Jetzt Europas ­Wettbewerbsfähigkeit stärken

Wenn die EU-Bürgerinnen und -Bürger im Juni 2024 das Europäische Parlament wählen, werden entscheidende Weichen für die euro­päische Wirtschaft gestellt. Damit Europa im globalen Vergleich nicht abgehängt wird, braucht es unter anderem wettbewerbsfähige ­Energiepreise und ­wirkungsvolle Bürokratiebremsen.
Von Binnenmarkt über Bürokratieabbau bis Handelsabkommen – bei der Europawahl 2024 geht es auch um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts ­Europa sowie um den Erhalt und die Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. „Oberstes Gebot für die EU-Politik nach der Europawahl sollte die Stärkung der Wettbewerbs­fähigkeit sein“, sagt Frank Hesse, IHK-Geschäfts­bereichsleiter International. Trotz der allgemein wahrgenommenen Vorteile der EU sieht er ebenso wie ein Großteil der regionalen Unternehmen deutliches Verbesserungs­potenzial. „Aus Sicht der regio­nalen Unternehmen muss Europa dringend einfacher, schneller und günstiger werden“, so Hesse.
Bei einer Reise des IHK-Präsidiums nach Brüssel im vergangenen Jahr haben die Präsidiumsmitglieder persönlich den Eindruck bekommen, dass die EU-Bürokratie oft weit weg von der unternehme­rischen Praxis ist. Beispielhaft dafür stehe das EU-Lieferkettengesetz oder die Arbeitnehmerentsendung ­innerhalb des Binnenmarktes, die durch Harmonisierungen und digitale Lösungen wesentlich effi­zienter gestaltet werden könne.

Was erwarten die Unternehmen?

Was die regionalen Unternehmen konkret von der EU erwarten und was sich nach der Europawahl ändern muss, damit Europa wettbewerbsfähiger und attraktiver für Unternehmen wird, hat unsere IHK in ihrem aktuellen Unternehmensbarometer erhoben. Danach beschreibt eine breite Mehrheit der Unternehmen wichtige Errungenschaften der EU als konkreten Nutzen auch für ihr Geschäft. Dazu zählen vor allem Faktoren wie politische Stabilität (94 %), eine gemeinsame, stabile Währung (94 %), einheitliche EU-Normen und Standards (82 %), Fachkräftegewinnung aus anderen EU-­Mitgliedsstaaten (77 %), weniger Wettbewerbsverzerrungen (76 %) und Zugang zu europäischen Märkten (74 %).
IHK-Unternehmensbarometer zur Europawahl 2024

„Binnenmarkt nicht wegzudenken“

„Der freie Warenverkehr ist aus der EU nicht mehr wegzudenken“, sagt Wolfgang Strautmann, Geschäftsführer bei der B. Strautmann & Söhne GmbH & Co. KG. „Ohne den gemeinsamen EU-Binnenmarkt wäre eine prosperierende Wirtschaft in der EU nicht möglich.“ Der Hersteller von landtech­nischen Maschinen und -Anhängern aus Bad Laer hat seit 1989 ein Werk im polnischen Lwówek, ca. 70 km westlich von Posen. Aus einem früheren Kreisbetrieb für Landtechnik mit anfangs 20 Beschäftigten ist heute ein modernes Werk mit 200 Mitarbeitern entstanden: zu Beginn wurden Komponenten und Bauteile gefertigt, bis später auch komplette Maschinen dort produziert wurden.
„Die Gegebenheiten aus den Anfängen unseres ­Engagements in Polen sind mit heute überhaupt nicht mehr zu vergleichen“, erinnert sich Wolfgang Strautmann. Allein die Wartezeiten an der deutsch-polnischen Grenze hätten 24 bis 48 Stunden betragen. „Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, es gab LKW-Schlangen, die bis an die Stadtautobahn von Berlin reichten. Zudem waren Transportgenehmigungen notwendig, und ob man die bekam, glich zuweilen einem Vabanquespiel.“ In Polen benötigte man Tankgutscheine und von Posen bis zur Grenze gab es nur eine Tankstelle.
„Mit dem EU-Beitritt hat sich viel getan“, ergänzt Philipp Strautmann, der das Familienunternehmen in vierter Generation leitet. „Es ist überall zu sehen, dass viel Geld aus EU-Mitteln in die polnische In­frastruktur geflossen ist. So hat sich zum Beispiel die Fahrtzeit von der deutsch-polnischen Grenze zu unserem Werk quasi halbiert.“ Auch die mit dem EU-Beitritt geschaffenen polnischen Sonderwirtschaftszonen hätten der polnischen Wirtschaft einen Schub gegeben und für Investoren attraktiv gemacht. Bei allen Vorteilen des EU-Binnenmarktes dürfe jedoch nicht verschwiegen werden, dass die EU einen gewaltigen bürokratischen Apparat aufgebaut habe, legt Wolfgang Strautmann den Finger in die Wunde. „Es gibt eine Reihe von ­bürokratischen Hürden, die die Unternehmen belasten und zur ­Folge haben, dass innerbetriebliche Prozesse aufgebaut werden müssen, die unnötig Kosten verursachen“.
Alarmierend ist: Für knapp zwei Drittel der regionalen Unternehmen ist die Attraktivität der EU als Unternehmensstandort in den vergangenen fünf Jahren gesunken. Nahezu alle Betriebe sehen dabei dringenden Handlungsbedarf beim Bürokratieabbau. Das zeigt beispielsweise die „One in, one out“-Regel, die die EU-Kommission als Ziel ausgegeben hatte und die als dringend benötigte Bürokratiebremse dienen sollte. Mit der Umsetzung kommt die EU jedoch nicht voran – im Gegenteil. Statt weniger kommen immer neue Vorgaben aus Brüssel. Das zeigt sich etwa am Beispiel Klimaneutralität: Um das europäische Nachhaltigkeitsziel zu erreichen, braucht es nicht nur einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien und ihrer Infrastruktur sowie eine sichere, günstige und grüne Energieversorgung für die gesamte Wirtschaft. Gleichzeitig müssen Bürokratielasten reduziert werden, damit Betriebe mehr Ressourcen für die klimagerechte Umgestaltung ihrer Geschäftsaktivitäten haben. Doch davon ist Europa gegenwärtig weit entfernt: Stattdessen sind durch den europäischen Green Deal, mit dem die EU-Mitgliedstaaten bis 2050 klimaneutral werden wollen, für die Unternehmen zahlreiche neue Berichts- und Informationspflichten entstanden. Neben dem Abbau von Bürokratie sollte nach Ansicht einer deutlichen Mehrheit der regionalen Betriebe die Sicherstellung der Energieversorgung sowie der Schutz vor digitalen und analogen Angriffen ganz oben auf der Agenda nach der EU-Wahl stehen. Viele der jüngst umgesetzten oder geplanten Gesetzesinitiativen wie der unilaterale CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) oder die Einführung eines KMU-Standards für die Nachhaltigkeits­berichterstattung werden hingegen mehrheitlich kritisch gesehen.

IHK: Interessenvertretung direkt in Brüssel

Damit die unternehmerische Perspektive in den EU-Gremien ­berücksichtigt wird, ist die IHK-Organisation seit 1961 mit einem eigenen DIHK-Büro in Brüssel vertreten. 17 Mitarbeiter kümmern sich dort um Themen wie EU-Binnenmarkt, Handels- und Regionalpolitik sowie Umwelt- und Energiepolitik. Das Team verfolgt neue Gesetzesinitiativen, bringt die IHK-Positionen in die Diskussionen in Kommission und Parlament ein – und spielt die Entwicklungen zurück in die bundesweiten IHKs. Leiterin der DIHK-Vertretung bei der EU in Brüssel ist Freya Lemcke. Sie sagt: „Oberstes Ziel muss die Verbesserung der Attraktivität des Standortes Europa   sein. DIHK-Umfragen zeigen, dass Deutschland zuletzt massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat.“ Als eine Ursache sieht sie u. a. die umfassenden Regulierungen durch die EU und das Fehlen ­effektiver Schritte, um Unternehmertum in der EU zu erleichtern. „Die EU hat eine starke wirtschaftliche Basis und durch den integrierten Binnenmarkt auch im globalen Vergleich viele Vorteile. Wir brauchen nun Maßnahmen, die in Zukunft für erschwingliche und sichere Energie sorgen, die Planungssicherheit für Investitionen und Zukunftstechnologien wie KI schaffen, die Fachkräfte sichern und die überbordende Bürokratie abbauen“, so Lemcke – und schlägt u. a. vor, einen der Geschäftsführenden Vizepräsidenten der EU-Kommission zum Vizepräsidenten für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit zu ernennen, der entsprechende Maßnahmen koordiniert und verantwortet. Neben der DIHK-Vertretung in Brüssel befassen sich auch zahlreiche Mitarbeitende in der DIHK Berlin und den IHKs mit EU-Themen, um Impulspapiere, Stellungnahmen und Positionen zu erarbeiten und die Anliegen der deutschen gewerblichen Wirtschaft in den Konsultationsprozess bei neuen Gesetzen einzubringen. Ein Beispiel ist eine aktuelle Befragung zu den Hemmnissen im EU-Binnenmarkt. Eines der Ergebnisse: Freier ­Warenverkehr und Handel sind längst nicht Realität, sagen die ­Befragten. Ganz vorne bei den Problemen sehen sie die Arbeitnehmerentsendung. Dieses und weitere Beispiele aus der Umfrage zeigen, so DIHK-Chefjustiziar Stephan Wernicke: „Gute Ziele rechtfertigen keine schlechte Regulierung.“

KMU hoffen auf Entlastungen

Die Herausforderungen sind zahlreich, doch es bieten sich viele Ansatzpunkte für eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Das sieht auch Frank Hesse so: Es reiche nicht, dass Europa es ständig besser wisse, Europa müsse es auch besser machen. Ziele, die man sich im Rahmen von Initiativen wie der Lissabon-Strategie oder Europa 2020 gesetzt habe, wurden großenteils nicht erreicht. Nun gelte es, sich auf die Stärke des Binnenmarktes zu besinnen und sich nicht in kleinteiliger Regulierung zu verlieren.
„Die gemeinsamen Politiken und eine geeinte EU sind nach wie vor die beste Chance, um im globalen Wettbewerb zu bestehen“, ­bekräftigt IHK-Geschäftsbereichsleiter Frank Hesse.
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