So gemütlich – da kann man schon mal das Zahlen vergessen

Schon während seiner Ausbildung zum Hotelfachmann hatte Bünyamin Calik ein Ziel vor Augen: „Eines Tages werde ich Hoteldirektor sein.“ Nun verhält es sich mit solchen Jugendträumen nicht selten so: sie verfliegen, bleiben schöne Erinnerungen an den stürmischen Aufbruch in die Arbeitswelt. Calik jedoch hat sein Ziel nie aus den Augen verloren, nach Stationen unter anderem im Steigenberger Parkhotel in Braunschweig war er zuletzt Hoteldirektor im Marriott am Maschsee in Hannover. Mit Mitte 30. Alles in Butter also könnte man sagen und dem jungen Mann anerkennend auf die Schulter klopfen. Doch in seiner Rolle als Hotelmanager fehlte dem 37-Jährigen das, was er an seinem Traumberuf immer so geliebt hat: der Kontakt mit Menschen. Am 1. August dieses Jahres eröffnete er in Wolfenbüttel das Café Moena.
Als wir uns nach Feierabend in dem kleinen Café in Wolfenbüttel treffen, duftet es verführerisch vom Herd her. Dort simmern Hackfleisch, Kartoffeln und Blumenkohl vor sich hin. Wenn Caliks Frau Moena den Deckel vom Topf hebt, zieht ein appetitanregender Schwaden zu uns herüber. Jetzt aber mal konzentrieren und nicht ablenken lassen, Frau Jasper, rufe ich mich innerlich zur Ordnung. Das Gericht werden die Caliks abends noch zu Moenas Großeltern bringen. Hier begegne ich offensichtlich nicht nur Geschäftsleuten, sondern Familienmenschen. Das sei doch nicht der Rede wert, sagt Moena Calik. Sich kümmern gehört für sie zum Leben wie das Lachen dazu.

Zahlen und Controlling bringen keine Erfüllung

Fünf Jahre hat Calik als Hoteldirektor gearbeitet, dann entschloss er sich für den Schnitt und den Betrieb eines Cafés. „Ich hatte irgendwann nicht mehr die Freude wie früher, die Arbeit mit Zahlen, Controlling – da war etwas, das mir zunehmend fehlte. Der Kontakt zu den Kunden, den Menschen.“ Als Fachmann der Hotel- und Gastrobranche suchte der Familienvater ein Objekt, das sowohl von den Mietkosten als auch von der Größe nicht überdimensioniert ist. Das er mit viel Arbeitseifer auch allein stemmen kann. Und so entschied er sich für die Adresse Okerstraße 3, wo auch schon zuvor ein Café gewesen ist.
Allein ist Bünyamin Calik freilich nicht. Seine Frau mit dem klangvollen Vornamen Moena ist nicht nur Namensgeberin des Cafés, was man durchaus als Liebeserklärung an diejenige Person, die schon seit Jugendtagen an seiner Seite ist, verstehen darf. Sie steht an Herd und Backofen und fabriziert all die Gerichte, die im Moena auf den Tisch kommen. Hotelfachmann und Köchin – das passt doch, möchte man schon in den Block notieren. Doch halt! Moena Calik ist Wirtschaftsjuristin, Schwerpunkt Personalwesen und -entwicklung sowie Arbeitsrecht. Ebenso wie ihr Mann liebt auch sie ihren Beruf, Rückkehr in die Welt der Paragrafen ganz und gar nicht ausgeschlossen. Aber derzeit ist ihr Platz im Café.
„Zahlen, Controlling – mir fehlte zunehmend etwas.“

Bünyamin Calik

„Ort der Freude und des Zusammenkommens“

Es war vielleicht nicht nur Zufall, dass es Wolfenbüttel geworden ist, wo die Caliks ihr Café eröffneten. Hier haben beide an der Ostfalia studiert, er Tourismus­management. Ein wenig ruhiger, familiärer sei es in der Lessingstadt im Vergleich zu anderen Städten, finden beide, was gut zu ihrer Idee von einem Café passt, das „ein Ort der Freude und des Zusammenkommens, der Regeneration und Harmonie“ sein soll, wie man eingangs in der Speisekarte lesen kann. Und so haben die zwei ein wohliges Ambiente kreiert, in dem man sich fühlen soll, als säße man bei einer Freundin oder der Oma zu Hause am Kaffeetisch. Es sei schon vorgekommen, erzählt Calik belustigt, dass Gäste fröhlich und zufrieden ,Tschüss‘ gesagt haben und versehentlich, ohne zu zahlen, gegangen sind. „Die fühlen sich bei uns eben wie zu Hause.“ Obwohl nicht mal ein halbes Jahr geöffnet, hat das Café schon Stammgäste. Lehrer, Professoren der Ostfalia, Jugendliche, Frauen und Männer jeden Alters, die sich hier gern niederlassen. Und, das ist Calik ganz wichtig: ins Gespräch miteinander kommen.

Röhrenradio und Häkeldecke machen es gemütlich

Die klassischen Kaffeehausstühle, die man aus Wiener Kaffeehäusern oder Pariser Cafés kennt, übernahm Calik von der Vorbesitzerin. Das Porzellan mit dem Goldrand fanden sie bei Haushaltsauflösungen oder eBay, ebenso manche der schmucken Häkeldeckchen. Bünyamin steuerte noch ein altes, funktionstüchtiges Röhrenradio der Marke Oberon bei, das viele bestimmt noch aus den 60er-Jahren von Opas Vitrine kennen, wo er bei der Übertragung der Bundesligaspiele förmlich mit dem Ohr am Kasten klebte. Kaffeemühlen aus Bünyamin Caliks Sammlung, die allesamt noch ihren Dienst versehen könnten, stehen dekorativ auf der Küchenzeile. „Und ich habe bei uns zu Hause ein bisschen mehr Platz“, sagt Moena lachend. So ist eine charmante, nicht überfrachtete Mischung aus Vintage und Landhausstil entstanden. Am Fenster steht eine Palme. 26 Jahre alt. „Die ist noch aus meinem Elternhaus“, sagt die junge Frau. Da sind sie wieder – die familiär gepflegten Bande.
Zu Hause sind die Caliks in Braunschweig. Die Kinder, zehn und 16 Jahre alt, können problemlos, ohne umzusteigen, nach der Schule mit dem Bus der Linie 20 nach Wolfenbüttel fahren. Fast direkt vor das Café. Was sie gelegentlich auch machen. Ansonsten ist mittwochs Ruhetag im Café. Und Familientag bei Caliks. Da haben die Kinder nachmittags keine schulischen Verpflichtungen am Braunschweiger Gymnasium Kleine Burg.
„Ich schöpfe Energie daraus, dass meine Familie glücklich ist.“

Moena Calik

Jeden Mittag gibt es ein anderes Gericht

Häkeldeckchen und Goldrand sollten nicht zu dem Kurzschluss verleiten, dass es im Moena nicht modern zugeht. Bezahlt werden kann mit Karte, Bestellungen kann man auch online aufgeben. Manche Kundinnen und Kunden kämen mehrmals die Woche zum Mittagessen. „Die gucken gar nicht in die Karte, die sagen nur: Bitte das, was es heute gibt.“ Moena kocht jeden Tag ein Gericht. Jahreszeitlich passend im Herbst Kürbis- oder Linsensuppe. Zudem gibt es noch eine kleine Auswahl an Salaten. Das täglich wechselnde Mittagsgericht kostet moderate 8,90 Euro. Die Frühstückskarte bleibt in ihren vier Varianten (davon eine glutenfrei und vegan) ebenfalls unter der 10-Euro-Marke. Die erste Tasse Kaffee kostet zum Frühstücksgedeck nur 1,50 Euro.
Drei Kuchen und drei Torten hat das Moena täglich in der gekühlten Vitrine. Die Kokostorte sei sehr beliebt, erzählt Moena Calik, aber auch trendige Kreationen mit Oreokeksen, Hanuta oder Yogurette werden gern bestellt. Kalorienbomben sind die leckeren Stückchen dennoch nicht, da sie auf Sahne gänzlich verzichtet und Zucker maßvoll in die Teigschüssel gibt. Und wenn der Kuchen schon lange vor Feierabend weg ist, backt sie einfach in der offenen Küche einen neuen.

In der Findungsphase: „Ich gehe noch sehr oft einkaufen“

30 Gäste haben innen auf zwei Etagen Platz, draußen noch einmal zwölf. Für kleinere Feiern bietet sich der Raum in der oberen Etage an, nach 18 Uhr kann man das Café auch für geschlossene Gesellschaften, Veranstaltungen buchen. Sowohl was die täglich zu kochende Portionszahl als auch die Öffnungszeiten angeht, „sind wir noch in der Findungsphase“, sagt Calik. Und ergänzt: „Ich gehe außergewöhnlich oft einkaufen“, lacht er und erläutert den ernsten Hintergrund: „Wir möchten wenig bis nichts wegschmeißen, immer frische Ware verarbeiten.“ Er denke viel über einen nachhaltigen Betrieb seines Cafés nach. Alle, die ihr Essen abholen, bekommen es in einer Verpackung aus Zuckerrohr.
Der Schritt in die Selbstständigkeit schlaucht doch bestimmt auch. Braucht man da Ausgleich in der Freizeit, um aufzutanken? Moena lächelt sanft und sagt: „Ich schöpfe Energie daraus, dass meine Familie glücklich ist.“ Und jetzt, da ihr Mann wieder zu den Wurzeln seines Traumberufs zurückgekehrt ist, ist er wohl wieder vollends glücklich. Bünyamin spielt gern Tischtennis mit seinem Sohn oder geht im Fitnessstudio aufs Laufband. Manchmal auch mitten in der Nacht. „Durch meine Arbeitszeiten in der Hotellerie habe ich jedes Zeit- oder Tagesgefühl verloren“, erklärt Calik, warum er auch um 0 Uhr zur Höchstform auflaufen kann. Moena schaut ihn liebevoll mit einem leicht amüsierten Zug um den Mund an: „Ich brauche keinen Sport mehr, ich laufe den ganzen Tag im Café herum.“ Sagt sie und zeigt auf ihren lockeren Hosenbund. Da wäre noch Platz für ein Stück leckeren ­Kokosgrieskuchen. Oder zwei.
suja
8/2024