Sustainable Finance

„Der EU-Gesetzgeber muss viel stärker in den Blick nehmen, dass die Regelwerke auch in der Praxis umsetzbar sind“

Im Finanzausschuss des Bundesrates ist das Land Hessen Berichterstatter zum Thema Finanzmarktregulierung und somit auch zu Sustainable Finance. Wie kann die Realwirtschaft in der weiteren Ausgestaltung der Regulierung besser eingebunden und wie können die Belange von Industrie und Mittelstand stärker berücksichtigt werden? Darüber sprachen wir mit dem hessischen Finanzminister Michael Boddenberg.
Autorin: Veronika Heibing, 9. Juni 2022
Michael Boddenberg, hessischer Finanzminister
© Annika List
IHK: Herr Boddenberg, ganz kurz zum Einstieg: Was verbirgt sich hinter dem Schlagwort „Sustainable Finance“?
Michael Boddenberg: Sustainable Finance ist eine nachhaltige Finanzierungsform, die ökologische und soziale Standards berücksichtigt. Banken wie Unternehmen beziehen diese Überlegung zunehmend in ihre Finanzierungsentscheidungen mit ein. Und was nachhaltig ist, bestimmt in der EU künftig die Taxonomie-Verordnung, die diese Standards kategorisiert.
IHK: Auf Grundlage der EU-Taxonomie müssen große Unternehmen ihre Tätigkeiten auf ihre Nachhaltigkeit hin beurteilen und darüber in einer nicht finanziellen Erklärung berichten. Das schreibt die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) fest. Dafür benötigen sie allerdings Informationen beispielsweise ihrer Zulieferer. Damit diese die angeforderten Informationen bereitstellen können, müssen sie Daten erfassen, dokumentieren, bewerten. Sustainable Finance trifft damit maßgeblich auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die mit den Regelungen in ihrer bisher diskutierten Kleinteiligkeit überfordert sind. Halten Sie diese Regulierung für verhältnismäßig und sinnvoll?
Michael Boddenberg: Die CSRD wird die Zahl der berichtspflichtigen Unternehmen in Deutschland massiv ausweiten. Aufgrund unserer mittelständischen Strukturen sind wir viel stärker betroffen wie andere: In Deutschland werden nach Expertenschätzungen künftig cirka 30-mal so viele Unternehmen zu Nachhaltigkeitsaspekten berichten müssen als bisher – EU-weit sind es lediglich viermal so viele als bisher. Hinzu kommen die von Ihnen angesprochenen mittelbaren Auswirkungen für KMU, etwa durch Anfragen in Finanzierungsbeziehungen oder Lieferketten.
Ich habe mich im Bundesrat für mehr Augenmaß eingesetzt: Berichtspflichtige Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten sollten nach vereinfachten Regeln berichten können – so wie dies für kapitalmarktorientierte KMU bereits vorgesehen ist. Leider sehe ich auf EU-Ebene nicht, dass dies aufgegriffen wird. Ganz im Gegenteil: Hier gilt es sogar zu verhindern, dass der Anwendungsbereich noch stärker ausgeweitet wird. Der EU-Gesetzgeber muss aus meiner Sicht viel stärker in den Blick nehmen, dass die Regelwerke auch in der Praxis umsetzbar sind. Ich plädiere für wenige, dafür aber aussagekräftige Kerndaten, die die Unternehmen mit relativ geringem Aufwand ermitteln können. Der Datenaustausch sollte dann digital funktionieren.
Eines muss man aber sehen: Die schönste Proportionalität in der Regulierung nützt nichts, wenn die Großunternehmen im Wettlauf um Nachhaltigkeit Standards jenseits der gesetzlichen Vorgaben in den Lieferketten einfordern. Wenn hier von kleineren Unternehmen verlangt wird, ellenlange Fragebögen auszufüllen und zusätzliche Verpflichtungen einzugehen, kann Politik hier wenig ausrichten. Es bräuchte auch in der Wirtschaft einen Konsens: Zunächst sollte mal mit den Daten gearbeitet werden, die gesetzlich offengelegt werden müssen.
IHK: Die im Rahmen der CSRD und des Lieferkettengesetzes geforderten Informationen unterscheiden sich nur graduell, müssen aber an unterschiedliche Stellen geliefert werden. Das bedeutet zusätzlichen bürokratischen Aufwand für Betriebe. Eine zentrale Datenbank, über die Informationen unkompliziert eingetragen und abgerufen werden können, wäre eine zeitgemäße, digitale Lösung, die Betriebe entlastet.
Michael Boddenberg: Viele Informationen, die Unternehmen beispielsweise nach der Bilanzrichtlinie offenzulegen haben, sollen künftig in einem zentralen europäischen Zugangsportal – dem European Single Access Point – öffentlich abrufbar sein. Ich hege die Hoffnung, dass wir damit doppelte Anforderungen vermeiden können. Ich unterstütze die Überlegung, dass auch nicht berichtspflichtige Unternehmen dieses Medium nutzen können. So könnten diese Unternehmen versuchen, Einzelanfragen von Finanzierungs- und Geschäftspartnern zu minimieren. Im Bundesrat habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Vorgaben für derartige freiwillige Daten „maximal einfach“ ausgestaltet werden. Zudem will ich prüfen lassen, inwiefern nicht-berichtspflichtige Unternehmen die Datenhoheit behalten können. Ein Abruf dieser Daten wäre dann nicht öffentlich, sondern nur mit Zustimmung des KMU möglich. Ich weiß: Das ist im Hinblick auf Geschäftsgeheimnisse ein wichtiges Anliegen aus den Unternehmen.
IHK: Bei der Entwicklung der Taxonomie hat sich die EU-Kommission bisher auf die Beratung von Expertengruppen verlassen, in denen die Realwirtschaft praktisch nicht vertreten war. Im März hat die Bundesregierung Experten aus Finanzwirtschaft, Realwirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft nun immerhin aufgerufen, ihr Interesse an einer Mitarbeit in ihrem Sustainable-Finance-Beirat zu bekunden. Wie kann das Land dazu beitragen, dass die Belange von Industrie und Mittelstand stärker einbezogen und berücksichtigt werden?
Michael Boddenberg: Ich kann den Eindruck leider nur bestätigen: Die Stimme des Mittelstandes wird in dem Sustainable-Finance-Prozess nur unzureichend einbezogen. Ich sage aber auch: Hier haben beide Seiten einen Job zu erledigen. Die Unternehmen müssen bereit sein, ihre Ressourcen zu bündeln und Personen zu identifizieren, die in den Sustainable-Finance-Strukturen gezielt mitarbeiten und kontinuierlich die Belange des Mittelstands einbringen. Nur mit einem derart aktiven Angang wird man etwas erreichen können. Andererseits muss Politik aber auch die passenden Strukturen schaffen. Ich hoffe, dass die künftige Besetzung des Sustainable-Finance-Beirats der Bundesregierung dem besser als bisher Rechnung trägt.
Weitere entscheidende Schnittstelle für den Mittelstand wird die European Financial Reporting Advisory Group – kurz EFRAG – sein. Die EFRAG wird die Berichterstattungsstandards für die EU entwerfen. Auch diese stellt sich für diese neue Aufgabe derzeit mit Expertengremien personell auf.
IHK: Der Finanzplatz Frankfurt hat sich im Rennen um den Sitz des International Sustainability Standards Board (ISSB) durchgesetzt. Das Gremium soll grundlegende Standards für die globale Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen erarbeiten. Hessische Unternehmen sollen von diesen Standards sowie der höheren Transparenz und besseren Vergleichbarkeit profitieren. Können Sie das kurz erläutern?
Michael Boddenberg: Ich bin dankbar und stolz, dass es uns gelungen ist, den Schlüsselstandort des ISSB nach Frankfurt zu holen. Mein herzlicher Dank gilt insbesondere den zahlreichen Unterstützern der Ansiedlungsbemühungen aus der Privatwirtschaft – auch aus der IHK-Organisation heraus. Unser Erfolg beruhte vor allem darauf, dass alle öffentlichen Ebenen – das heißt Bund, Land und die Kommunen Frankfurt und Eschborn – und nahezu die gesamte deutsche Wirtschaft mit einer geschlossenen Teamleistung aufgetreten sind und sich um das ISSB bemüht haben. Das ist wirklich beispielgebend für künftige Standortinitiativen.
Das ISSB als neues Standbein der IFRS-Stiftung – bekannt durch die gleichnamigen Rechnungslegungsstandards – hat die Aufgabe, globale Basisstandards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung zu entwickeln. Dass sich das ISSB dieser Herausforderung annimmt, wird auch von den G20-Staaten begrüßt. Der Mehrwert für unsere Unternehmen liegt auf der Hand: Unsere Betriebe sind oftmals exportorientiert beziehungsweise in internationale Lieferketten eingebunden. Sollte sich ein Wirrwarr von Standards in den einzelnen Absatz- und Zuliefermärkten entwickeln, wäre dies für die Unternehmen ein Super-GAU. Sie kämen aus der Zusammenstellung von Nachhaltigkeitsdaten nach unterschiedlichen Kriterien und Maßstäben gar nicht mehr heraus. Sollte es dem ISSB aber gelingen, eine globale Basis für die Berichte zu etablieren, würden die einzelnen Vorgaben, etwa auf EU-Ebene oder in den USA, passgenau darauf aufsetzen können. Unternehmen bräuchten dann „nur noch“ die individuellen Informationen zusätzlich beachten. Das heißt, wir sollten das ISSB in seiner Arbeit mit allen Kräften unterstützen.
IHK: Eine Transformation braucht Zeit und sollte alle Unternehmen vom Soloselbstständigen bis zum börsennotierten Unternehmen mitnehmen. Auf diesem Weg darf aus Sicht der IHK die Finanzierung und Förderung der Wirtschaft keinesfalls eingeschränkt werden. Es ist jedoch zu erwarten, dass Unternehmen künftig von schlechteren Finanzkonditionen betroffen sind, allein weil ihre Branchenzugehörigkeit in der EU-Taxonomie als nicht nachhaltig eingestuft wird. Das träfe dann auch die, die gerade mit dem Veränderungsprozess begonnen haben oder sich in der Transformation befinden. Wie können finanzielle Kanäle für alle offen gehalten werden, um ökologischen Wandel zu ermöglichen?
Michael Boddenberg: Zur Wahrheit gehört: Unternehmen, deren Geschäftsmodelle sich nicht transformieren lassen oder die sich nicht nachhaltig entwickeln wollen, werden zunehmend Schwierigkeiten beim Finanzierungszugang bekommen. Allein eine Branchenzugehörigkeit darf aber hierüber nicht entscheiden. Dann würden wir nämlich gerade dort Chancen vergeben, wo etwa große Potenziale für mehr Klimaschutz liegen. Ich sehe uns in Deutschland aber vergleichsweise in einer guten Ausgangslage. Unser Drei-Säulen-Modell in der Kreditwirtschaft – bestehend aus Privatbanken, genossenschaftlichen Instituten und Sparkassen – passt gut zu unserer differenzierten Wirtschaft. Unsere Banken sind daher nah dran an ihren Kunden und deren Geschäftsmodellen. Hierin liegt eine Chance für eine partnerschaftliche Begleitung der Unternehmen auf ihrem Transformationspfad. Ein systemisches Versagen, also eine Finanzierungsklemme, sehe ich derzeit nicht.
„Finanzielle Kanäle für alle Unternehmen offen halten“

Ein Kommentar von Matthias Martiné, Präsident der IHK Darmstadt, zum Interview mit dem hessischen Finanzminister Michael Boddenberg und den Auswirkungen von Sustainable Finance auf kleine und mittlere Unternehmen.


Martin Proba
Geschäftsbereichsleiter
Bereich: Unternehmen und Standort
Bereich: Unternehmen und Standort
Themen: Umwelt- und Energieberatung, Umwelt- und Energiepolitik