Unternehmen & Märkte

Grundgesetz statt Camper Van

Einmal die Woche stehen für Azubis und Studierende bei LMC Caravan aktuelle politische Themen auf dem Ausbildungsplan, von Grundgesetz-Jubiläum bis Europawahl. Dafür gab es in Berlin den IHK-Bildungspreis. | Text: Tobias Hertel
Ausbildungsleiterin Carina Münsterkötter sammelt in der Unternehmenskantine in Sassenberg die Arbeitsblätter mit den Lückentexten ein. Die 35 Auszubildenden und dual Studierenden haben sich anlässlich des 75-jährigen Jubiläums mit dem Grundgesetz beschäftigt. Manche Lücke ist schnell ausgefüllt. Dass die Würde des Menschen „unantastbar“ ist, fällt den meisten spontan ein. Kniffliger ist manche Detailfrage: Wann genau ist das Grundgesetz in Kraft getreten, mit welcher Mehrheit können Artikel geändert werden? Und dann soll sich der LMC-Nachwuchs auch noch mit einzelnen Grundrechten auseinandersetzen und überlegen, was sie im Alltag konkret bedeuten.

Innovative Ansätze

„Einfach kann ja jeder“, meint Münsterkötter dazu lachend. „Die Azubis dürfen schon gefordert werden, damit haben wir gute Erfahrungen gemacht“, ergänzt sie. Das kam auch beim IHK-Tag in Berlin gut an: In der Kategorie „Innovative Ausbildungsansätze“ wurden die Azubi- und Studi-Sessions des Sassenberger Unternehmens mit dem zweiten Platz beim IHK-Bildungspreis prämiert.
Mit Wohnwagen, Wohnmobilen und Camper Vans, dem Kerngeschäft von LMC, haben diese wöchentlichen Sessions wenig zu tun. Wertvoll fürs Unternehmen sind sie dennoch, ist Münsterkötter – und mit ihr die Geschäftsleitung – überzeugt. „Extrem reif, extrem weit“ seien die Auszubildenden durch die Beschäftigung mit Problemstellungen jenseits des Berufsalltags, außerdem fit in Gruppenarbeit. „Wir brauchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Leben stehen und sich vielseitig interessieren“, fügt Ausbildungskoordinator Ulrich Pestrup hinzu. Selbstbewusst und selbstbestimmt sollen sie sein – und nach dem Abschluss möglichst bei LMC bleiben und vielleicht Führungsaufgaben übernehmen.

Politik und Alltagskompetenzen

Dabei dreht sich das „überfachliche Ausbildungssystem“ nicht nur um das politische Weltgeschehen, sondern auch um Alltagskompetenzen. Münsterkötter, selbst studierte Wirtschaftspsychologin, hat sich in das Thema Steuererklärungen eingearbeitet. „Im Detail kann ich nicht alle Fragen klären, aber Interesse wecken und Ängste nehmen.“ Tipps zu Versicherungen und zur Geldanlage mit Aktien und Fonds gab es auch schon, in diesem Fall von einem eingeladenen Experten.
Viele Ideen für eine Session steuert die Azubi-Gemeinschaft bei: Wie werden Entscheidungen getroffen, was macht eine gute Präsentation aus, welche Kreativitätstechniken gibt es. Nele Vahl, angehende Industriekauffrau, hat mit einer Mit-Auszubildenden bereits eine Präsentation zur Ernährung erarbeitet. Was ist gesund, was bedeuten vegetarisch und vegan? Eine wichtige Erfahrung: „Das hat schon etwas gedauert, weil wir überlegen mussten, wie wir die Inhalte vermitteln“. Dabei kamen sie auf die Idee, ein Quiz zu erstellen.
Zunächst habe es durchaus vereinzelt Vorbehalte unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegeben, die Azubis für das kleine Extra in der Ausbildung abzustellen. „Es musste sich etwas einspielen, aber mittlerweile ziehen alle mit“, erklärt Münsterkötter. Die Rollen innerhalb des Unternehmens seien klar kommuniziert: Auch wenn es im Produktionsalltag mal viel zu tun gibt, die Auszubildenden sind in erster Linie zum Lernen da.

„Azubis sollen mitdenken

Die meisten Sessions bereitet Münsterkötter selbst vor. Der Gedanke, Ausbildung durch gesellschaftliche Themen anzureichern, sei ihr vor der Bundestagswahl 2021 gekommen. Als sie sich unter den Azubis danach erkundigt habe, wer seine Stimme abgeben wolle, sei die Resonanz „erschreckend gering“ gewesen. Also bereitete sie Stunden zur politischen Bildung vor, die allerdings nie als Monolog konzipiert sind. Die jungen Leute „sollen sich nicht berieseln lassen, sondern mitdenken“.
Deshalb arbeiten und diskutieren sie in Gruppen, und dies immer respektvoll, selbst wenn es inhaltlich kontrovers wird. „Wir dürfen ruhig unterschiedlicher Meinung sein. Streitkultur kann man lernen“, sagt Münsterkötter. Entscheidend sei, sich zu informieren, Nachrichtenquellen zu überprüfen. „Der Vorteil bei uns ist, dass sich alle untereinander kennen und sich zuhören.“ Nils Braun bestätigt das: „Für den Zusammenhalt sind die Sessions megagut“, so der künftige Industriekaufmann.
Vor allem erfahren Kaufleute, Lagerlogistiker, Produktdesigner oder Elektrotechniker, die sich sonst eher selten sehen und sprechen, mehr voneinander: „Wir hatten einen Auszubildenden aus Russland, der sich in einem Gespräch über den Krieg in der Ukraine sehr für den Angriff geschämt und viel von sich preisgegeben hat“, nennt Münsterkötter ein Beispiel.

Weltpolitik kommt in Sassenberg an

Wenn dann Corona oder auf andere Weise gestörte Lieferketten diskutiert werden, dann kommt die große Weltpolitik auch in Sassenberg spürbar an. „Als ein Frachter den Suez-Kanal blockiert hat, haben wir kurzzeitig Camper ohne Kühlschränke vorproduzieren müssen“, berichtet Pestrup. Da wird deutlich, wie vernetzt Wirtschaft ist – und dass eine Nachricht aus fernen Weltgegenden etwas mit dem eigenen Arbeitsplatz zu tun hat.
Neben den wöchentlichen Sessions organisieren die LMC-Azubis weitere Projekte. Die Lehrwerkstatt zum Beispiel stellte Schachbretter, Grillzangen oder Kinderstühle für einen Weihnachtsmarkt her, der Erlös wurde gespendet. Selbst Ferienfreizeiten für Kinder der Beschäftigten haben sie schon auf die Beine gestellt. Und die Idee von Lina Kamp, angehende technische Produktdesignerin, hat es schon zu einem Prototypen gebracht: Sie konzipierte eine spezielle Werkzeugkiste als Starterset für Neu-Camper.
Fürs Marketing ist der Blick über den Tellerrand des Ausbildungs-Alltags ebenfalls wertvoll, denn das zusätzliche Engagement spricht sich herum. Auf den IHK-Bildungspreis ist Münsterkötter stolz. Ihr Tipp für andere Unternehmen: „Nicht zu komplizierte Programme entwickeln, sondern einfach anfangen.“