Interview

"KMUs sind von zentraler Bedeutung für das wirtschaftliche und soziale Gefüge Europas"

Hubert Gambs, Deputy Director-General, SME Coordinator bei DG GROW, spricht im Interview darüber, wie die EU-Kommission kleine und mittlere Unternehmen bei den Herausforderungen des Binnenmarkts und des internationalen Wettbewerbs unterstützen kann. Außerdem gibt er einen Einblick in Ziele und Zukunftsvision der EU-Kommission.
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© DG Grow

Welchen Beitrag leistet die EU-Kommission, insbesondere die Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU, zur Förderung von Wirtschaftswachstum in Europa?

Unsere Generaldirektion arbeitet daran, den Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen zu implementieren und dort, wo es noch klemmt, zu verbessern. Unsere Arbeit trägt dazu bei, einen offenen, nahtlosen und widerstandsfähigen Binnenmarkt zu gewährleisten, der ein Eckpfeiler der europäischen Integration ist. Des Weiteren sind wir mit der europäischen Industriepolitik betraut. Dabei ist das oberste Ziel die Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit. Dies ist ein sehr breites Feld, zu dem viele Politikbereiche und andere Generaldirektionen beitragen. Der Schwerpunkt der Generaldirektion GROW (GD GROW) liegt hierbei darin die europäische Industrie zu stärken und die Größe des Binnenmarkts zu nutzen, um Wohlstand, Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern. Eines der Ziele der Industriepolitik ist die Schaffung eines günstigen Umfeldes für kleine und mittlere Unternehmen. Hierzu zählen zum Beispiel Maßnahmen zur Förderung von Unternehmertum oder für erleichterten Zugang zu Finanzmitteln und zu Weltmärkten. Unsere Arbeit trägt dazu bei, den Binnenmarkt zu einer umweltfreundlicheren, digitalen und widerstandsfähigeren Wirtschaft zu machen. Im Einklang mit den Prioritäten der Kommission, schaffen wir eine Wirtschaft im Dienste der Menschen und eine EU, die für das digitale Zeitalter gerüstet ist.
Wir schaffen eine Wirtschaft im Dienste der Menschen und eine EU, die für das digitale Zeitalter gerüstet ist.

In den Rückmeldungen und Erfahrungen vieler KMUs aus unserem Kammerbezirk ist die Bürokratie aus Brüssel oft ein Thema, das sie belastet. Einen Teil der Kritik haben Sie letztes Jahr auf dem Wirtschaftsgipfel Baden-Württemberg in Brüssel zu hören bekommen. Wie betrachtet die EU-Kommission diese Herausforderungen und welche Maßnahmen werden ergriffen, um die Belastungen für KMU zu verringern?

Die Kommission ist sich dieser Bedenken sehr bewusst und unternimmt Schritte, um sie zu beheben. Die Entscheidung von Präsidentin von der Leyen, unsere Berichtspflichten um 25 % zu verringern, stellt eine wesentliche Antwort dar. Die entsprechenden Vorhaben betreffen verschiedenste Arten von Vereinfachungen, von der Abschaffung spezifischer Meldepflichten bis hin zur Digitalisierung oder anderweitigen Verringerung des Bürokratieaufwands. Wir wissen, dass der Verwaltungsaufwand für kleine und mittelständische Unternehmen besonders schwierig zu schultern ist. Dabei sind es gerade diese Unternehmen, die zwei Drittel der Arbeitsplätze stellen und mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes erzeugen.
Daher haben wir in 2023 das KMU-Entlastungspaket als umfassende Unterstützungsmaßnahme für KMUs verabschiedet. Von der Bekämpfung von Zahlungsverzug bis hin zum Bürokratieabbau und zur Förderung von Investitionen soll dieses Paket ein besseres Unternehmensumfeld für KMU in der gesamten EU schaffen, um sie wettbewerbsfähiger zu machen. Das Paket von 2023 wird auch den Verwaltungsaufwand vereinfachen. Im Arbeitsprogramm der Kommission ist für 2024 eine erste Reihe von 41 Initiativen zur Verringerung solcher Belastungen vorgesehen. So soll etwa die Reform des Zollkodex der Union Kosteneinsparungen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro bringen. Die Überarbeitung der Verordnung über europäische Statistiken wird weitere 450 Millionen Euro für Unternehmen aller Größenordnungen einsparen.
KMUs sind von zentraler Bedeutung für das wirtschaftliche und soziale Gefüge Europas und für den ökologischen und digitalen Wandel sowie für unseren langfristigen Wohlstand.

Wie unterstützt die EU-Kommission KMUs bei der Bewältigung der Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs?

KMUs sind von zentraler Bedeutung für das wirtschaftliche und soziale Gefüge Europas und für den ökologischen und digitalen Wandel sowie für unseren langfristigen Wohlstand. Nach einer beispiellosen Pandemie sehen sich KMU aufgrund der hohen Energiekosten und der Rohstoffpreise und des teureren Zugangs zu Finanzmitteln durch gestiegene Zinssätze mit erheblichen Unsicherheiten konfrontiert. In der Europäischen Kommission und insbesondere in der GD GROW sind wir uns dieser Herausforderungen bewusst und haben verschiedene Instrumente eingeführt um KMUs dabei zu unterstützen, sie zu bewältigen. Ich denke an das Enterprise Europe Network (EEN): seit 2008 bündelt dieses Netzwerk Organisationen zur Unterstützung der Unternehmen vor Ort – wie die IHK Ulm –, um lokale KMUs durch einen maßgeschneiderten und kundenorientierten Ansatz direkt zu unterstützen. Das EEN bietet eine Vielzahl von Beratungsdienstleistungen an, vom rechtlichen Schutz des geistigen Eigentums über die Vergabe öffentlicher Aufträge bis hin zur Unterstützung von Unternehmen in Querschnittsthemen wie Innovation, Digitalisierung, Zugang zu Finanzmitteln, Internationalisierung und Geschäftspartnerschaften.

Wie kann die Wirtschaft zwischen Alb und Bodensee am besten vom Enterprise Europe Network profitieren?

Regionale und lokale Unternehmen können das enorme Potenzial des Binnenmarkts und der globalen Märkte nutzen. Der Mehrwert des EEN liegt in seiner Unterstützung bei der Überwindung unterschiedlicher Regulierungslandschaften und der Erleichterung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Unabhängig davon, ob es darum geht, gemeinsam mit den EEN-Beratern Geschäftsmöglichkeiten zu finden oder Instrumente wie SOLVIT und „Ihr Europa“ („Your Europe“) zu nutzen, hilft das EEN KMUs dabei, die Ressourcen zu nutzen, die sie benötigen, um international wachsen zu können. Mit seinem umfangreichen internationalen Netzwerk, dem 17 globale Partner angehören, bietet das EEN zusätzlich zu den Partnern in der EU und den mit dem Binnenmarkt assoziierten Ländern vielversprechende Exportmöglichkeiten für KMUs in der Region. Durch die Verbindung mit dem EEN über die IHK Ulm können Unternehmen ihre Reichweite vergrößern, Partner finden und ihre Einnahmen steigern.

Welche Initiativen und Programme sind in der Pipeline, um die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen zu stärken und ihre Innovationskraft zu steigern?

Die Europäische Kommission hat im Rahmen des Industrieplans für den Green Deal eine Reihe ehrgeiziger politischer Initiativen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Innovation in der EU auf den Weg gebracht. Diese beziehen sich auf verschiedene Aspekte der Lieferkette, wie die Netto-Null-Industrie-Verordnung, die zur Stärkung der europäischen Fertigungskapazitäten für Netto-Null-Technologien beiträgt, und das Gesetz zu kritischen Rohstoffen, mit dem ein Rahmen zur Gewährleistung einer sicheren und nachhaltigen Versorgung mit kritischen Rohstoffen geschaffen wird. Diese Initiativen sollen zusammen mit der Plattform „Strategische Technologien für Europa“ den Übergang zu einer grüneren und digitaleren Zukunft für die EU-Industrie unterstützen. Darüber hinaus haben wir Horizont Europa. Mit einem Budget von 95,5 Milliarden Euro ist es das wichtigste Forschungs- und Innovationsprogramm der EU, das wissenschaftliche Exzellenz und Durchbrüche in verschiedenen Sektoren fördert. Der mit 10 Milliarden Euro ausgestattete Europäische Innovationsrat (EIC) unterstützt viele bahnbrechende innovative KMU und Neugründungen indem er Finanzmittel, Vernetzungsmöglichkeiten und den Zugang zu Fachwissen bereitstellt, um ihr Wachstum und ihre Marktakzeptanz zu beschleunigen.

Was ist nun, nach 30 Jahren Binnenmarkt, geplant um die Rahmenbedingungen und die Grundfreiheiten beim freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital weiter zu verbessern?

Zunächst möchte ich wiederholen, dass der Binnenmarkt ein Eckpfeiler unserer Freiheit ist und sowohl Unternehmen als auch Bürgern in der EU einzigartige Chancen für Wachstum, Innovation und Wohlstand bietet.
Mit dem 30-jährigen Bestehen des Binnenmarkts wird die Kommission diesen Rahmen weiter verbessern und Hindernisse beseitigen, um einen ungehinderten freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gewährleisten zu können und die Effizienz und Widerstandsfähigkeit des Binnenmarkts in Krisenzeiten zu erhöhen.
Die ordnungsgemäße Anwendung der Binnenmarktvorschriften und ihre Durchsetzung sowie die frühzeitige Vermeidung von Hindernissen sind von entscheidender Bedeutung. Die 2020 eingerichtete Taskforce für die Durchsetzung des Binnenmarkts hat wichtige Fortschritte bei der Vereinfachung des Rechtsrahmens und dem Abbau administrativer Hindernisse in bestimmten Bereichen erzielt, z. B. für Fachkräfte und Unternehmen, die vorübergehend grenzüberschreitende Dienstleistungen anbieten. Digitale Technologien und benutzerfreundliche E-Government-Lösungen können auch dazu beitragen, den Verwaltungsaufwand für Unternehmen, Bürger und Verwaltungen zu verringern und Kosteneinsparungen zu erzielen.
Zwar wurden an mehreren Fronten Fortschritte erzielt, doch müssen wir noch mehr tun. Ein Schwerpunktbereich ist die Entsendung von Arbeitnehmern. Wir wissen, dass KMUs, insbesondere in Grenzregionen, die Komplexität der nationalen Entsendeverfahren in der EU als eine der größten Belastungen im Binnenmarkt betrachten. Die Kommission hat daher ein Projekt zur Vereinfachung der administrativen Einhaltung der nationalen Meldepflichten durch die Schaffung eines gemeinsamen elektronischen Anmeldeinstruments gestartet. Unser Ziel ist es, diese Vereinfachung durch die Entwicklung und Bereitstellung einer einheitlichen mehrsprachigen öffentlichen Schnittstelle zu erreichen. Dies wird es den Unternehmen ermöglichen, Entsendemeldungen für alle Mitgliedstaaten, die sich für die Nutzung dieses Instruments entscheiden, digital in ihrer eigenen Sprache einzureichen. In diesem Zusammenhang dient das zentrale digitale Zugangstor (Single Digital Gateway) der Vereinfachung von Verwaltungsverfahren für grenzüberschreitend tätige Unternehmen.
Wir betrachten Unternehmertum als eine wesentliche Triebkraft für Wachstum, Wohlstand und industrielle Führungsposition, wobei Familienunternehmen und Neugründungen eine Schlüsselrolle spielen.

Wie sieht die Vision der EU-Kommission für die Zukunft der europäischen Industrie und des Unternehmertums aus, insbesondere im Hinblick auf globale Trends und Herausforderungen und die Gefahr der Deindustrialisierung?

Ich freue mich, dass Sie das Wort „Unternehmertum“ erwähnen. Wir betrachten Unternehmertum als eine wesentliche Triebkraft für Wachstum, Wohlstand und industrielle Führungsposition, wobei Familienunternehmen und Neugründungen eine Schlüsselrolle spielen.
Wir müssen weiterhin dafür sorgen, dass Unternehmer über die notwendige Unterstützung und Ressourcen verfügen, um in einem zunehmend wettbewerbsorientierten und manchmal unfairen Weltmarkt wachsen zu können. Wir arbeiten aktiv daran, unternehmensfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Innovationen fördern, den Zugang zu Finanzmitteln erleichtern und das Unternehmertum in allen Branchen fördern.
Mit Initiativen wie der aktualisierten EU-Industriestrategie, der KMU-Strategie und dem Industrieplan für den Grünen Deal schaffen wir eine solide Grundlage für Wachstum, Innovation und Nachhaltigkeit von KMUs. Dieser Rahmen wurde mit Blick auf KMUs konzipiert und bietet maßgeschneiderte Unterstützung und Anreize, um ihnen dabei zu helfen, Herausforderungen im digitalen Zeitalter zu bewältigen und Chancen zu nutzen.
Unser übergeordnetes Ziel ist es, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, damit europäische Unternehmer und KMUs weltweit im Wettbewerb bestehen und erfolgreich sein können. Indem wir KMUs und expandierende Jungunternehmen in die Lage versetzen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen, fördern wir nicht nur Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern auch eine inklusivere und widerstandsfähigere europäische Wirtschaft zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger.

Interview: Amir Alizadeh & Christin Krauß