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"Die Stadt sind wir alle"
Eine Stadt ist so vielfältig wie ihre Bevölkerung. Damit sich diese Vielfalt auch dauerhaft in innerstädtischen Angeboten wiederfindet, ist ein gemeinsames Management der Angebote in der Innenstadt unerlässlich. In Neumünster ist Markus Metzler Leerstandsmanager der Wirtschaftsagentur Neumünster GmbH und widmet sich dieser Transformationsaufgabe. Im Interview spricht er über den aktuellen Leerstand, neue Herausforderungen und tradierte Vorstellungen, Klimaresilienz und zukunftsgerichtete Entscheidungen.
© Wirtschaftsagentur Neumünster GmbH
Herr Metzler, bitte geben Sie einen Überblick über die aktuelle Situation der Leerstände in Neumünster. Wie hat sich die Situation in den letzten Jahren entwickelt?
Stand heute zähle ich etwa 45 Leerstände im Kernbereich unserer Innenstadt. Das ist der Bereich zwischen Hauptbahnhof, Altem Rathaus und den großen innerstädtischen Veranstaltungsorten Klein- und Großflecken inklusive Nebenstraße, also einer Fläche von etwas mehr als 700.000 Quadratmetern. Das sind ungefähr 100 Fußballfelder. Natürlich werden davon längst nicht alle Gebäude gewerblich genutzt. Nach wie vor konzentrieren sich in unseren Innenstädten neben dem Gewerbe vor allem öffentliche Einrichtungen, Sozialeinrichtungen, religiös genutzte Flächen und auch das Wohnen – immerhin knapp ein Viertel der Bevölkerung lebt im Zentrum von Neumünster.
Ich sage oft: Die Leerstände unserer Stadt sind zwar wahrnehmbar, aber nicht dramatischer als in einer anderen Stadt vergleichbarer Größe – wobei beispielsweise studentisch geprägte Orte in der Tendenz geringere Leerstandsquoten aufweisen. Zahlen zu Leerständen erhebe ich seit Anfang 2023, dort startete das Leerstandsmanagement als Baustein des sogenannten Innenstadtprogramms, einem Förderprogramm zur Innenstadtentwicklung und der Stadt- und Ortszentren des Landes für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung (MILIG) des Landes Schleswig-Holstein. Zur Entwicklung fehlen mir die Zahlen aus 2023, ebenso die häufig herangezogenen Leerstandsquoten, die leerstehende Gewerbeflächen ins Verhältnis zur insgesamt verfügbaren Gewerbefläche setzen. Um die Frage dennoch zu beantworten: Gefühlt hat sich die Lage für den Handel, das Gastgewerbe und alle anderen Gewerbetreibenden in unserer Innenstadt zumindest in den letzten Jahren nicht merklich verbessert.
Vor welchen Herausforderungen steht die Stadt denn?
Vor allem Immobilieneigentümer und -eigentümerinnen, aber auch Stadtplaner und Stadtentwicklerinnen müssen damit umgehen, dass die goldenen Jahre blühenden Einzelhandels und rappelvoller Fußgängerzonen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht – oder zumindest nicht in der uns bekannten und betrauerten Form – zurückkehren werden.
Aktuell scheint es so, als würden sich viele Maßnahmen immer noch am tradierten Konzept einer Innenstadt orientieren, die vornehmlich Konsumfunktionen bedient. Viele Indikatoren der Immobilienwirtschaft und Ansiedlungsparameter der Expansionsabteilungen von Einzelhandelsketten sind genau darauf ausgerichtet: Miet- und Kaufpreise, erwartbare Renditen, Passantenfrequenzen parametrisieren den kommerziellen Wert von Objektlagen und Filialstandorten. Diese Zahlen, aber auch die Erwartungen der Menschen an ihre Innenstadt haben sich jedoch signifikant verändert. Diese Erkenntnis führt zu einer Neuinterpretation unserer Städte, die abrückt von der Idee einer „Stadt als Marktplatz“. Die rechtliche, bauliche, ökonomische, politische und auch mentale Anpassung an diese neue Situation benötigt Zeit. Vielleicht sind wir gerade in einer Umbruchphase, in der das Alte noch sichtbar ist, sich das Neue aber schon ankündigt. In dieser Phase stellt man Investitionen in eine sanierungsbedürftige Gebäudesubstanz in bestimmten Lagen eher zurück und wartet ab.
Das Management leerer Flächen ist demnach deutlich mehr als das Suchen von Nachmietern für eine Fläche?
Absolut. Leerstandsmanagement hat viele Berührungspunkte mit der Stadtplanung und -entwicklung, denn die gegenwärtige Ausgestaltung unserer Innenstädte ist nicht vom Himmel gefallen und nur zum Teil im geänderten Konsum- und Freizeitverhalten der Menschen begründet. Uns leitet die gemeinsame Vorstellung , Innenstädte zu gestalten, die einen echten Nutzwert für ihre Menschen aufweisen können – und zwar möglichst unabhängig vom Einkommen, Alter, kulturellem Hintergrund und dem Mobilitätsgrad.
Neumünster
© fabianfruehling
Welche Themen fließen vor diesem Hintergrund noch in die Stadtplanung ein?
Klimaresilienz ist ein sehr aktuelles Thema, das vielerorts diskutiert und auch schon angegangen wird. Und natürlich hat die Gefahr von wetter- und klimabedingten Schäden auch Einfluss auf die Bereitschaft, in Gebäude, Unternehmen und Strukturen zu investieren. Kurz gesprochen geht es hierbei darum, städtische Räume so zu gestalten, dass vor allem Extremwetterereignisse besser abgefangen werden können, indem unter anderem Flächen entsiegelt werden und deren Schwammfunktion wiederhergestellt werden kann – um bei Starkregen Wasser zu binden und Kanalisationssysteme zu entlasten. Aber auch, um an besonders heißen Tagen Feuchte abzugeben und so der Hitze kühlend entgegenzuwirken. Auch solchen Herausforderungen müssen wir uns in Neumünster besser heute als morgen stellen.
Das ist natürlich keine Aufgabenstellung des Leerstandsmanagements, beeinflusst aber dessen Erfolgsaussichten direkt. Durch extreme Wetterbedingungen im Sommer werden Innenstädte besonders für ältere Menschen oder Personen mit gesundheitlichen Problemen schwer nutzbar. Zusätzlich zum verändertem Konsumverhalten, dem scheinbaren Parkplatzmangel und Sicherheitsbedenken stellt dies eine weitere Herausforderung dar, die durch bauliche und stadtplanerische Maßnahmen angegangen werden muss. Die zuständigen Planerinnen und Planer haben das zum Glück erkannt und denken den Innenstadtwandel auch von dieser bislang eher nicht so akut zu gestaltenden Seite mit.
Haben Sie eine Idealvorstellung für ein gut geplantes, gesellschaftsorientiertes Neumünster?
Das Neumünster von morgen sollte neben genannten Punkten versuchen, Menschen in seinem Zentrum zusammenzubringen – und das nicht nur im Rahmen von Veranstaltungen. Die sind richtig und wichtig, können aber nicht jeden Tag stattfinden. Die Aufenthaltsqualität unserer Innenstadt ist abseits von Wochenmärkten und unseren Kösten eher überschaubar, denn unsere Städte sind heute noch so konzipiert, dass wir mit dem Auto vor unseren Ladenzeilen parken, ein paar Dinge kaufen, vielleicht einen Kaffee trinken und dann wieder verschwinden. In den letzten Jahrzehnten war das Verweilen in der Innenstadt, ohne dabei zwangsläufig zu konsumieren, also bestenfalls ein untergeordnetes stadtplanerisches Ziel.
Sicherheit ist natürlich wichtig, wenn wir wollen, dass viele verschiedene Menschen die Innenstadt als lebenswert und besuchenswert empfinden. Unabhängig davon, ob die Innenstadt wirklich gefährlicher ist als andere Orte, haben viele Menschen Angst vor Kriminalität dort. Besonders problematisch ist das für das Gewerbe, denn auch kaufkräftige Menschen machen sich Sorgen und meiden deshalb die Innenstadt. Diese Menschen haben das Geld, um in Geschäften, Restaurants und bei Dienstleistern Geld auszugeben, bleiben aber fern.
Das für Innenstädte typische Treiben lebt von der Anwesenheit verschiedener Bevölkerungsgruppen, der Handel tut es erst recht. Wer die Innenstadt aus mitunter auch nachvollziehbaren Gründen meidet, trägt zumindest nicht zur sozialen Stabilisierung bei. So pathetisch das jetzt klingen mag, aber „die Stadt“, das sind wir alle. Hübsch dekorierte Schaufenster und belebte Fußgängerzonen zu fordern, während man selbst überwiegend online einkauft oder aus Furcht die Zentren meidet, funktioniert natürlich nicht. Am Ende muss die Stadt für alle also versuchen, unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichsten Ansprüchen gerecht zu werden, aber auch zukunftsfähig sein – sozial, verkehrlich, klimatisch. Das ist so anspruchsvoll wie unausweichlich.
Welche Strategien und Maßnahmen ergreift die Stadt Neumünster, um Leerstände in der Innenstadt und angrenzenden Gebieten zu reduzieren?
Die Stadt hat im Rahmen des Förderprogramms mehrere Maßnahmen identifiziert, um die Attraktivität der Innenstadt kurzfristig und spürbar zu steigern. Dazu gehören sonnenexponierte, begrünte und barrierearme Sitzgelegenheiten, Konzerte, Thementage und Sportevents. Außerdem werden Leerstände angemietet, wie beispielsweise bei unserem Pop-up-Store, in dem lokale oder regionale Kunsthandwerker, Künstler, Produzenten und Dienstleister niedrigschwellig ihre Arbeit präsentieren und verkaufen können.
Die attraktive Gestaltung der Umgebung von Geschäften geht das Problem also indirekt an, indem Menschen dazu eingeladen werden, sich dort mit der Familie, Freunden oder Arbeitskollegen zu treffen. Ich denke, dies stellt im Kleinen genau den Weg dar, den wir einschlagen müssen: Wir schaffen eine Umgebung, die unabhängig vom Einzelhandelsangebot funktioniert.
Der Pop-up-Store hingegen hat auch eine exemplarische Funktion. Wir zeigen hier, dass mit der richtigen Rezeptur aus einer passenden Immobilie, experimentierfreudigen Objekteigentümern, einer lokal gut vernetzten Betreiberin wie in unserem Fall dem Lebenshilfewerk Neumünster, guter Zusammenarbeit mit den kommunalen Fachbereichen, finanzieller Unterstützung durch die Stadt und der Vermittlung und Organisation dieser Interessen durch das Leerstandsmanagement, etwas Tolles erwachsen kann. Wir haben hier nicht umsonst eine Fläche angemietet, die zehn Jahre leer stand. Mein Wunsch ist, dass wir mit diesem Vorgehen andere Akteure der Stadt inspirieren, ungewöhnliche Kooperationen einzugehen und Experimente zu wagen.
Welche Erfolge konnten Sie bisher noch erzielen?
Der genannte Pop-up-Store ist so ein Leuchtturm, den wir am Kleinflecken errichten konnten. Darüber hinaus ist es uns gelungen, mehrere Einzelhändler bei Nachfolgeregelungen ihres Geschäfts zu unterstützen, baurechtlich zu beraten und damit die Ladeneröffnung im Austausch mit den Behörden positiv zu begleiten. Die Prävention zusätzlicher Leerstände ist also auch immer ein Thema, denn aller Unkenrufe zum Trotz gibt es noch zahlreiche Gewerbetreibende, die jeden Tag ihre Türen öffnen und oft keinen Nachfolger für ihr Geschäft finden – und das sind nicht immer wirtschaftliche Gründe. Die Gefahr einer anhaltenden Talfahrt ist also durchaus präsent und realistisch. Wir haben aber auch für den Verbleib eines Dienstleisters in der Innenstadt gesorgt, der seinen Standort wegen größerer Umbaumaßnahmen verlassen musste und einem weiteren Akteur aus der Jugendarbeit dabei geholfen, die richtige Fläche im Zentrum unserer Stadt zu finden. Als Zwischennutzung konnten wir eine Kunstausstellung in einen sehr prominent gelegenen Leerstand bringen. Außerdem wurden zwei abrissreife Gebäude neuen Käuferinnen zugeführt und damit zwei spannende Neubauprojekte initiiert, die perspektivisch neue Impulse für unsere Stadt versprechen.
Gibt es spezifische Programme, die darauf abzielen, Leerstände zu revitalisieren oder umzunutzen?
Neben dem genannten Baustein der Leerstandsanmietung durch die Stadt selbst, gibt es zwei weitere Programme: Der Verfügungsfond stellt Privatpersonen, Vereinen, Institutionen, Initiativen oder auch Gewerbetreibenden bis zu 5.000 Euro zur Verfügung, um die Innenstadt zu beleben und Leerstände zu reduzieren. Die „Urbanen Interventionen“ sind im Sommer dieses Jahres in vollem Gang und bezeichnen große sichtbare Aktionen im Stadtraum, die gern ungewöhnlich sein und neugierig machen sollen, um so die Innenstadt auch ein wenig zum „Erlebnisort“ zu machen, was gerade als Alleinstellungsmerkmal physisch existenter Orte wie unserer Innenstadt als großer Vorteil gegenüber der digitalen Konkurrenz durch Onlinewarenhäuser gebetsmühlenartig gefordert wird. Diese Aktionen werden sogar mit bis zu 40.000 Euro gefördert, damit kann man also schon durchaus etwas Großes auf die Beine stellen, wie das Fleckenretter-Konzert, das Beachvolleyballturnier, den Tag der Kinderrechte und die Kunstaktion Diagonale.
Wie arbeiten Sie mit ansässigen Unternehmen zusammen, um Leerstände effektiv anzugehen?
Zu ansässigen Unternehmen pflegen wir als kommunale Wirtschaftsförderung ohnehin einen guten und kurzen Draht. Bezogen auf das Leerstandsmanagement sind größere Unternehmen mit typischer Büronutzung interessante Akteure für mich, weil sie als Frequenzbringer in Innenstadtlage wirken können. Bei Klein- und mittelständischen Betrieben zeigt sich der Trend, raus aus den Gewerbe- und Industriegebieten in die Innenstadt zu ziehen. Gründe dafür ist der in der Regel bessere Anschluss an öffentliche Verkehrssysteme, was in Zeiten des Fachkräftemangels noch an Bedeutung gewinnt, weil Unternehmen dazu gezwungen sind, geographisch ausgedehnter zu recruiten. Gerade Neumünsteraner Unternehmen, die beispielsweise Fachkräfte aus dem Hamburger Raum ansprechen möchten, setzen zunehmend auf eine gute Bahn- und Busanbindung – da ist jedes Zentrum nach wie vor unschlagbar im Wettbewerb der Standortfaktoren.
Ein Blick in die Zukunft: Wie sieht Neumünster aus?
Ich glaube, dass wir uns ernsthaft von unseren gewohnten Denkmustern lösen müssen, wenn wir so etwas wie eine neue Vision für unsere Stadt entwickeln möchten. Ich habe mich immer wieder mit unterschiedlichen Gruppen unterhalten, zum Beispiel der Seniorenvertretung oder aktuell dem Jugendbeirat. Alle sehen eine Zukunft für die Innenstadt, jedoch mit eigenen Schwerpunkten. Es muss uns gelingen, diese unterschiedlichen Wünsche repräsentativ in unsere Stadt einzubinden. Dafür sollten wir in Erfahrung bringen, welche Aktivitäten die Neumünsteraner und Neumünsteranerinnen in ihrer Stadt bevorzugen. Anderseits ist der Dialog mit Immobilieneigentümern zu intensivieren. Wir müssen besser verstehen, welche – auch finanziellen – Unterstützungen sie für die Modernisierung ihrer Gebäude benötigen. Wenn wir uns die Stärken und Schwächen der Innenstadt bewusst machen und diese konsequent in unserer Arbeit mitdenken, werden wir die Innenstadt zu einem neuen Treffpunkt machen.
Vor diesen Herausforderungen stehen auch unsere Nachbarstädte. Hier können wir noch mehr in den Austausch treten und voneinander lernen, da wo es sinnvoll ist, kooperieren sowie unser Wissen und unsere Anstrengungen bündeln. Einzelhandel und Gastronomie werden wichtige Funktionen eines Ortszentrums bleiben, auch in Neumünster. Wahrscheinlich in anderer, erlebnisorientierter und individueller Ausprägung. Die Fakten müssen für die Innenstadt sprechen und möglichst digital sichtbar sein, denn da informieren sich die Konsumenten und Bürgerinnen von morgen bereits heute.
Und was wünschen Sie sich persönlich?
Das Förderprogramm endet am 31. Dezember 2024 und damit auch das Leerstandsmanagement in Neumünster. Wie sich die Situation ab 2025 entwickelt, hängt also von vielen Faktoren ab – einer ist der politische Wille, das Thema weiter zu bearbeiten. Wenn ich mir also etwas wünschen dürfte, dann die ehrliche Auseinandersetzung über ein Fortbestehen des Leerstandsmanagements. Wenn wir zu dem Ergebnis gekommen sind, dass unsere Innenstadt auch in den nächsten Jahren eine zentrale Ansprechperson braucht, benötigt es ein klares Mandat, damit das Leerstandsmanagement Bürgerinnen und Bürger, Kommunalverwaltung und Unternehmen unterstützen kann.
Interview: Julia Romanowski
August 2024
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