Future Farming

Wie Gemüse und Obst ohne Erde wachsen

Hitze und Trockenheit, eine sich verschärfende Wasserknappheit und die weltweit explodierende Nachfrage nach Nahrungsmitteln stellen die Landwirtschaft vor große Herausforderungen. Hydroponik kann dazu beitragen, die Versorgung mit lokal produzierten Nahrungsmitteln dauerhaft zu sichern. Das Start-up Pflanzentheke aus Lorsch bietet ein System zum vertikalen Anbau von Gemüse außerhalb der Erde. Das spart beträchtliche Mengen an Wasser und Dünger. Und auf der gleichen Fläche kann deutlich mehr Ertrag erzielt werden.
Autor: Stephan Köhnlein, 26. September 2023
In den treppenförmigen Stahlgestellen wachsen Blattsalate, Fenchel oder Erdbeeren. Alles ohne Erde. „Die Pflanzen sitzen nur in einem kleinen Substratwürfel, damit sie – gerade, wenn sie noch klein sind – nicht weggespült werden“, erklärt Michael Müller, Geschäftsführer des Lorscher Start-ups Pflanzentheke. Unter den Würfeln aus Kokosfaser befindet sich eine Rinne, in die in einem geschlossenen Kreislauf über eine Zeitschaltung Wasser mit Dünger gepumpt wird. „Die Wurzeln ziehen sich dann aus dieser Lösung die Nährstoffe, die sie brauchen. Was sie nicht verbrauchen, geht zurück in den Kreislauf. Anders als auf dem freien Feld haben wir so keine starke Verdunstung, und es versickert nichts.“ Bis zu 90 Prozent Wasser und 85 Prozent des Düngers sollen so eingespart werden können. Zudem sei mit den Gestellen auf der gleichen Fläche der vier- bis fünffache Ertrag möglich.

„Wie werden wir zehn Milliarden Menschen ernähren?“

Michael Müller ist promovierter Betriebswirt und außerdem geschäftsführender Gesellschafter eines Metallbauunternehmens in Lorsch. Die Firma hatte er vor 13 Jahren übernommen. „Ein klassisches Unternehmensnachfolge-Thema“, wie er sagt. Doch war da auch der Wunsch, noch einmal etwas komplett Neues von der Pike auf zu gründen. Zwei Zukunftsthemen hätten ihn über Jahre begleitet: Wie werden wir wohnen? Und wie werden wir künftig rund zehn Milliarden Menschen auf der Welt ernähren? Das Thema Wohnen kann er als Metallbauer ein Stück weit mitgestalten, da er unter anderem Sonnenschutz herstellt. Als er dann zum ersten Mal von Hydroponik hörte, war er schnell begeistert. Auch seine Lebensgefährtin Julia Dubowy, eine promovierte Volkswirtin, konnte er für das Thema gewinnen. „Das Problem war allerdings, dass wir keine Ahnung von Pflanzen hatten“, gesteht er schmunzelnd ein.
Über das Internet sei er auf die Hochschule Osnabrück gestoßen, wo Lasse Polsfuß und Leon Welker sich mit Pflanzentechnologie befassten. Lasse Polsfuß betreibt zudem den Blog „Pflanzenfabrik“. Man habe Kontakt aufgenommen, sich kennengelernt und schließlich beschlossen, etwas gemeinsam zu gestalten. Im Juni 2022 gründeten sie die Pflanzentheke GmbH. Neben den vier Gründern beschäftigt das Unternehmen mittlerweile drei weitere Personen. Die Anlagen baut das Team selbst, bei der Konfektion der Stahlgestelle kann Michael Müller auf sein Metallbauunternehmen zugreifen.

Direktvermarkter sind derzeit die wichtigste Zielgruppe

Das Interesse sei groß, sagt Michael Müller. „Weil wir die Pflanzen ohne Erde kultivieren, sind wir nicht an den Boden gebunden, benötigen keine Ackerflächen und können stattdessen mit den Gestellen in die Höhe gehen – zum Beispiel auf Dächer, in Innenhöfe oder auf betonierte Flächen in Städten.“ Insofern bietet sich das System auch für Privatverbraucher an, die sich mit Urban Farming selbst versorgen wollen.
In der aktuellen frühen Phase peilt die Pflanzentheke jedoch vor allem das B2B-Segment an. Hauptzielgruppe sind Gemüsebauern mit einer Direktvermarktung wie Hofläden. „Außerdem haben wir den Fokus auf Betriebskantinen, die ihr eigenes Gemüse anbauen wollen, sowie auf Ausbildungseinrichtungen, in denen wir künftige Landwirte für die Idee der Hydroponik gewinnen möchten“, ergänzt der Unternehmer. Der Lebensmitteleinzelhandel stehe dagegen derzeit weniger im Fokus – vor allem wegen des hohen Preisdrucks in der Branche. „Wir versuchen, einen Markteintritt mit der besten Wirtschaftlichkeit für alle Beteiligten zu finden.“

Baukastensystem ermöglicht schrittweisen Einstieg

Im Wettbewerb zum herkömmlichen Anbau hat die Pflanzentheke zunächst einen kleinen Nachteil, sagt Michael Müller: Während die Landwirte ihre Ackerflächen in der Regel besäßen oder eine geringe Pacht dafür bezahlen und ihre vorhandenen Maschinen für die Bewirtschaftung einsetzen können, müssen sie die Hydroponik-Anlagen erst einmal anschaffen. Doch ein größeres Problem sieht er darin nicht. Die Anschaffungskosten hätten sich nach zwei bis drei Jahren amortisiert.
Über ein Baukastensystem mit einfachem Zugang und überschaubaren Investitionskosten könnten sich die Kunden an die Technologie herantasten. Zudem bietet das Start-up ein Full-Service-Paket, das neben den Anlagen beispielsweise eigene Düngemittel und eine eigene Jungpflanzenanzucht umfasst. Gerade entwickelt das Team zudem eine eigene Mess- und Regeltechnik und prüft Modelle für eine Automatisierung der Ernte.
Stellt sich natürlich noch die Frage, ob man einen Unterschied zum Gemüse vom Feld schmeckt. „In der Regel ist das Gemüse aus der Hydroponik geschmacksintensiver, weil die Pflanzen optimal mit Nährstoffen versorgt sind – unabhängig von der Bodenbeschaffenheit und vom Wetter“, erklärt Michael Müller. Zudem würden die Pflanzen geerntet und kämen direkt auf den Teller – anders als etwa bei Tomaten aus den Niederlanden oder Erdbeeren aus Spanien. „Wir wollen den hydroponischen Obst- und Gemüseanbau als festen Eckpfeiler einer lokalen Nahrungsmittelversorgung in Deutschland etablieren.“
Nicht jedes Obst und Gemüse lässt sich jedoch wirtschaftlich sinnvoll hydroponisch anbauen, wie der Geschäftsführer einräumt. „Wir wissen auch, dass wir von Kräutern und Blattsalaten allein nicht satt werden. Gerade experimentieren wir deswegen mit Kürbissen.“ Aber das aktuelle Rinnensystem hat seine Grenzen. „Stauden- und tiefe Wurzeln sind schwierig. Und auch Äpfel und Birnen wird es – zumindest vorerst – nicht geben.“

Ein Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit

Die Geschäftsidee der Pflanzentheke trägt unter anderem zur Erreichung der folgenden SDGs bei:
Zukunftsmut: Ideen für mehr Nachhaltigkeit
Von der Chancengleichheit am Arbeitsplatz über ressourcenschonende, umweltfreundliche Produktion, neue Geschäftsideen, die Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen präsentieren, bis hin zu Sponsoring von Sportvereinen, Kultureinrichtungen und mehr: Unternehmerische Verantwortung hat viele Facetten. In dieser Artikelserie stellen wir Ihnen Good-Practices in Sachen ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit aus der Region Rhein-Main-Neckar und darüber hinaus vor, die beweisen, warum wir auch in Zeiten multipler Krisen mehr Optimismus wagen sollten.

Was macht verantwortungsvolle Teilhabe im Wirtschaftsleben aus?
Im Jahr 2020 haben rund 20 Unternehmerinnen und Unternehmer dazu ein neues Leitbild für verantwortungsbewusste, vertrauenswürdige Geschäftsleute erarbeitet. Dieses Leitbild stellen wir Unternehmen in deutscher und englischer Sprache kostenfrei zum Download bereit.

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Matthias Voigt
Bereich: Kommunikation und Marketing
Themen: IHK-Magazin, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit