriebsstätte, der der Fahrer zuzuordnen ist, der Freizeit des Fahrer zugerechnet werden kann/soll. In diesem Fall kann der Fahrer ja - die „Vision Zero“ lässt grüßen - auch gerne die stunden- oder gar tagelange Anreise von Rumänien oder Serbien oder Estland aus als Privatvergnügen deklarieren. Wären da nicht die Anforderungen allgemeiner Straßenverkehrsvorschriften in Punkto „Verkehrstüchtigkeit“ oder die unternehmerischen Vorsichtsmaßnahmen, die sich hinter dem Begriff „Gefährdungsbeurteilung“ verbergen, könnte es doch tatsächlich passieren, dass der angereiste Fahrer direkt in den LKW oder Bus steigt und „unbeschwert“ in einen vollständigen Arbeitstag startet.
Folgewirkungen durch das Mobilitätspaket I

Die ab Ende August 2020 Geltung erlangenden Regelungen zur vierwöchigen Rückkehrpflicht des Fahrers an seinen Wohnort oder an die Betriebsstätte, der er normalerweise zugeordnet* ist, hat losgelöst oder auch in Kombination mit der ebenso neu geschaffenen Sonderregel im grenzüberschreitenden Güterkraftvekehr (zwei verkürzte Wochenruhezeiten hintereinander) einen sehr engen Bezug zu der zuvor beschriebenen Thematik.

Wenn beispielsweise ein in Rumänien ansässiger Fahrer, der „nur” in Zentral- und Westeuropa arbeitet, im Zuge der Rückkehrpflicht mit einem selbstgefahreren PKW von Bremerhaven nach Sofia fährt, ergibt sich die Situation, dass die reine Fahrzeit nach Sofia nicht nur als Arbeitszeit aufgezeichnet (nachgetragen) werden muss, sondern aufgrund der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften nach jeweils zehn Fahrstunden natürlich auch diverse (in aller Regel elfstündige) Tagesruhezeiten (außerhalb des PKW!) einzulegen sind, die vom Unternehmen, das die Rückreise des Fahrers zu planen hat, in der Gesamtdisposition zu berücksichtigen sind. Wenn man eine rund dreißigstündige Fahrzeit zwischen Deutschland und Rumanien ansetzt, entstehen mit den notwenidgen arbeitszeit- und fahrpersonalrechtlichen Ruhezeiten schnell Zeiträume von 80 bis 90 Stunden für die Bewältigung der Strecke. Wenn dann noch ein Ausgleich für verkürzte Wochenruhezeiten in den Vorwochen hinzukommt, endet die Arbeistwoche in Bremerhaven in einem derartigen Beispiel durchaus 110 bis 130 Stunden vor dem Beginn der Wochenruhezeit in Sofia.

Ob eine Rückreise nach Sofia in einem Fernlinienbus als Bereitschaftszeit oder Arbeitszeit gilt oder wie eine Rückreise nach Sofia mit dem Flugzeug einzusortieren wäre sind Fragestellungen in zwei von sehr vielen möglichen Einzelfallkonstellationen, die allesamt aufgrund des Präzisionsniveaus, auf dem in den Trilogverhandlungen das Mobilitätspaket I „gezimmert” wurde, nicht ohne weiteres beantwortet werden können.
Stand: Juli 2020

* Im Zusammenhang mit der hier behandelten Thematik werden regelmäßig zwei EuGH-Urteile herangezogen (C-124/09 vom 29. April 2010 und C-297/99 vom 18. Januar 2001), die sich inhaltlich mit An- und Rückreisezeiten zu einem dem Fahrpersonalrecht unterliegenden Fahrzeug befassen und insbesondere dazu beigetragen haben, offene Fragen rund um die „Betriebsstätte, der der Fahrer „normalerweise“ zuzuordnen ist“, zu beantworten. Eine wesentliche Schwierigkeit, diese Urteile für die Beurteilung des Themas vollumfänglich zu berücksichtigen sieht der Autor aber darin, dass beide Urteile sich auf die nicht mehr gültige VO (EWG) Nr. 3820/85 beziehen, die den Sachverhalt „Fahrzeugübernahme oder -abstellen fernab vom Unternehmensstandort“ wesentlich rudimentärer beziehungsweise im Vergleich zu ihrer Nachfolge-VO (EG) Nr. 561/2006 eigentlich garnicht explizit geregelt hatte. Außerdem schwitzt die Leitlinie Nr. 2, die für die Beurteilung dieses Themas Aussagen bereithält, Formulierungen der EuGH-Urteile aus mancher Pore und insoweit erscheint es legitim, diese Urteile eher nur zur Kenntnis zu nehmen als daraus zu schließen, dass sich die EU-Kommission die Veröffentlichung der (mit den Mitgliedstaaten abgestimmten?!) Leitlinie Nr. 2 hätte sparen können.

** Hier nicht behandelt werden die Fahrten zum Fahrzeug hin oder von diesem zurück, die ausschließlich im Rahmen des Artikel 9 Absatz 2 der VO (EG) Nr. 561/2006 erfolgen - also durchgängig und ausnahmslos per Bahn oder Fähre bewerkstelligt werden und bei denen der Fahrer Zugang zu einer Koje oder einem Liegewagen hat. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann die Reisezeit als Ruhezeit oder Fahrtunterbrechung erfasst werden. Hierzu sind weiterführende Informationen in der Leitlinie Nr. 6 der EU-Kommission enthalten.

*** Ob das eingesetzte Fahrzeug einer Aufzeichnungspflicht unterliegt oder nicht, macht nur dann einen Unterschied, wenn der Fahrer selbst auf dem Fahrersitz Platz nimmt. Ist er selbst Fahrer eines aufzeichnungspflichtigen Fahrzeugs, muss die Fahrzeit natürlich als Lenkzeit erfasst werden. Ist er Passagier in einem aufzeichnungspflichtigen Fahrzeug (wobei wir davon ausgehen, dass keine Mehrfahrerbesatzung vorliegt!), hat die Frage „in-scope“ oder „out-of-scope“ zunächst einmal keine rechtliche Folgewirkung. Generell ist festzuhalten, dass für die Praxis in erster Linie die Beantwortung der Frage, ob es sich bei der Reisezeit um Arbeitszeit oder Bereitschaftszeit handelt, relevant ist. Das verwendete Verkehrsmittel hingegen nicht wirklich. Der Fahrer könnte grundsätzlich auch zu Fuß, mit dem Fahrrad oder in einer wie auch immer ausgestalteten Kombination aller möglichen Verkehrsmittel zum Fahrzeug gelangen oder von diesem zurückreisen. Ob die Diskriminierung des (umweltfreundlichen) Langsamverkehrs und des Flugverkehrs im Artikel 9 der VO (EG) Nr. 561/2006 bewusst oder unbewusst erfolgt, entzieht sich der Kenntnis des Autors. Interessant wäre aber insbesondere, ob man, wenn die Distanz zu Fuß zurückgelegt wird, seitens der EU-Kommission eher als aktiver oder als passiver Verkehrsteilnehmer angesehen wird.