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„Wir sind erwachsen geworden.“
Seit 2022 ist Rudolf Špoták Hauptmann der Pilsener Region, zuvor war er seit 2020 Stellvertreter für dieses Amt. Im September dieses Jahres wird er sich erneut zur Wahl stellen. Der im grenznahen Domažlice aufgewachsene und noch immer dort lebende 40-Jährige steckt viel Energie in das Zusammenwachsen Westböhmens mit den Ostbayerischen Nachbarn.
Herr Hauptmann, bitte ziehen Sie eine Zwischenbilanz. Was prägte Ihre Amtszeit bislang?
Rudolf Špoták: Ich wurde zum Regionspräsidenten ernannt, als eine Krise langsam endete und die nächste begann. Wir mussten nach der Corona-Pandemie die Wirtschaft neu starten und gleichzeitig eine große Flüchtlingswelle bewältigen, die wegen des Ukrainekriegs auf uns zurollte.
Dabei zeigte Tschechien von Beginn an weitreichende Solidarität mit der Ukraine. Auch scheint die Integration der vielen Geflüchteten besser zu klappen als in Deutschland, oder?
Es gibt auch bei uns in Tschechien vieles, was wir besser hätten machen können, aber die Ukraine ist uns gesellschaftlich und kulturell nahe. Das ist ein Vorteil für die Integration der Geflüchteten. Was die Spitzenpolitik macht, ist das eine. Ich war zwei Monate nach Beginn des Krieges mit einem Hilfskonvoi selbst in der Ukraine, den wir gemeinsam mit den Partnern in der Oberpfalz, darunter auch der IHK, auf die Beine gestellt hatten. Es macht mich stolz zu sehen, wie gut wir mit unseren bayerischen Nachbarn heute zusammenarbeiten.
Das sollte nach nunmehr drei Jahrzehnten offener Grenze auch nicht weiter wundern.
Zwischen Bayern und Tschechien gibt es heute keine Grenze mehr. Wir sind wirtschaftlich und kulturell zusammengewachsen. Ich traue mich zu sagen, dass wir in den letzten 20 Jahren einen unglaublichen Fortschritt bei der Integration unserer Nachbarregionen erzielt haben. Im europäischen Kontext ist die grenzüberschreitende Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich unser Vorbild. Man muss sich aber vor Augen führen, dass sich die Zusammenarbeit dort bereits seit Ende des Zweiten Weltkriegs entwickeln konnte.
Wie haben Sie selbst in den 1990er Jahren als Gymnasiast im grenznahmen Domažlice die Nachbarn in Bayern wahrgenommen?
Da meine Oma zur Hälfte Deutsche war und wir deshalb in Deutschland Verwandte hatten, war es für mich einfach, Kontakte zu knüpfen. Die Region, die jahrzehntelang an der Grenze des Eisernen Vorhangs lag, wurde auf einmal attraktiv. Wir wussten nicht, was wir mit der ganzen Freiheit anfangen sollen und waren überrascht, was man alles im demokratischen Deutschland machen konnte. Gleichzeitig haben sich die Deutschen gewundert, was in Tschechien alles möglich war. Es war eine wilde Zeit und fühlte sich an, als ob Ihre Eltern es Ihnen das erste Mal erlauben, in die Disco zu gehen.
Die Industriestadt Pilsen hat seither eine enorme Transformation hingelegt.
Richtig, in der Diskothek der frühen 90er hatten wir verdrängt, dass unsere Wirtschaft nicht zukunftsfähig war. Pilsen bestand im Wesentlichen aus der Škoda- Fabrik, und die war ein sozialistischer Staatsbetrieb. Mit dem Erwachsenwerden merkten wir Ende der 90er Jahre, dass unsere Wirtschaft darniederlag. Uns wurde klar, dass in der westlichen Welt nichts umsonst ist. Aber wir hatten hier einen Grund, auf dem wir bauen konnten, vor allem tolle Menschen, tolle Fachkräfte. Wir konnten die Industrie so entwickeln, wie sie heute dasteht.
Wurden das sehr ländlich geprägte Umland der Stadt Pilsen und die Grenzregion auf tschechischer Seite dabei abgehängt?
Während mit der Stadt Pilsen ein bedeutender Ballungsraum entstand, passierte im ländlichen Raum nicht viel. Das führte zu einem immer größer werdenden Unterschied. Vor uns stehen nun zwei Herausforderungen: Wir müssen Industrie und Innovationen auf dem Stand des 21. Jahrhunderts halten und uns im Sinne der europäischen Integration weiterentwickeln. Nur so werden wir weltweit bestehen können. Und wir dürfen es nicht zulassen, dass die Menschen vom Land nur besser leben können, wenn sie in die Metropolen ziehen.
Ist vor diesem Hintergrund die gescheiterte Ansiedelung einer VWGigafactory für die Batterieproduktion in Líně bei Pilsen eine vertane Chance?
Die Region Pilsen wird mit dem Verlust leben können. Es ist Tschechien- und EU-weit gesehen aber eine vertane Chance für die Wirtschaft. Wenn man auf die europäische Landkarte blickt, wäre die Lage in der Region Pilsen ideal gewesen. Die Investitionsentscheidung gegen die Batteriefabrik traf der VW-Konzern aufgrund der aktuellen Lage. Ob das eine vertane Chance war, werden wir erst in einem Jahrzehnt wissen…
Tschechien insgesamt und die Region Pilsen im Speziellen sind ja sehr Automotive-lastig und hängen an der deutschen Automobilindustrie. Ist das gesund, oder sollte man sich breiter aufstellen?
Das sollten Sie auch international betrachten. Solange die EU der Automobilindustrie in Zukunft weiterhin eine hohe Bedeutung beimisst, ist das für die Automotive- Industrie in der Region Pilsen nicht bedrohlich. Denn die Unternehmen in der Region Pilsen haben sich auf die Produktion von Teilen spezialisiert, die nicht von einer Antriebsart abhängig sind. Wenn aber die größten Produzenten in Deutschland, Frankreich und Italien auf dem Weltmarkt unter Druck stehen und mehr auf Teile aus Asien setzen, ist das für Tschechien ein Problem, ja.
Tschechiens Ingenieure haben sich aber immer wieder neu erfunden. Stimmt Sie das zuversichtlich?
Bei Forschung und Innovation können wir immer mithalten. Andererseits gibt es bei uns in der Region viele Firmen, die Ersatzteile für den Automobilbereich produzieren. Da sind wir sehr abhängig.
Mit welchen Argumenten umwerben Sie potenzielle Investoren?
Wir brauchen hier keine Firmen mehr, die wie in den 90ern wegen billiger Arbeitskraft zu uns gefunden haben. Wir brauchen Firmen, die auf unsere Kompetenz in der Innovation und Forschung setzen. Ein enormer Vorteil ist unsere Lage. Wir liegen mitten in Europa, von uns aus ist man in einer Stunde in Prag und in drei Stunden in München…
…mit dem Auto ja, aber mit dem Zug ist das Richtung München so eine Sache. Wie viele Absichtserklärungen müssen für eine vernünftige Bahnverbindung zwischen München und Prag über Regensburg und Pilsen noch unterzeichnet werden?
In den letzten 35 Jahren gab es viele Themen, bei denen die deutsche Seite für die Tschechische Republik ein Vorbild war. Aber der Bahnausbau geht definitiv in Tschechien schneller voran.
Was wünschen Sie sich von der bayerischen Seite?
Von der bayerischen Seite wünsche ich mir den genannten Ausbau der Bahnverbindung.
Ist das alles?
Die meisten Themen müssen wir gemeinsam weiter vorantreiben. Das betrifft als erstes die Bereiche Gesundheitswesen und Pflege. Wir haben ein Krankenhaus in Domažlice auf tschechischer Seite, zwölf Kilometer von der Grenze entfernt. Wir haben ein Krankenhaus in Zwiesel, zehn Kilometer von der Grenze entfernt. Es muss doch möglich sein, dass die Notfälle von beiden Seiten der Grenze aufnehmen können! Ich wünsche mir noch mehr Kooperationen, wie die zwischen der Pflegeschule in Bad Kötzting und dem Krankenhaus Domažlice. Hier können die bayerischen Pflegeschüler jetzt ein Praktikum in Tschechien absolvieren. Ich möchte auch mehr Vernetzung im Rettungswesen erreichen. Bei der Polizei klappt die Zusammenarbeit schon ganz gut. Die Feuerwehr ist in Deutschland aber anders strukturiert als bei uns. Und schließlich wünsche ich mir mehr Zusammenarbeit im Schulwesen. Sowohl bei den Grund- und Mittelschulen als auch bei den Universitäten. Da haben wir schon einiges erreicht, aber ich glaube, wir können mehr.
Also noch viel Arbeit für Sie.
Die Grenzschließung während der Corona- Pandemie hat gezeigt, dass die Oberpfalz und die Pilsener Region gar nicht mehr ohneeinander existieren können. Man erkennt beim Blick aus dem Auto oder dem Zug heute nicht mehr, ob man auf der bayerischen oder der tschechischen Seite ist. Ich glaube auch, dass unsere Verbindungen noch nie so freundschaftlich und konstruktiv waren wie jetzt. Daran sollten wir weiterarbeiten.
Das Gespräch führte Peter Burdack.
IHK vor Ort in Pilsen
Bei allen Fragen zu wirtschaftlichen Themen im Nachbarland hilft das gemeinsame Regionalbüro Pilsen der IHK Regenburg für Oberpfalz / Kelheim und der Deutsch-Tschechischen IHK gerne weiter.
Bei allen Fragen zu wirtschaftlichen Themen im Nachbarland hilft das gemeinsame Regionalbüro Pilsen der IHK Regenburg für Oberpfalz / Kelheim und der Deutsch-Tschechischen IHK gerne weiter.