Vom Telegramm ins Metaversum

Zehn Wahlgruppen – zehn Branchen, Teil 5: Vier Vollversammlungsmitglieder der Informationstechnologie berichten über die Entwicklung ihrer Branche und ihren Weg vom Gestern zum Heute und ihre Vision zum Morgen.
Für die Präsentation ihrer bahnbrechenden Erfindungen wählten die Pioniere markige Sätze. „Was Gott erwirkt hat“, tickerte Samuel Morse am 24. Mai 1844 von Washington nach Baltimore im weltersten Telegramm. Der deutsche Physiker Johann Philipp Reis entscheid sich für „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“, als er am 26. Oktober 1861 den Mitgliedern des Physikalischen Vereins in Frankfurt am Main seinen Fernsprechapparat präsentierte. Reis, im hessischen Gelnhausen südöstlich von Gießen geboren, gilt zwar als zentraler Wegbereiter des Telefons, als Erfinder ging jedoch der aus Schottland stammende Alexander Graham Bell in die Annalen der Technik ein. Anders als Reis hatte er seine 1876 auf der Expo in Philadelphia präsentierte Telefonentwicklung patentieren lassen und gründete schließlich die Bell Telephone Company. Wie Reis historischer Satz schrieben die ersten Worte, die über das bellsche Telefon gesprochen wurden, Geschichte: „Mr. Watson, come here, I want you.“
Knapp weitere 100 Jahre vergingen, bis 1973 der Motorola-Ingenieur Martin Cooper 1973 in New York das erste Handy-Gespräch führte, bevor Apple 2007 mit dem ersten iPhone ein weiteres Mal den Markt der Telefonie revolutionierte. Zu Spitzenzeiten (2016) setzten die Hersteller weltweit rund 1,47 Milliarden Smartphones ab. Rein statistisch gesehen kaufte also jeder fünfte im Jahr 2016 einen mobilen Mini-Computer, mit dem er nicht nur telefonieren, sondern Nachrichten, Fotos oder Videos verschicken, das Wetter checken, online ein- und verkaufen, Reisen buchen, News verfolgen, seinen Weg finden und/oder online spielen kann.
Nur zwei Jahre nach Gründung der IHK Gießen starb Reis 1874. In Vergessenheit geriet er keinesfalls. Unter anderem erinnern in zahlreichen Städten nach ihm benannte Straßen und Schulen an die kommunikationstechnische Meisterleistung. In der Gießener Philipp-Reis-Straße etwa sitzt die, Spezialist für Document Related Technologies, der u.a. Lösungen in den Bereichen Archivierung, Dokumentenmanagement und Workflow plant und implementiert sowie Business-Process-Management-Projekte (BPM) realisiert. Als Bodo Zipffel das Unternehmen 1998 gründete, waren PCs ein knappes Vierteljahrhundert alt und trotz elektronischer Datenverarbeitung türmten sich in Büros und Kellerräumen Regale voller Aktenordner. Doch noch nicht alle Unternehmen haben die Vorteile der Digitalisierung genutzt und zügig auf elektronische Dokumentation und elektronische Archive umgestellt. „Erst die Corona-Pandemie und der schlagartige Wechsel ins Homeoffice haben jetzt endgültig das Bewusstsein geschärft, dass Papierverfahren nicht mehr zeitgemäß sind“, sagt Zipffel. Größte Vorteile der elektronischen Dokumentation sind aus seiner Sicht nicht nur das hohe Maß an Rationalisierung. „Die Mitarbeiter werden auch erheblich entlastet. Sind Informationen auf Knopfdruck verfügbar, können sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren, statt zeitraubend auf Papier erfasste Daten zu suchen.“ Größte Herausforderung sei es aktuell, die ERP-Systeme der Unternehmen über Schnittstellen mit den Systemen der Mitarbeiter im Homeoffice zu verbinden.

Viele Potenziale noch ungenutzt

Welche Technologien für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen künftig die größte Wettbewerbsrelevanz haben, wollte der Digitalverband Bitkom für eine Studie wissen. Mit 90 Prozent setzten die befragten Unternehmen Big Data auf Rang eins, gefolgt vom Internet of Things und 3D-Druck. „Viele Unternehmen haben aber noch gar nicht das Potenzial von Big Data erkannt und schon gar nicht ausgeschöpft“, beobachtet Philipp Rabenau, Referent im Geschäftsfeld Innovation und Umwelt bei der IHK Gießen-Friedberg, die deshalb regelmäßig ihren Mitgliedern Veranstaltungen zur Analyse von Big Data anbietet. „Wenn Betriebe beispielsweise in der Produktion digitale Schnittstellen einsetzen, fallen Daten an, die man clever nutzen kann. Und das schafft einen Effizienzgewinn“, so Rabenau. Als IHK wolle man bei den Mitgliedern über das Thema Big Data eine Brücke in Richtung „Schreckgespenst KI“ bauen.
Roman Benischke, Geschäftsführer der Gießener, kann sich noch gut an Floppy-Disks erinnern, die das für heutige Verhältnisse verschwindend geringe Volumen von 1,44 MB speicherten. Der Datenträger war 1969 bei IBM erfunden worden. Über solche Datenvolumina können die Forscher, die künftig in Darmstadt am Zentrum für Angewandtes Quantencomputing arbeiten, nur müde lächeln. Mit der Zukunftstechnologie können Berechnungen bewältigt werden, bei denen klassische Computer kapitulieren oder ewig brauchen. Vor allem in den Bereichen Finanzen, Pharma und Medizin, Materialwissenschaften sowie Cybersecurity erwarten Experten durch den Einsatz der Superhirne bedeutende Durchbrüche. Die Quantencomputer könnten zum Beispiel dabei helfen, die Entwicklung von Medikamenten zu beschleunigen, die Auswirkungen des Klimawandels zu simulieren oder Verkehrsströme zu optimieren. „Hessens Wirtschaft begrüßt die Investition des Landes ausdrücklich. Das ist sehr gut angelegtes Geld. Die Technologie hat das Zeug zu einer neuen industriellen Revolution“, sagte Christian Gastl, Vizepräsident des Hessischen Industrie- und Handelskammertages (HIHK). Es sei gut, dass die Forschung dazu auch in Hessen stattfinde. Schon seit Jahren gibt es Forschungsprojekte zu Quantentechnologien an hessischen Hochschulen. „Das ist auch für die wirtschaftliche Praxis und Hessens Mittelstand gut. Die Forschungs- und Hochschullandschaft ist ein wichtiger Standortfaktor Hessens.“
Die Schattenseite des technologischen Fortschritts: Durch Cybercrime und IT-Ausfälle entstehen jährlich Schäden in Milliardenhöhe. Laut Bitkom verursachten Cyber-Vorfälle im Jahr 2020 Schäden von 223 Milliarden Euro und damit doppelt so viel wie 2018. Neun von zehn Unternehmen seien betroffen gewesen. Entsprechend wichtig sind die Weiterbildungen der IHK Gießen-Friedberg zum Thema Daten- sowie Informationssicherheit. Als regionaler Partner fungiert die IHK Gießen-Friedberg zudem für die Transferstelle IT-Sicherheit im Mittelstand (TISiM), in der das Bundeswirtschaftsministerium Angebote und Werkzeuge für IT-Sicherheit bündelt und die Selbstständige sowie kleine und mittlere Unternehmen bei der Prävention von IT-Sicherheitsvorfällen unterstützt.

Transformation ist in vollem Gange

Roman Benischke, der wie Zipffel die IT-Branche in der Vollversammlung der IHK Gießen-Friedberg vertritt, hat bereits seit der Gründung vor 24 Jahren auf die digitalen Medien gesetzt und viele Kunden bei der Transformation von den klassischen Printmedien zu digitalen Lösungen begleitet. „Nur noch zehn Prozent unserer Produkte erscheinen auf Papier“, sagt der Geschäftsführer. Und ist überzeugt, dass manch Klassiker trotzdem noch viele, viele Jahre überleben wird. Etwa das Stadionmagazin, das media tools für die Fans von Eintracht Frankfurt herausbringt.  „Vom Spiel will man einfach etwas mit nach Hause nehmen.“ Die Digitalisierung ebnet gleichzeitig den Weg für Formate, die zum Beispiel wegen der Pandemie sonst gar nicht hätten stattfinden können. Für die Volksbank Mittelhessen etwa brachte Benischkes Team die virtuelle Mitgliederversammlung ins Netz. Virtuelle Showrooms ersetzen Messen mit Präsenzbesuchen, virtuelle Hörsäle halten den Unibetrieb aufrecht, Podcasts bieten zeitgemäße Kanäle für Storytelling. „Die größte Veränderung ist sicher, dass wir heute nicht mehr Gatekeeper wie Verlage oder Sender haben. Jeder kann senden und verlegen, wann und wo immer er will.“
Wie stark die Plattform-Ökonomie die Wirtschaft verändert hat, zeigt aus Sicht Benischkes ein Blick auf die heute zehn wertvollsten Unternehmen der Welt, darunter Google (1998), Amazon (1994), Facebook (2004) und Tencent (1998), von denen drei noch nicht einmal ihr 25-jähriges Firmenjubiläum gefeiert haben. Um künftig noch reicher zu werden und im Virtuellen ganz reales Geld zu verdienen, pumpen Konzerne wie Facebook alias Meta gerade Milliarden in das Metaversum, das Internet der Zukunft, gut 30 Jahre, nachdem das World Wide Web für die kommerzielle Nutzung freigegeben worden war. Immer fließender werden dann die Grenzen zwischen virtueller und realer Welt, auch dank Virtual-Reality-Brillen und Augmented Reality. Der Software-Riese Microsoft etwa bastelt mit seiner 3-D-Konferenzsoftware „Mesh" an einer Business-Parallelwelt. „Schon heute stellen erste Firmen ihre Produkte im Metaversum vor und virtuelle Grundstücke wechseln für Millionenbeträge den Eigentümer“, beobachtet Bitkom-Präsident Achim Berg.

Unternehmen erhalten Unterstützung

Noch wissen allerdings die meisten Menschen gar nichts mit Begriffen wie Metaversum anzufangen, wie eine Umfrage des Bitkom ergab. Viele kleine Unternehmen, darunter zahlreiche Einzelhändler, kämpfen derweil damit, sämtliche Geschäftsprozesse in die digitale Welt zu transformieren, vom Online-Shop über den Vertrieb bis zu den unterschiedlichsten Paymentmethoden, um die virtuell verwöhnte Kundschaft nicht zu verlieren. Um die Hürden zu senken, unterstützen die IHK oder auch Bundes- und Landesministerien mit Beratungen, Seminaren, Digital-Zuschüssen oder etwa dem Förderprogramm „go-digital“, mit dem das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz kleinen oder mittelständischen Unternehmen finanzielle Zuschüsse zur digitalen Transformation zahlt. Zu den autorisierten Beratungsunternehmen gehört auch IHK-Mitglied.
„Eine durchdachte Digitalstrategie, eine nutzerfreundliche, professionelle und moderne Website sowie Präsenz in den sozialen Medien sind heute unerlässlich. Auch bei kleineren Mittelständlern ist das Bewusstsein dafür deutlich gestiegen“, beobachtet die Unternehmerin.
Unerlässlich sei jedoch, dass der Kommunikationskanal zum Kunden und dessen Zielgruppe passe. Das Unternehmen müsse seine Kunden kennen, um Produkte und Dienstleistungen optimal vermarkten zu können. In den sozialen Medien sei „Viel hilft nicht unbedingt viel“ das Credo. Es sei besser, einen Kanal richtig zu bedienen, als auf vielen halbherzig präsent zu sein. Als Erfolgsbeispiel nennt Giorgis die Volksbank Mittelhessen, die mit dem preisgekrönten Auftritt ihrer Azubis auf dem Videoportal TikTok großen Erfolg haben.  
Auch die one medialis GmbH produziert für ihre Kunden nur noch selten Broschüren, Flyer oder Corporate Books, etwa anlässlich eines besonderen Jubiläums oder bei wechselnden Preisaktionen auf großformatigen Plakaten. „90 Prozent unserer Produkte sind digital, zehn Prozent entfallen auf Print“, sagt Geschäftsführer
, der auch Mitglied der Vollversammlung ist. Seit Gründung der Agentur im Jahr 1995 hat der Unternehmer eine revolutionäre Umkehr in der Marketinglandschaft erlebt, die er mit der Umkehr vom Push- zum Pull-Effekt“ beschreibt. „Es geht nicht nur darum, auf dem richtigen Kanal zu kommunizieren, sondern auch zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Person, und darüber entscheidet vor allem der Kunde“, sagt Ramb. Dank innovativer Technologien wie Marketing-Automation könnten die Unternehmen ihre Kunden dann mit Informationen über ihre Produkte versorgen, wenn diese für sie gerade relevant sind. „Damit steigt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass ein Call-to-Action ein Interesse generiert und anschließend effektiver in einen erfolgreichen Verkaufsprozess mündet.“
Dass sein Telefon vor allem für Frauen wie eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wirken würde, das war Philipp Reis bei seinem Auftritt im Physikalischen Verein sicher nicht bewusst. In den Schaltzentralen der Telefonzentrale saßen später fast ausschließlich Frauen, die durch Umstecken der Leitungen die gewünschten Gesprächspartner miteinander verbanden. Und waren Kontore und Büros im 19. Jahrhundert zunächst den Männern vorbehalten, öffneten die ersten „Handelslehranstalten für Frauenzimmer“ um 1860 in Deutschland auch weiblichen Arbeitskräften den Zugang. 1920 sollen 90 Prozent aller Bürojobs mit Kassiererinnen, Buchhalterinnen oder auch Kontoristinnen besetzt gewesen sein.
Herausgegeben im IHK-Wirtschaftsmagazin im Mai 2022
Der Video zum Thema steht in Kürze online.
Bewegt – damals wie heute
In diesem Videobeitrag wittert die Protagonistin Jutta Failing Unheil, wenn man seine Daten nicht hinreichend schützt. Demnächst zu sehen auf unserer Jubiläums-Webseite.

Stand: 04.01.2023