Erfolg durch Vielfalt

von Dr. Maria Deuling, IHK
Der demografische Wandel belastet den Ausbildungsmarkt und verschärft – mit zunehmender Tendenz – auch den Fachkräftemangel. Umso wichtiger ist es, das Bewerberpotenzial noch besser auszuschöpfen. Ein Schlüssel dazu ist es, auf Vielfalt zu setzen und diese gerade auch in der beruflichen Bildung zu fördern.
Das neue Ausbildungsjahr hat begonnen. Die erfreuliche Nachricht: Im IHK-Bezirk konnten wir die Eintragungszahlen von Ausbildungsverträgen im Vergleich zum Vorjahr leicht steigern. Aber: Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt bleibt herausfordernd, denn es gibt weiterhin mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber. Wie kann es dennoch gelingen, junge Menschen für eine Ausbildung im eigenen Unternehmen zu finden? Eine Antwort darauf lautet: „Offen sein und Auszubildende - gerade anfangs - gut unterstützen!“
Wir möchten Ihnen die Beispiele von Jerome Williams aus Liberia, von Khadeja Houro aus Syrien und Gerrit Koppe aus Osnabrück vorstellen. Mit ihnen und ihren Ausbildungsbetrieben haben wir darüber gesprochen, wie Ausbildung gelingen kann, wenn man Vielfalt als eine Chance sieht.

Von Liberia ins Emsland

In den vergangenen Jahren sind viele geflüchtete Menschen nach Deutschland gekommen. Spracherwerb, Ausbildung und Beschäftigung sind dabei der Schlüssel für eine gelingende Integration. Das trifft auch auf Jerome Williams aus Liberia zu. Er absolviert derzeit eine Ausbildung zum Beton- und Stahlbetonbauer bei der Knoll GmbH & Co. KG in Haren (Ems) und hat bereits seine Zwischenprüfung erfolgreich abgelegt. Im Jahr 2019 kam Jerome Williams als Geflüchteter nach Celle. Von dort wurde er aufgrund des Verteilungsschlüssels für Geflüchtete dem Emsland zugewiesen. Ein Glücksfall dabei: Bereits in Celle lernte Williams eine ehrenamtliche Flüchtlingsbetreuerin kennen, die ihn seit seiner Ankunft in Deutschland begleitet. Aus privaten Mitteln finanzierte sie ihm den ersten Deutschunterricht, als es während der Pandemie keine öffentlich geförderten Kurse gab: „Ich wollte so schnell wie möglich Deutsch lernen und habe später mit YouTube-Videos weitergeübt,“ so Jerome Williams.
In Meppen besuchte Jerome Williams im „Internationalen Café“ Veranstaltungen zur Berufsorientierung und entwickelte ein Interesse an Bauberufen. Es folgte ein dreiwöchiges Praktikum bei seinem jetzigen Arbeitgeber. „Jerome war motiviert, lernbegierig und hat sich mit seiner offenen Art hervorragend ins Baustellenteam integriert“, sagt Andreas Fischer, Ausbildungsleiter beim Bauunternehmen Knoll. „Ohne zu zögern haben wir ihm einen Ausbildungsplatz angeboten.“ Jetzt musste noch eine Unterkunft in Haren gefunden werden. Hier war die Stadt Haren unterstützend tätig. Sie hat dem jungen Liberianer einen Platz in einem Sozialwohnheim, in unmittelbarer Nähe zum Ausbildungsbetrieb, verschafft.
Obwohl Jerome Williams zu Beginn der Ausbildung bereits gut Deutsch sprechen konnte, waren die ersten Berufsschultage nicht einfach: „Als ich die ersten schriftlichen Aufgaben in Deutsch und technischer Mathematik bekam, fiel es mir sehr schwer, die Aufgaben zu verstehen.“ Aus Liberia brachte er eine Schulbildung vergleichbar mit dem Realschulniveau mit. In den Wochen nach dem Ausbildungsbeginn ließ er sich nicht entmutigen und nutzte jede freie Minute zum Lernen. Die Arbeitsagentur unterstützte ihn zudem mit Nachhilfestunden in beiden Fächern. Bis heute, sagt er, sei es immer noch anspruchsvoll, die Aufgaben richtig zu lesen: „Weil manchmal ein einziges Wort den Sinn der Aussage verändern kann.“
Für die Prüfungsvorbereitung besucht er den überbetrieblichen Unterricht einer Bildungsstätte der Bauindustrie. „Als Unternehmen trauen wir Jerome durchaus ein außerordentlich gutes Prüfungsergebnis zu“, sagt Andreas Fischer. Jerome ist sehr ehrgeizig. Wie es weiter geht? Nach der Ausbildung wird Williams als Fachkraft eingestellt und er strebt einen Lkw-Führerschein an. Für sich persönlich wünscht er sich bis dahin vor allem eine eigene Wohnung. Kurzum: Der junge Liberianer ist beruflich und privat im Emsland angekommen.

Eine Ausbildung in Teilzeit

Beruflich angekommen zu sein – dieses Gefühl hat auch Khadeja Houro, die vor drei Jahren mit ihrem Mann und zwei Kindern aus Syrien nach Deutschland kam. Im September 2022 erhielten sie das Bleiberecht, leben heute in Bad Essen. Während ihr Mann bereits vor knapp einem Jahr als Schneider im Modehaus Brörmann in Bohmte anfangen konnte, gestaltete sich Khadeja Houros beruflicher Einstieg schwieriger.
 Khadeja Houro Modehaus Brörmann Ausbildung Teilzeit
Im Modehaus Brörmann absolviert Khadeja Houro aus Syrien eine Ausbildung in Teilzeit. © IHK
„Ich wollte unbedingt eine Ausbildung machen“, berichtet die 29-Jährige. „Entweder als Friseurin oder als Verkäuferin“. Obwohl sie bereits gute Deutschkenntnisse erworben hatte, ließ ihre familiäre Situation mit den schulpflichtigen Kindern keine Vollzeitausbildung zu. Houro wurde von der Maßarbeit, dem Jobcenter des Landkreises Osnabrück, unterstützt und ihr wurde empfohlen, ein Praktikum zu absolvieren. Auf Vermittlung ihres Mannes absolvierte sie dieses Praktikum im Modehaus Brörmann. Dabei festigte sich ihr Berufswunsch als Verkäuferin: „Mir hat der Umgang mit den Kunden sehr viel Spaß gemacht und ich interessiere mich für Mode.“
Juniorchef Frank Brörmann hatte die Idee mit der Teilzeitausbildung. Dafür setzte er sich direkt mit dem Ausbildungsberater unserer IHK in Verbindung. Stichwort Teilzeitausbildung: diese ermöglicht eine vollwertige Berufsausbildung, die in reduziertem Umfang stattfindet und individuell an die Lebenssituation angepasst wird. Ausbildungsbetrieb und Auszubildende legen die Rahmenbedingungen gemeinsam fest. Die junge Frau besucht regulär die Berufsschule und von der Maßarbeit wird ihr ein zusätzlicher Nachhilfeunterricht vermittelt. An den übrigen Tagen ist sie vormittags im Ladengeschäft, wo der Fokus auf der praktischen Ausbildung liegt. Die zweijährige Ausbildung zur Verkäuferin wird zunächst um ein halbes Jahr verlängert. Weil die zweifache Mutter bei Ausbildungsbeginn schon Ende zwanzig ist, kann eine Verkürzung auf zwei Jahre erfolgen. Die Entscheidung wird gemeinsam zum Ende der regulären Ausbildungszeit getroffen werden. Und die weiteren Pläne? Ihr Betrieb und die Auszubildende können sich vorstellen, den Abschluss als Einzelhandelskauffrau anzuschließen.

Studienaussteiger mit Potenzial

Immer mehr Unternehmen erkennen die Potenziale von Studienaussteigern als Zielgruppe für ihre Nachwuchsgewinnung. Dies gilt auch für den IT-Dienstleister, die Sievers-Group in Osnabrück, die gezielt Ausbildungsplätze für Studienaussteiger anbietet. Warum ist diese Zielgruppe für das Unternehmen so interessant? „Weil sie oft fortgeschrittenes Fachwissen und akademische Fähigkeiten mitbringen, die jemand direkt nach der Schule nicht hat. Sie haben gelernt komplexe Probleme zu analysieren und kritisch zu denken, sind sehr selbstständig, hoch motiviert und gut organisiert,“ sagt Ausbildungsleiterin Erbtina Gashi.
Gerrit Koppe aus Osnabrück hat sich 2021 mit 24 Jahren gegen sein Studium und für eine dreijährige Ausbildung als Fachinformatiker in der Anwendungsentwicklung bei der Sievers-Group entschieden: „Ich habe sowohl an logischen als auch an kreativen Aufgaben sehr viel Spaß und die Software-Entwicklung verbindet beide Themen.“ Für den heute 27-Jährigen steht fest: „Als Studienzweifler sollte man sich die Frage stellen, in welchem Beruf man auf Dauer zufrieden sein kann. Kann dieser Beruf mit einer Ausbildung ausgeübt werden, dann sollte die Entscheidung für die Ausbildung fallen.“ Auch diese Aspekte waren für ihn ausschlaggebend: „An der Ausbildung war mir der geregelte Tagesablauf wichtig und, dass ich ein planbares Einkommen hatte, wodurch ich mich zu großen Teilen selbst finanzieren konnte.“
Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Ausbildung im Sommer wird Gerrit Koppe in seinem Beruf weiterarbeiten. Perspektivisch plant er, in seiner Freizeit zu studieren. Dabei steht für ihn nicht der Abschluss im Vordergrund, sondern die persönliche Weiterbildung. Sein Arbeitgeber schätzt diese hohe Bereitschaft zur Weiterentwicklung bei Studienaussteigern – und kooperiert gezielt mit Hochschulen, um ihre Ausbildungsplätze direkt in den Studienberatungen zu platzieren. – Unser Fazit als IHK: Es ist die Stärke der beruflichen Bildung, die Heterogenität der Auszubildenden aufzufangen. Die Erschließung, Förderung und Wertschätzung aller Potenziale der Auszubildenden in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit ist deshalb eine große Chance für die Fachkräftesicherung! Das gilt auch für Menschen mit Beeinträchtigungen, die sich zu Fachpraktikern ausbilden lassen (S. 38).
Wenn wir Ihr Unternehmen unterstützen können, melden Sie sich gern bei uns: IHK, Dr. Maria Deuling, Tel. 0541 353-415 oder deuling@osnabrueck.ihk.de oder schauen Sie allgemein unter www.ihk.de/osnabrück (Nr. 71284)
Dr.Maria Deuling
Aus- und Weiterbildung
Internes Qualitätsmanagement und Controlling