„Es braucht eine Renaissance der Wachstumspolitik“

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein erläutert im Interview, was für ihn eine aktive Wirtschaftspolitik ausmacht und welche Maßnahmen es aus seiner Sicht braucht, damit der Standort Hessen und ganz Deutschland wettbewerbsfähig bleiben.

Herr Ministerpräsident, erstmals regiert in Hessen ein schwarz-rotes Bündnis. Den sogenannten Hessenvertrag haben die Koalitionäre unter das Motto „Einer für alle“ gestellt. Was beinhaltet dieses Versprechen der Landesregierung für die rund 400.000 hessischen IHK-Mitgliedsunternehmen?
Mit unserem Koalitionsvertrag „Eine für alle“ kümmern wir uns als Hessische Landesregierung seit dem ersten Tag der Legislaturperiode darum, dass der Staat sein zentrales Versprechen einhält: für Sicherheit und Wohlstand zu sorgen. Wir haben deshalb nach vielen Jahren die Wirtschaftspolitik wieder in den Mittelpunkt des Regierungshandelns gerückt. Mit einer aktiven Wirtschaftspolitik stellen wir die Weichen für mehr Wachstum, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in Hessen.
Aktive Wirtschaftspolitik bedeutet zum einen, dass wir die Rahmenbedingungen am Wirtschaftsstandort Hessen für mehr Investitionen, Innovationen und Produktionen kontinuierlich verbessern. Zum anderen setzen wir uns stärker für die Interessen der hessischen Wirtschaft auf nationaler und europäischer Ebene ein. Dafür arbeiten wir eng, vertrauensvoll und konstruktiv mit dem Hessischen Industrie- und Handelskammertag und den hessischen Industrie- und Handelskammern zusammen.
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sinkt weiter, der Standort wird in diversen Rankings nur noch als Mittelmaß eingestuft, die Wirtschaft ächzt unter hohen Energiekosten, Rohstoffpreisen und Steuerlasten, überbordender Bürokratie, schleppender Digitalisierung und Fachkräftemangel. Auch das Erstarken der AfD wird zunehmend als Standortrisiko wahrgenommen. Wie ist es da um die hessische Wirtschaft bestellt?
Im Bundesvergleich präsentiert sich die hessische Wirtschaft nach wie vor robust – mit einem Wachstum im vergangenen Jahr von 1,2 Prozent, während die gesamtdeutsche Wirtschaft um 0,3 Prozent schrumpfte. Auch die Arbeitslosenquote liegt unter dem Bundesdurchschnitt. Dennoch fehlt der konjunkturelle Rückenwind. Deutschland ist aktuell Schlusslicht beim Wachstum, weil wir Spitze sind bei den Belastungen. Wir brauchen deshalb eine umfassende Unternehmenssteuerreform, die unternehmerische Leistung anregt – mit einer Gesamtsteuerlast von höchstens 25 Prozent und einer Abschaffung des Solidaritätszuschlags für Unternehmen.
In Hessen werden wir unseren Beitrag leisten, unter anderem mit einem neuen Hessenfonds, der Investitionsanreize für Unternehmen setzt. Im aktuellen Konjunkturbericht des Hessischen Industrie- und Handelskammertages sehen Unternehmen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als größtes Risiko für ihren Geschäftserfolg. An welchen Stellschrauben will die Landesregierung drehen, um nachhaltiges Wachstum und Wohlstand in Hessen zu ermöglichen und zu sichern?
Hessen ist ein starker, internationaler und zukunftsorientierter Standort mit innovativen Unternehmen – beste Voraussetzungen, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Die Landesregierung unterstützt die Wirtschaft dabei.
Mit dem erwähnten neuen Hessenfonds wollen wir zukunftsweisende Ideen und gesamtwirtschaftlich notwendige Veränderungsprozesse aktiv fördern und begleiten. Daneben stellt die Wirtschaftsförderung in Hessen – von der Unternehmensgründung über die Wachstumsphase bis zur Unternehmensnachfolge – passgenaue Instrumente zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes bereit.
Mit welchen Maßnahmen und Förderprogrammen wollen Sie den Unternehmen unter die Arme greifen (zwei, drei Beispiele)?
Zwei wichtige Punkte will ich hier beispielhaft nennen: Qualifizierte Fachkräfte sind die Grundlage für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts. Daher bildet die Fachkräftegewinnung einen Schwerpunkt der Arbeit der Landesregierung. Mit der in diesem Jahr in Hessen eingeführten kostenlosen Meisterausbildung entlasten wir all jene finanziell, die sich durch eine Meisterausbildung weiterqualifizieren wollen.
Zudem machen wir ernst mit dem Abbau von Bürokratie. Wir haben uns das Ziel gesetzt, dass es am Ende der Legislaturperiode deutlich weniger Vorschriften geben soll als momentan. Dafür schnüren wir ein ambitioniertes Paket für Bürokratieabbau und Planungsbeschleunigung und setzen uns auf der europäischen Ebene wie auf der Bundesebene entschieden dafür ein, die Belastungen für Unternehmen etwa bei den Berichtspflichten zu reduzieren.
Sie sind jüngst mit der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung hart ins Gericht gegangen. Ihre Forderung: Deutschland brauche kein Kiffergesetz, sondern ein Konjunkturprogramm. Was müsste dieses beinhalten?
Deutschland braucht eine Renaissance der Wachstumspolitik mit grundlegenden Strukturmaßnahmen, um den Wachstumsturbo zu zünden. Dazu sind große Wirtschaftsreformen notwendig, die darauf abzielen, private Investitionen zu erleichtern und die Innovationskraft zu steigern. Das gelingt mit einer Entbürokratisierung im Land, einem wettbewerbsfähigen Steuer- und Abgabensystem, einer gesteuerten, qualifizierten Zuwanderung, einem vollendeten europäischen Binnenmarkt und einer Priorisierung staatlicher Ausgaben zugunsten von Sicherheit, Bildung und Infrastruktur.
Laut IWF-Prognose wächst die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nur um 0,2 Prozent und wäre damit Schlusslicht unter den G7-Staaten. Wie sind die Wachstumsaussichten für den Wirtschaftsstandort Hessen, der schon im vergangenen Jahr dem Bundestrend leicht getrotzt hat?
Hessen hat als starker Standort mit innovativen Unternehmen das Potenzial, auch in Zukunft deutlich besser als der Bund zu sein. Die Warnsignale der gesamtdeutschen Wirtschaft müssen aber als Aufruf vor allem an die Bundesregierung verstanden werden, endlich aktiv zu werden.
In Hessen hat die Landesregierung in diesem Frühjahr den Industrietrialog ins Leben gerufen. Die Arbeit des Gremiums zielt darauf ab, im Austausch mit den Unternehmen und Gewerkschaften den Industriestandort Hessen kontinuierlich weiterzuentwickeln und langfristig zu sichern. Die wirtschaftliche Schwäche bedeutet massive Mindereinnahmen für die Landeshaushalte. Gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode will die Landesregierung mit ihrem Nachtragshaushalt 2,8 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen, weitere Kredite nicht ausgeschlossen. Welche Projekte wollen Sie hiermit finanzieren?
Die rückläufigen Steuereinnahmen auch in Hessen spiegeln die anhaltende wirtschaftliche Schwächephase in Deutschland wider. Der kürzlich im Landtag verabschiedete Nachtragshaushalt für das Jahr 2024 trägt diesen veränderten Rahmenbedingungen Rechnung und gibt realpolitische Antworten auf die aktuellen Herausforderungen. Schwerpunkte des ersten Haushalts der neuen Regierung sind das „Sofortprogramm 11+1“, für das 200 Millionen Euro zur Verfügung stehen, die Stärkung der Wirtschaft und die weitere Unterstützung der Kommunen. Wir investieren in die Sicherheit auf unseren Straßen und Plätzen, in die Bildung unserer Kinder und unterstützen Familien. Wir sind eine Landesregierung, die die Interessen der gesamten Bevölkerung im Blick hat.
Außerdem entfallen allein zwei Milliarden Euro des Nachtragshaushalts auf die Beteiligung des Landes an der Helaba. Als werthaltiger Beteiligungserwerb ist die dafür notwendige Kreditaufnahme mit der Schuldenbremse vereinbar. Im Gegenzug erhält das Land von der Helaba zwei milliardenschwere Förderprogramme für Wohnungsbau und für die Kommunen.
Der hessische Finanzminister hat bereits einen Sparkurs angekündigt. Bleibt da überhaupt noch finanzieller Spielraum für den ambitionierten Hessenvertrag?
Es ist unerlässlich, den Wirtschaftsstandort Hessen zu stärken, Bürokratie abzubauen und die Digitalisierung voranzutreiben. Vor[1]haben, die dazu dienen, sind nicht nur Kernelemente des Hessenvertrags, sondern auch entscheidend für die künftige Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Darüber hinaus investieren wir gezielt in Forschung und Innovation, um unseren Wohlstand langfristig zu sichern. Durch einen intelligenten und effizienten Mitteleinsatz stellen wir sicher, dass wir diese entscheidenden Ziele erreichen.
Sie haben die Ampel-Koalition nicht nur wegen ihrer Wirtschaftspolitik kritisiert, sondern sich auch für ein Bündnis aus CDU und SPD nach der Bundestagswahl 2025 ausgesprochen und eine mögliche schwarz-rote Koalition als „Aufbruchssignal“ bezeichnet. Empfehlen Sie sich damit für einen Wechsel von Wiesbaden nach Berlin?
Ich bin sehr gerne Hessischer Ministerpräsident. Ich habe den Hessinnen und Hessen vor der Landtagswahl die Zusage gemacht, das Land zu führen, und diese Zusage möchte ich auch einhalten.
Das Interview führte Petra Menke, IHK Frankfurt am Main.
Stand: 30.10.2024