Tradition hat Zukunft

Zehn Wahlgruppen – zehn Branchen, Teil 3: Zwei Vollversammlungsmitglieder der Gastronomie und Hotelbranche berichten über die Herausforderungen ihres Arbeitsalltages und ihren Weg vom Gestern zum Heute und ihre Vision zum Morgen.
Gasthäuser gab es schon in der Antike. Angefangen mit einfachen Stuben, in denen Gäste und Reisende bewirtet wurden, entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte eine äußerst vielfältige Gastronomie. Der Begriff Gastronomie stammt ursprünglich von dem  griechischen Wort „gastronomía“, was so viel heißt wie „Vorschrift zur Pflege des Bauches“. Die Franzosen machten sich diesen Begriff schnell zunutze, um damit den Feinschmecker „Gourmet“ zu beschreiben. Früher wie heute lebt die Gastronomie-Branche von ihren Gästen. Essen gehen gilt – Corona zum Trotz – als eine der beliebtesten  Freizeitbeschäftigungen der Deutschen.

Verwurzelt in der Region

„In der Tradition liegt die Zukunft“ ist das Motto des „Posthotels Johannesberg“ in Lauterbach.  Im Jahr 2000 hat Rainer Dietz, der  zuvor 20 Jahre lang die Gastronomie im Schloss Eisenbach betrieb, das Traditionshaus übernommen und sich durch qualitativ hochwertige regionale Küche schnell einen guten Namen gemacht. Die Geschichte des Gebäudes reicht bis ins Jahr 1820 zurück, als es zunächst von der Familie Krömmelbein, später von der Adelsfamilie Riedesel als Brauerei genutzt wurde. Um 1900 machte die Brauerei für den städtischen Schlachthof Platz, das Stammhaus war bereits in einen Hotel- und Gaststättenbetrieb  umfunktioniert worden. In einem angegliederten Saalbau fanden Tanzveranstaltungen und Familienfeiern sowie später auch  Kinovorführungen statt.
Drei Generationen lang befand sich der Betrieb in Händen der Pächterfamilie Beilecke, bis die Riedesels ihn schließlich im Jahr 1984 an den Obst- und Gemüsehändler Karlheinz Deppert verkauften. Dieser sanierte die Gebäude von Grund  auf und verpachtete den „Johannesberg“. Dabei bewies er keine glückliche Hand, denn ein Pächter folgte dem nächsten, bis Rainer Dietz und seine Frau Gisela vor 21 Jahren das Gebäude erwarben.
Einher mit dem Kauf ging nicht nur eine weitere Sanierung,  sondern auch eine Umbenennung in „Posthotel Johannesberg“, da sich einst neben dem Haus die alte Reichspost befand und eine Kooperation mit der Posthotelkette besteht. „Unser Ziel war es von Anfang an, die Menschen in der Region stärker in unser Konzept einzubinden“, erzählt Rainer Dietz. Dabei setzte der erfahrene Gastronom auf deutsche Küche und die Verwendung heimischer  Produkte. Eine Idee, die schnell auf fruchtbaren Boden fiel. „Vor allem mit Wild- und Fischgerichten haben wir gute Erfolge erzielt“, berichtet er. Fleisch  bekommt er von einem regionalen Metzger, die Herkunft der Produkte ist auf der Speisekarte vermerkt. „Wir haben auch den Hotelbetrieb modernisiert und stärker beworben“, unterstreicht Dietz.
Prognosen für die Zukunft möchte er keine wagen. „Sicher ist nur, dass es nach der Pandemie nicht mehr so sein wird, wie es einmal war“, sagt er. Dietz rechnet damit, dass es künftig noch stärkere Auflagen in der Gastronomie geben wird, auch die Gäste  würden kritischer und sich nach den jeweiligen Hygienekonzepten erkundigen. Für diese komplexen Aufgaben würden eigentlich  noch mehr Fachkräfte benötigt. Fachkräfte, die schon heute nur schwer zu finden sind. Für das kommende Ausbildungsjahr hat der Gastronom noch keine Auszubildenden gefunden. Gern würde er einen Koch sowie eine Servicekraft einstellen.
Vor allem bei  Ersterem müsse man mit „viel Idealismus bei der Sache sein“. Den Fachkräftemangel habe sich die Gastronomie auf die eigenen  Fahnen zu schreiben. Als es einen Auszubildendenüberhang in der 1980er-Jahren gegeben habe, hätte man, um dem  demografischen Wandel vorzubeugen, stärker ausbilden sollen.
Darüber hinaus vermutet Rainer Dietz, dass es zu einem Wandel in der Gastronomie kommen wird, weg von großen Familienfeiern hin zu Treffen in Kleingruppen. Bestimmt würden auch viele  Menschen überlegen, lieber zu Hause zu feiern und sich Essen liefern zu lassen.
Auch die „Zeit der großen Speisekarten“ ist seiner Ansicht nach vorbei. „Der Trend geht zu frischen saisonalen Produkten.“ Immer mehr Gäste würden bereits jetzt im Hinblick auf  den Klimawandel empfindlich auf Produkte aus Übersee reagieren.
Immerhin: Die Nachfolge im „Posthotel Johannesberg“ scheint  gesichert. Denn neben Ehefrau Gisela arbeiten auch die Töchter Katharina Schött-Dietz und Juliane Dietz mit.

Moderne Gastronomie in historischem Gemäuer

Wo vor 100 Jahren noch Eisen geschmiedet wurde, kann man heute exzellent essen und schlafen: Das im Jahre 2012 von Bettina und Markus Leidner eröffnete Hotel und Restaurant „Heyligenstaedt“ in Gießen beeindruckt durch moderne Gastronomie und  individuell gestaltete Zimmer in altem Gemäuer. Die Industriefassade aus dem Jahr 1876 wurde mit modernem Leben gefüllt, ohne dabei die historischen Wurzeln zu vergessen. Aus den Ruinen der von Louis Heyligenstaedt und Alexander Sartorius in Gießen gegründeten Werkzeugmaschinenfabrik ist ein moderner Industriebau entstanden, der zum einen an die Vergangenheit anknüpft,   zum anderen den Gästen ein modernes Ambiente im Post-Industrie-Chic bietet.
Ursprünglich wollten die Hotelfachfrau Bettina,  geschäftsführende Gesellschafterin des Unternehmens, und der Koch Markus auf dem Gelände der ehemaligen Werkzeugfabrik nur ein kleines Weinlokal eröffnen. Doch dann lernten sie den Investor kennen und entschieden sich, ein Restaurant inklusive Hotel zu eröffnen. Bettina Leidner, die zuvor in einem Fünf-Sterne-Hotel in Los Angeles und danach sieben Jahre lang im Gießener Hotel „Tandreas“ tätig war, und ihrem Mann Markus, der zuletzt als Koch im „Anneröder Mühlchen“ arbeitete, war von Beginn an klar: Wir brauchen ein vollkommen neues Konzept! Anderthalb Jahre hat der Umbau des denkmalgeschützten Gebäudes gedauert. Auf 5.000 Quadratmetern ist ein stylisches Restaurant, unterteilt in verschiedene Räume, entstanden, das eine Reminiszenz an die ehemalige Heyligenstaedt-Fabrik darstellt. So wurde die alte Decke aufgehübscht, alte Fenster in Spiegel verwandelt und vieles  mehr. Auch die 20 liebevoll und ideenreich eingerichteten Hotelzimmer sind diesem individuellen Stil angepasst.
Bei den Speisen legt Markus Leidner großen Wert darauf, die Küche von früher neu zu interpretieren. Verwendet werden dabei ausschließlich qualitativ  hochwertige Produkte. Das Fleisch stammt aus artgerechter Haltung, der Fisch kommt ausschließlich aus Wildfang und die Eier  von „Kuhls Bio-Bauernhof“. „Die Gäste sind kritischer geworden“, weiß Bettina Leidner, deshalb sei Transparenz beim Essen heute umso wichtiger. Die  kompakte Speisekarte des Restaurants wechselt täglich, durch Corona seien noch immer nicht alle Produkte sofort verfügbar. Die Zeit der Lockdowns wurde im „Heyligenstaedt“ für Weiterentwicklung genutzt. „Unter dem Motto ‚Choose Happy‘ haben wir mit  ‚Heyco‘ eine Eigenmarke kreiert“, freut sich Bettina Leidner. Gästen wurden in dieser Zeit „To-go-Boxen“ mit kompletten Menüs, die  nach Anleitung finalisiert werden konnten, angeboten. Alle 20 Mitarbeiter sind dem Unternehmen treu geblieben, nur um neue  Aushilfen habe man sich bemühen müssen.
Entgegen dem allgemeinen Trend haben die Leidners keine Probleme, Auszubildende zu finden. „2021 hatten wir viele Bewerbungen und konnten vier Azubis für Service und Küche einstellen. Hinzu kommen zwei junge Leute, die einen dualen Studiengang an der ‚School of Culinary Management‘ absolvieren.“ Auch eine eigene Hochzeitsplanerin hat das Hotel, denn gerade Hochzeiten werden in den großzügigen Räumlichkeiten sehr häufig gefeiert. Aktuell wird im  „Heyligenstaedt“ an der 3G-Regelung festgehalten. „Essen gehen wird teurer werden“, ist sich Bettina Leidner sicher. Dafür werde es in Zukunft sicher, wie in anderen Ländern schon üblich, stärker zelebriert.
„Etwas für die Region schaffen“ möchte das Ehepaar durch die bauliche Erweiterung des Boutique-Hotels. Im Hinterhof sollen neue, größere Zimmer entstehen. „Wir können zwar große Feiern ausrichten, aber nicht alle Gäste unterbringen“, bedauert sie. Das soll sich durch den Anbau, dessen Baubeginn für 2024 geplant ist, ändern.
Herausgegeben im IHK-Wirtschaftsmagazin im März 2022
Der Video zum Thema steht in Kürze online.
Bewegt – damals wie heute
Die Kunsthistorikerin Jutta Failing
– alias Faustina Deibel, Gastwirtin in
Gießen – weiß über ihre Branche
interessante Dinge zu berichten.
Stand: 04.01.2023