Nachgefragt Dr. Alexander Becker, Vorsitzender der Geschäftsführung der Georgsmarienhütte Gruppe 

von Anke Schweda, IHK
Die Georgsmarienhütte Gruppe ist ein führender Stahlerzeuger und -verarbeiter in Europa. Vorreiter für grünen Stahl zu sein, das schreibt sich die GMH Gruppe bereits seit 1994 auf die Fahnen. Mit mehr als 6 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an 15 Standorten führt Dr. Alexander Becker seit 2021 als Vorsitzender der Geschäftsführung (CEO) das 100-prozentige Familienunternehmen. Wir sprachen mit dem 47-Jährigen über die Herausforderungen am Standort Deutschland.
_ Vermutlich ist die Energiewende aktuell die größte Herausforderung für die GMH Gruppe. Welchen Einfluss hat sie auf die Wettbewerbsfähigkeit Ihres Unternehmens? 
Die Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie in Deutschland, wie auch anderer energieintensiver Industrien, hängt sehr stark von den Energiepreisen ab. Diese sind in Deutschland doppelt so hoch wie in China oder den USA und sogar mit die höchsten in Europa.
Wir sind in der GMH Gruppe schon sehr weit in der grünen Transformation, haben unsere Stahlproduktion komplett von fossiler Energiezufuhr auf strombasierte Prozesse umgestellt. Im Vergleich zur traditionellen Hochofen-Technologie haben wir durch unsere Elektroöfen unseren CO2-Ausstoß bereits um 80 % reduziert. Hinzu kommen Einsparungen durch die in 2024 in Betrieb genommene induktive Einzelstabvergütungsanlage sowie Effizienzsteigerungen in anderen Bereichen. Dies hat die Emissionen um weitere 18 % auf zuletzt 665 000 Tonnen pro Jahr reduziert. Als Ergebnis hat sich unser Strombedarf deutlich erhöht und wird noch weiter steigen. Denn wir halten an unserem Ziel, bis 2039 klimaneutral zu produzieren, fest.
_ Wie würden Sie die aktuelle Industriepolitik in Deutschland beschreiben?
In zwei Worten: grob fahrlässig. Noch nie haben wir in Deutschland so leichtfertig Wertschöpfung in Nachbarländer abgegeben wie in den vergangenen drei Jahren. Die Rahmenbedingungen haben sich für energieintensive Unternehmen drastisch verschlechtert. Wir sind mittlerweile das mit Abstand am langsamsten wachsende Industrieland und erhalten als Konsequenz kaum noch internationale Direktinvestitionen.
Alleine die Strompreise haben sich seit 2021 mehr als verdoppelt; auf dieser Basis können wir nicht mehr wettbewerbsfähig produzieren. Rund 50 % unseres Bezugspreises machen die Netzentgelte aus, die wir bezahlen müssen, damit die Infrastruktur für die künftigen erneuerbaren Energien ausgebaut wird.
_ Was fordern Sie? Welche Lösung schwebt Ihnen vor?
Die Regierung hat – völlig ohne Not – die Atomkraftwerke abgestellt und so die hohen Strompreise in Kauf genommen. Bis wir in Deutschland ausreichend erneuerbare Energien haben – das dauert mindestens bis 2030 – muss sich der Staat jetzt seiner Verantwortung bewusst werden und dafür sorgen, dass die Unternehmen bis dahin überlebensfähig bleiben. Eine weitere Abwanderung von Wertschöpfung und damit Wohlstand darf nicht mehr akzeptiert werden. 
„Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, positive Impulse zu setzen.“
Konkret betrifft dies die Netzentgelte und den Arbeitspreis Strom. Der Netzausbau ist öffentliche Infrastruktur und muss – genau wie der Ausbau des Straßennetzes – aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden. Der Arbeitspreis Strom ist zwischen maximal 40 bis 60 Euro/MWh festzusetzen.
Auch muss der Staat für wettbewerbsfähige Erdgaspreise sorgen – sei es durch langfristige Abkommen mit fördernden Nationen oder mit eigener Förderung bei uns. Der Erdgaspreis wird zukünftig maßgeblich durch steigende CO2-Preise getrieben. Da bis 2035 kein grüner Wasserstoff verfügbar sein wird, darf der Erdgaspreis im Bereich der Hochtemperatur nicht durch steigende CO2-Preise zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit führen. Hier muss die CO2-Bepreisung angepasst werden, bis grüner Wasserstoff verfügbar ist. Ein global wettbewerbsfähiger Erdgaspreis inklusive CO2-Bepreisung darf nicht über 20 Euro/MWh liegen!
_ Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck war im September bei Ihnen vor Ort und sprach von seinem „Lieblingsstahlwerk“. Warum? 
Wir waren sehr froh, als Dr. Habeck das bei seinem Besuch sagte. Ich denke, er wollte damit seinen Respekt zum Ausdruck bringen für das, was die GMH Gruppe in den letzten 30 Jahren geschafft hat. Eine Transformation, die mit dem Einstieg in die elektrische und damit klimaschonende Stahlherstellung 1994 begann.
Zum Vergleich: 1992, als wir noch einen Hochofen zur Stahlerzeugung nutzten, betrugen die CO2-Emissionen 4 Mio. Tonnen im Jahr. Aktuell sind wir bei 665 000 Tonnen. Das haben wir weitgehend aus Eigenmitteln geschafft. Um die restlichen Emissionen noch auszuschließen, wird unser Strombedarf bis zur angestrebten Klimaneutralität im Jahr 2039 um weitere 30 bis 40 % steigen.
Daher musste Dr. Habeck verstehen, dass wir auf wettbewerbsfähige Strompreise angewiesen sind, wenn wir auf dem Pfad der Transformation – den wir für alternativlos halten, um unsere Erde als lebenswert zu erhalten – überleben wollen, als Unternehmen, Industrie und Gesellschaft.
Wenn Deutschlands Wirtschaft dauerhaft nicht wächst, die Reste davon aber sauber produzieren, bringt das nicht den erhofften Wandel, wenn wir dafür alle wichtigen Grundstoffe, Maschinen und Güter teuer, aufwändig und umweltbelastend aus dem immer entfernteren Ausland transportieren müssen. Um eine Deindustrialisierung zu vermeiden, benötigen wir dringend das Verständnis der Bundesregierung, dass sie hier in der Verantwortung steht, positive Impulse zu setzen.
_ Seit 1994 setzt die GMH Gruppe auf Elektrostahl. Haben Sie damit einen Vorsprung gegenüber Wettbewerbern?
Wir sind tatsächlich fortgeschritten in der Transformation, haben mit Green Power Premium Steel ein Produkt im Markt, das nicht nur emissionsarm elektrisch produziert und finalisiert wurde aus       100 % Stahlschrott, der aus der Nähe unseres Werkes kommt, sondern auch unter Einsatz von 100 % regenerativen Energien. Wir erfüllen damit alle drei Kriterien Scope 1 bis 3 nach dem Greenhouse Protokoll. Das macht uns unheimlich stolz, bringt uns aber am Weltmarkt noch nicht die erwarteten Umsätze. Die Nachfrage bemisst sich rein nach dem Preis. Der ist aus genannten Gründen höher als der vieler, vor allem ausländischer, Wettbewerber.
_ Wie bewerten Sie dazu den nationalen Stahlgipfel im September? 
Der Gipfel war relativ ernüchternd. Die Situation ist klar. Es geht jetzt darum, die Konsequenzen zu ziehen und zu handeln. Es geht um eine grundsätzliche Entscheidung: Wollen wir in Deutschland eine starke Industrie oder nicht. Die Notwendigkeit der grünen Transformation steht außer Frage, es geht nur darum, wie wir sie weiter umsetzen, unter Berücksichtigung der Überlebensfähigkeit der energieintensiven Branchen oder nicht. Daran hängt die Zukunft der Grundstoff- und Zulieferer- sowie der Abnehmerindustrien. Und damit sind wir wieder bei den Energiekosten, die müssen sinken.
_ Das Wasserstoffkernnetz sieht Leitungen in Ihr Werk in Georgsmarienhütte ab 2030 vor. Was bedeutet das für Sie? 
Bis 2030 werden wir nach jetziger Planung in Georgsmarienhütte H2-ready sein, wie auch in einigen anderen Standorten der GMH Gruppe. Über die Nutzung von Wasserstoff könnten wir unsere CO2-Emissionen noch einmal deutlich senken und klimaneutral werden. Jetzt müssen wir erfahren, ob die Verwendung von Wasserstoff zum geplanten Zeitpunkt möglich ist. Das hängt daran, ob die Leitungen bis 2030 wirklich einsatzbereit sind und ob bis dahin Wasserstoff in ausreichender Menge und zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung steht.
Anke Schweda
Standortentwicklung, Innovation und Energie
Geschäftsbereichsleiterin, Mitglied der Geschäftsführung