Unter Künstlicher Intelligenz versteht man im Wesentlichen (Informations-) Systeme, die teilweise oder ganz autonom agieren und lernfähig sind. KI-Systeme sind darauf ausgelegt, Daten zu analysieren, Muster zu erkennen, Probleme zu lösen, Entscheidungen zu treffen. Sie übernehmen schon heute Aufgaben, die traditionell menschlicher Intelligenz vorbehalten waren, sich aber komplett automatisieren lassen. KI ist bereits in vielen Bereichen des Lebens präsent, in Suchmaschinen und in den sozialen Medien, in der medizinischen Diagnostik und in selbstfahrenden Autos. Auch bei der Automatisierung industrieller Produktionsprozesse spielt die KI inzwischen eine wesentliche Rolle. Zum Einsatz kommt KI längst auch in Verwaltung und Management, im Finanzwesen wie in der Versicherungsbranche, in Vertrieb und Vermarktung, in der Logistik oder im Einkauf.
Superintelligenz in Sicht?
Auf Basis möglichst vieler Daten, sozusagen die Nahrungsgrundlage einer KI, helfen die Algorithmen, den Wartungsbedarf von Maschinen vorauszuahnen, die Risiken von Anlagen und Investments zu bewerten oder die Wahrscheinlichkeit eines Versicherungsfalls zu bestimmen. Und schließlich setzen viele Unternehmen längst auf KI gestützte Chatbots, um an den verschiedenen Touchpoints die Kundenerlebnisse immer mehr zu personalisieren. Die tatsächliche Nachbildung menschlichen Verhaltens ist – Stand heute – zwar noch eine Zukunftsvision, aber sie ist schon in Sicht, eine Art Superintelligenz: generative KI (GenAI) oder Artificial General Intelligence (AGI).
Digitalisierungstreiber gut auf KI eingestellt
Unternehmen, die früh in die Digitalisierung investiert haben, sind grundsätzlich besser aufgestellt, um KI zu adoptieren und zu implementieren, als solche, die in ihrer Agenda noch hinterherhinken oder sie gar vor sich herschieben. Es sind vor allem die großen Unternehmen und Konzerne, die die digitale Transformation mit personellen Ressourcen und großen Budgets forsch vorantreiben. Doch auch kleinere und mittlere Unternehmen sollten sich mit KI beschäftigen und mit Mut erste Projekte angehen, befindet Mladjan Radic. Um sie dabei zu unterstützen, hat der promovierte Mathematiker im März 2023 gemeinsam mit seiner Kollegin Katrin Lotto die Firma PlatinPie mit Sitz in Oberteuringen gegründet. Die beiden haben sich über ihre Arbeit als Software- Ingenieure bei einem Global Player kennengelernt, wo sie sich unter anderem mit KI gestützten Fahrassistenzsystemen und autonomem Fahren auseinandergesetzt, die Systeme weiterentwickelt und an der mobilen Zukunft mitgearbeitet haben.
KI ist Spiel der Wahrscheinlichkeiten
Mit ihrem Berater-Startup PlatinPie haben sie sich zum Ziel gesetzt, ihr Wissen und ihre Erfahrung zur Mehrwertgenerierung zu nutzen, um „unseren Kunden Werkzeuge an die Hand zu geben, die es ihnen ermöglichen, komplexe Entscheidungen strategisch zu treffen“, erklärt Radic. Das Werkzeug KI beispielsweise biete auch für Handwerksbetriebe, für Dienstleister, Gewerbe und Industrie verschiedenster Branchen enormes Potenzial. Jedes Unternehmen verfüge auch heute schon über große Mengen unterschiedlicher Daten, die Voraussetzung zur KI-Anwendung sind. Beispielsweise von Sensoren in den Maschinen, Kundeninformationen, Daten aus Logistik und Produktionsplanung oder auch aus der Qualitätsprüfung. „Die KI vermag Muster und Anomalien zu erkennen, komplexe Beziehungen wirtschaftlicher Kennziffern zu entschlüsseln und so wichtige Entscheidungen abzusichern“, erläutert KI-Experte Radic. Sie hilft, Ressourcen effizienter einzusetzen, strategische Investitionen zu planen und Risiken zu minimieren – zum Beispiel in Form von intelligentem, günstigem und nachhaltigem Einkauf von Materialien, etwa Mehl für den Bäckerbetrieb oder Aluminium für die Gießerei. Und so echten Mehrwert zu generieren. „Ganz konkret geht es bei KI um die präzise mathematische Formulierung wie man beispielsweise Ähnlichkeit misst oder die Aussagegüte bewertet“, ergänzt Katrin Lotto, Mathematikerin wie Radic. „Nur so kann die KI verlässliche Entscheidungshilfen liefern und zum bestmöglichen Einsatz kommen.“ In der Textilindustrie etwa helfe die KI abzuschätzen, welcher Trend sich auf dem Markt entwickeln wird. Sie versuche, mit Hilfe von vorausschauender Werbe- und Produktplatzierung und taktischen Rabattaktionen das Risiko eines zu hohen Lagerbestands zu minimieren. Am Ende sei „alles ein Spiel der Wahrscheinlichkeiten, das gewonnen werden will“, sagt Radic.
“Wir unterstützen Unternehmen dabei, ihre KI-Potenziale für Produkte, Services und Prozesse zu erschließen.”
- Markus Urner
Transferzentrum für KI-Anwendungen
Weniger für Mathematik, eher für praxisnahes Hands-on steht die Lernfabrik des Instituts für Wirtschaft und Technik (IWT). Das IWT betreibt im RITZ im Fallenbrunnen in Friedrichshafen ein Lern- und Demonstrationszentrum für Produktion und produktionsnahe Anwendungsfelder rund um das Thema Industrie 4.0. Eine Smart Factory, in der verschiedenste Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Bereich der digitalisierten Produktion durchgespielt werden können. Was steckt dahinter? „Wir verstehen uns als eine Art Transferzentrum“, erläutert Markus Urner, Geschäftsführer des IWTs. „Wir unterstützen vor allem kleine und mittlere Unternehmen dabei, ihre KI Potenziale für Produkte, Services und Prozesse zu erschließen.“ Das Ziel: ganz konkrete, praktische Anwendungen abzuleiten und prototypisch zu entwickeln. Am Anfang stehe immer eine Idee, ein Problem, eine Herausforderung. Dabei gehe es meist darum, Abläufe effizienter zu gestalten, die Fehlerquote zu senken, Kosten zu sparen. „Damit kommen die Unternehmen zu uns, und wir setzen uns zusammen und überlegen gemeinsam, was wir etwa im Rahmen eines kooperativen Forschungsprojekts machen können“, so Urner.
Mission 0-Fehler-Qualität
Markus Urner steht inmitten verschiedener Aufbauten und Vorrichtungen, alles wirkt sehr experimentell, eine beeindruckende Spielwiese für große Jungs und Mädchen mit viel Digital- Know-how. Der Ingenieur zeigt auf einen großen Aufbau aus Alunormprofilen mit Arbeitsfläche, Montagevorrichtung, blauen Kunststoffboxen, einem Monitor. „Wir haben uns zum Beispiel überlegt, wie KI einen Werker bei Montagearbeiten unterstützen kann. Herausgekommen ist dieses Werkerassistenzsystem“, erklärt er. Dabei wird der Mitarbeiter visuell durch den Montageprozess geführt. Die Bilder liefern drei Kameras über dem Arbeitsplatz, die auf die Boxen mit den Bauteilen, die Montagevorrichtung und die Hände des Werkers ausgerichtet sind. Bei jedem Arbeitsschritt prüft das System, ob der Werker jeweils das richtige Bauteil entnommen und korrekt montiert hat. Wenn ja, folgt der nächste Arbeitsschritt, das nächste Bauteil und so weiter. „Dieses System hier ist zwar nur ein Prototyp“, sagt Urner, „aber unsere Kooperationspartner können das jetzt tatsächlich so in ihren Betrieben umsetzen.“ Denn auch ein ungeübter Werker findet sich auf diese Weise viel schneller in einen Montagevorgang hinein; das System erklärt sich von selbst, die Einarbeitung entfällt de facto, der Ablauf ist flüssiger, Fehler sind nahezu ausgeschlossen. Mission erfüllt.
KI im Teameinsatz
KI findet aber auch abseits industrieller Geschäfts- und Fertigungsprozesse statt, in Bereichen, wo man sie eher nicht vermuten würde. Zum Beispiel in einem christlichen Kinderbuchverlag. Wie passt das zusammen? Marcus Witzig lacht. „Ja, wir Menschen fangen langsam an, Gott zu spielen.“ Witzig hat zwar Theologie studiert und wirkt heute noch als Teilzeit-Pastor auf der Schwäbischen Alb. Doch er ist auch Naturwissenschaftler, genauer: Mathematiker und Chemiker. Für ihn ist das also kein Widerspruch, vielmehr sieht er das ganz pragmatisch: „KI ist ein tolles Tool, das uns dabei unterstützt, Dinge zu schaffen, für die man sonst ein richtig großes Team braucht.“ Zum Beispiel dabei, Geschichten und Illustrationen zu entwickeln, mit denen Witzig Kindern zwischen 18 Monaten und etwa zehn Jahren die Bibel und ihre Verse näherbringen will. „Wir nutzen KI aber nur, um uns beim Brainstorming inspirieren zu lassen, Ideen und Storyboards zu entwickeln“, stellt Witzig klar. Die eigentliche kreative Leistung, also die Texte, Bilder, stammten von Autoren und Zeichnern aus Fleisch und Blut. Noch.
Bibelgeschichten in der Open World
Marcus Witzig gründete seinen Kondoo-Verlag in Altheim (Alb) 2018, ein Jahr später kam das erste Buch auf den Markt. Im Programm hat Kondoo auch sogenannte BOOKii-Bücher samt Hörstift. So können die Kinder die historischen Bibelgeschichten etwa mit Geräuschen, Sprache und Liedern spielerisch audiovisuell erleben. Bei einem Investoren-Meeting entstand einst die Idee, die Bücher als App weiterzuentwickeln, doch als Witzig vor etwa drei Jahren einen KI-Spezialisten kennenlernte, war schnell klar, dass man noch einen großen Schritt weiter gehen will: Derzeit entsteht mithilfe modernster KI-Technologie ein sogenanntes Open-World-Spiel. Eine virtuelle Welt, in der die Spieler in die Rolle fiktiver Charaktere schlüpfen, sich völlig frei, also ohne vorgegebene Handlung, im Spiel bewegen und so die Bibelgeschichten interaktiv und in 3D erleben können. Abenteuer 4.0, freilich absolut gewaltfrei, in atemberaubender „Avatar-Qualität“, wie Kondoo-Chef Witzig begeistert versichert. Im Herbst, so der Plan, soll das Spiel im Netz verfügbar sein.
KI hilft kieferorthopädische Behandlungsprozesse zu optimieren
Seine ganz spezielle KI-Nische gefunden hat auch Marc Geserick, Zahnarzt und Kieferorthopäde mit eigener Praxis in Ulm. Geserick hat schon lange ein Faible für Technik und ist eng mit der Dentalindustrie verbunden. Seit Jahren schon testet er nebenbei neue Produkte, bevor sie auf den Markt kommen, kritisiert, formuliert Verbesserungsvorschläge. Und hilft mit Ideen und Input, seinem Wissen und seiner Erfahrung aus der Praxis, innovative Behandlungsansätze, Lösungen und Produkte zu entwickeln. Vor eineinhalb Jahren hat er gemeinsam mit seiner Frau Jeannine Schüller, einer erfahrenen Unternehmerin, außerdem sein eigenes Business gegründet. Die Smyl Group mit Sitz in Ulm entwickelt in Zusammenarbeit mit Zahnärzten, Datenwissenschaftlern, anderen Kieferorthopäden sowie Software-Entwicklern und Programmierern verschiedene KI-basierte Services, Werkzeuge und Methodiken, die, vereinfacht ausgedrückt, darauf abzielen, kieferorthopädische Behandlungsprozesse zu optimieren.
KI-Tool unterstützt Kieferorthopäden
Manche Methoden sind noch im Erprobungsstadium, andere bereits ausgereift. Smyl:code beispielsweise ist ein selbstentwickeltes KI-Tool, das sowohl die Arbeit des Kieferorthopäden unterstützt, etwa in der Behandlungsplanung, als auch die Hersteller sogenannter Aligner – diese hauchdünnen, transparenten Kunststoffschienen, die Menschen zu einem formschönen, perfekten Gebiss verhelfen sollen. Wie funktioniert Smyl:code? Die eigentliche kieferorthopädische Behandlung beginnt damit, per 3D Scan die Ist- Position der Zähne zu dokumentieren. Auf Basis der CAD-Daten entwickelt ein Kieferorthopäde zunächst einen Behandlungsplan, der die Transformation vom Ist- zum Soll-Zustand der Zahnreihen abbildet. Diese Transformation ist ein sukzessiver Prozess über eine ganze Reihe von Zwischenstadien hinweg.
“Wir nutzen KI, um uns beim Brainstorming inspirieren zu lassen, Ideen und Storyboards zu entwickeln.”
- Marcus Witzig
“Unser KI-Werkzeug ist für uns eine kleine technische Revolution zum Wohle der Patienten.”
- Marc Geserick
Aufwand für Nachbearbeitung sinkt
Das Problem: „Mit herkömmlichen Verfahren können die Zähne lediglich als ein homogener Zahnkörper dargestellt werden, also je ein Bogen für Ober- und Unterkiefer“, erklärt Facharzt Geserick. „Mithilfe der KI können wir in dem 3D-Scan nun jeden einzelnen Zahn separieren und in der Simulation exakt in die Position bringen, die er später einmal einnehmen soll.“ Auch die Metamorphose vom Istzum Soll-Zustand könne die KI präzise berechnen. Und mit den Daten, die die Hersteller nun bekommen, können sie die Aligner schneller und in höherer Qualität liefern. Der Aufwand für die Nachbearbeitung von CAD-Grafiken und Alignments sinkt damit um bis zu 50 Prozent. „Mit Smyl:code haben wir ein KI-Werkzeug entwickelt, mit dem wir etablierte kieferorthopädische Behandlungsprozesse optimieren und eine bis dato am Markt nicht gekannte Präzision und Qualität erreichen“, resümiert Marc Geserick selbstbewusst. „Für uns ist das eine kleine technische Revolution zum Wohle der Patienten.“
KI eröffnet völlig neue Möglichkeiten
Es ist abzusehen: Künftig wird KI immer weiter und tiefer in Geschäftsprozesse eingreifen und den Automatisierungsgrad in Unternehmen erhöhen. Die technologische Entwicklung wird die KI-gestützte Entscheidungsfindung voranbringen. Und verbesserte Algorithmen für maschinelles Lernen sowie Quantencomputing werden völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Willkommen in der Zukunft.
René Kius lebt und arbeitet als freier Journalist in Ravensburg