„Wir sollten uns nicht auf unser Glück verlassen“

Das Jahr 2024 beginnt in Deutschland mit negativen Vorzeichen. Die Haushaltskrise beim Bund und die maue private Nachfrage könnten nach den Erwartungen führender Wirtschaftsforschungsinstitute zu einer schrumpfenden Wirtschaftsleistung in Deutschland führen. Beim traditionellen Neujahrsempfang der IHK Südlicher Oberrhein am Montag in Freiburg stellte sich IHK-Präsident Eberhard Liebherr einem aufkeimenden Pessimismus entgegen. „Ich bin kein Weltuntergangsprediger, für mich ist das Glas immer halbvoll, auch in schwierigen Zeiten, die ich als Unternehmer auch immer wieder durchmache und in mehr als 50 Berufsjahren durchgemacht habe.“
Zuvor hatte IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Dieter Salomon den festlichen Abend eröffnet und ebenfalls mit einem Appell an den Optimismus verbunden. „Ich brauche nicht zu betonen, dass die Situation für die Wirtschaft im Moment nicht einfach ist. Unser Anliegen ist es jedoch zu betonen, dass wir die Chance haben, aus eigner Kraft wieder nach vorne zu schauen“, begrüßte er die Gäste. Rund 1.400 Unternehmer:innen, Verantwortliche aus Politik und Verwaltung und dem öffentlichen Leben waren ins Freiburger Konzerthaus gekommen.
„Gemeinsame Resolution zur Fachkräftezuwanderung unterschrieben und auf den Weg gebracht“
IHK-Präsident Liebherr bekannte: „Ich bin Unternehmer wie Sie und habe die gleichen Fragezeichen in meiner Neujahrsagenda, auch mich beschleicht ein Gefühl der Unsicherheit vor dem, was uns 2024 herausfordern wird“, sagte er. Aber: „Mit Unsicherheit, Zukunftssorgen und schlechten Erwartungen treffen wir einfach andere Entscheidungen – oder, vielleicht sogar noch schlimmer, gar keine. Der Tunnelblick auf ein mögliches negatives Wirtschaftsszenario begrenzt uns und damit auch mögliche marktwirtschaftliche Ansätze und Anreize, die es auch in schwierigeren Zeiten gibt. Und Einschränkung im Denken können wir aktuell am wenigsten gebrauchen.“
Liebherr appellierte, den Gemeinschaftsgedanken am südlichen Oberrhein zu stärken. „Nur wenn wir alle an einem Strang ziehen, neben der IHK und Handwerkskammer auch die regionale Politik und Verwaltung, kann das funktionieren. Deshalb haben wir noch kurz vor Weihnachten eine gemeinsame Resolution zur Fachkräftezuwanderung unterschrieben und auf den Weg gebracht.“
Teil der starken Gemeinschaft sind auch die gelebten Verbindungen innerhalb Europas und speziell die mit dem angrenzenden Frankreich. Anlässlich der Europawahlen in diesem Jahr wird sich die IHK Südlicher Oberrhein daher in den kommenden Monaten intensiv mit dem Strategiethema „Standort“ beschäftigen. Beim Neujahrsempfang gab Liebherr den offiziellen Startschuss für die IHK-Kampagne „Gemeinsam Europa gestalten“.
Trotz des oftmals vorherrschenden Gefühls überbordender EU-Bürokratie sei Europa der Stabilitätsanker in der Welt. Liebherr: „Letztendlich tut die EU-Kommission auch ziemlich viel Positives für uns und für die Wirtschaft in einem regulierten Binnenmarkt. Wir haben einheitliche Regelungen und Gesetze, durch die Gemeinschaftswährung gibt es objektive und nachvollziehbare Verrechnungspreise und vieles mehr. Diese Errungenschaften werden als selbstverständlich wahrgenommen.” Doch: „Denken Sie nur an die geschlossenen Grenzen während der Hochphase der Corona-Zeit und die 12.500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den angrenzenden Nachbarländern, die damals eben nicht mehr so selbstverständlich die Betriebe unseres Kammerbezirks erreichen konnten.“
Nicht nur der IHK-Präsident, auch die Gastrednerin des Abends, Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schnitzer, ermutigte die anwesenden Entscheider, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. „Wir sollten uns nicht auf unser Glück verlassen. Wir können die Zukunft gestalten.“ Krisen vollständig zu verhindern, sei zwar nicht möglich. Wichtig sei es aber, sich auf Krisen wirksam vorzubereiten. Wie im Sport sei es auch in der Wirtschaft entscheidend, das Weiterkommen in die nächste Runde aktiv in der Hand zu haben, egal, wie sich der Wettbewerber verhalte.
Als Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat die Ökonomin einen genauen Blick auf die Welt der Wirtschaft und kennt die Defizite, aber auch die Stärken, aus denen die heimische Ökonomie ihre Kraft schöpfen kann. Schnitzer rief den Gästen das viel zitierte Bild Deutschlands als kranker Mann Europas ins Gedächtnis zurück. Der „Economist“ hatte im Jahr 1999 der Bundesrepublik diesen Titel verpasst und die Diagnose Ende 2023 erneut in den Raum gestellt. Schnitzer: „Ich würde sagen, das Bild trifft es nicht. Was man aber schon sagen kann: Deutschland ist der alternde Mann Europas.“ Denn die demografische Entwicklung sei die Achillesverse der Bundesrepublik.
„Wir haben viel zu viele Kinder, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen“
Zur Verdeutlichung: Nur um das Potenzial der Erwerbspersonen konstant halten zu können, müssten in jedem Jahr 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland kommen, denn 1,1 Millionen Menschen verlassen jedes Jahr die Bundesrepublik. Netto bedeutet das eine Zuwanderung von 400.000 Menschen. „Ich spreche hier von Menschen, nicht von Arbeitskräften“, betonte Schnitzer. Man müsse diese Frage trennen von der aktuellen Asyldiskussion. Das Problem: „Es gibt nur wenig gesteuerte Erwerbsmigration.“ Hier kämen auch ganz neue Aufgaben auf die Unternehmen zu: „Wie kommt eine ausländische Fachkraft in unserem Land an, wie wird sie ins soziale Leben integriert? Wenn man Menschen mit viel Aufwand nach Deutschland holt und sie dann nach eineinhalb Jahren wieder gehen, weil sie sich nicht wohlfühlen, ist nichts gewonnen.“
Auch das bestehende Potenzial innerhalb des Landes müsse besser ausgenutzt werden. „Wir haben viel zu viele Kinder, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen.“ Auch beim Thema Weiterbildung gebe es jede Menge Verbesserungsbedarf. Die kleinsten Unternehmen beteiligten sich am wenigsten an Weiterbildungen ihrer Mitarbeitenden. Und sie kümmerten sich zu wenig darum, welche Qualifikationen überhaupt benötigt würden. „Decken unsere Weiterbildungsinhalte überhaupt das ab, was wir brauchen?“ Und um ältere Beschäftigte länger im Job zu halten, sei es ebenfalls notwendig, „die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass die Menschen nicht vorzeitig in den Ruhestand gehen“.
Zum Auftakt der Kampagne „Gemeinsam Europa gestalten“ präsentierte die IHK auch einen filmischen Beitrag. Was macht Europa aus? Welchen Mehrwert bietet die Staatengemeinschaft der EU? Entscheider:innen aus Politik und Gesellschaft und Unternehmen geben darauf Antworten, unter anderem Ministerpräsident Winfried Kretschmann. In einem weiteren Beitrag kommen die Mitarbeitenden der IHK Südlicher Oberrhein zu Wort und präsentierten einen Teil des Leistungsspektrums der IHK.
Weitere Informationen zu den IHK-Themenwochen: Für die Wirtschaft