Agenda
von Claudia Engfeld
Die Regionalisierung der Produktion finde ich sehr wichtig
Das Konzept der 15-Minuten-Stadt kann nur funktionieren, wenn Wohnen, Arbeiten und Freizeit nicht in unterschiedlichen Vierteln angesiedelt sind. Damit rücken die Kieze stärker in den Fokus.
Carlos Moreno ist bekannt für sein Stadtkonzept der kurzen Wege. Im Gespräch erläutert er, wie die Wirtschaft ihren Platz darin findet.
© Jens Ahner – IHK Berlin
Berliner Wirtschaft: Sie haben erzählt, dass Sie häufiger in Berlin sind. Wie sehen Sie Berlin in Bezug auf Ihr Konzept der 15-Minuten-Stadt?
Carlos Moreno: Berlin ist strukturell schon eine Stadt der kurzen Wege. Außerdem gibt es in Berlin viel Natur. Das sind gute Ausgangsbedingungen, um den öffentlichen Raum weiterzuentwickeln. Und ich sehe gerade bei den jungen Leuten sehr viel Engagement dafür, die Kieze lebenswerter zu machen. Allerdings ist auch das Risiko der Gentrifizierung hoch.
Stichwort Gentrifizierung: In Barcelona liest man von Widerstand gegen die sogenannten Superblocks im Zentrum, weil das Wohnen dort zwar jetzt attraktiver ist, aber auch viel teurer. Sind steigende Mieten eine zwangsläufige Folge des Stadtumbaus?
Das stimmt, es gibt viele Diskussionen über die Superblocks in Barcelona. Aber Superblocks und das 15-Minuten-Konzept sind nicht ganz dasselbe. Die Superblocks sind eine lokal zentrierte Maßnahme. Bei der 15-Minuten-Stadt geht es um den Umbau der gesamten Stadt. Jedes Viertel soll lebenswerter werden. Das ist wichtig, um Gentrifizierungseffekte zu vermeiden.
Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, gilt als bekannteste Umsetzerin Ihres Konzepts. Welche Erfahrungen gibt es dort?
Zunächst einmal muss man sich bewusst machen, dass die Stadt Paris – also das Gebiet innerhalb des Stadtrings – die am dichtesten besiedelte Stadt Europas ist. Und Anne Hildago treibt den Umbau sehr zielstrebig und erfolgreich seit 2019 voran. Allerdings darf man nicht vergessen, dass sie „nur“ die Bürgermeisterin der Stadt Paris ist. Ihre Befugnisse enden am Stadtring. Jenseits des Rings gibt es im Großraum Paris elf Bezirke mit 132 Gemeinden, neun Millionen Einwohner mit einer anderen politischen Autorität. Umso glücklicher bin ich, dass die Präsidentin der Region Ile de France sich jetzt auch für ein auf die Region angepasstes Modell der 15-Minuten-Stadt entschieden hat. Die neue Strategie wurde 2023 verabschiedet und sieht konkrete Umsetzungsschritte bis 2040 vor. Das ist eine wirklich gute Nachricht.
Und würden Sie sagen, dass Ihr Konzept auch auf Berlin übertragbar ist?
Auf jeden Fall! Ich habe das auch schon mit verschiedenen Menschen hier in Berlin diskutiert. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Es wird Jahre dauern, aber es ist definitiv möglich. In Paris zum Beispiel haben wir einen Plan gemacht, wie wir die Dezentralisierung, die Renaturierung und die Förderung lokaler Wirtschafts- und Kulturaktivitäten schrittweise umsetzen wollen. Wir haben Schulhöfe am Wochenende für jedermann geöffnet. Wir haben in den einzelnen Quartieren die medizinische Versorgung verbessert, mehr kulturelle Angebote wie Kino oder Theater angesiedelt. Mehr soziale und kulturelle Aktivitäten beleben die Nachbarschaft und es entfalten sich auch mehr wirtschaftliche Aktivitäten. Mehr lokale Wirtschaft heißt weniger Pendlerverkehr, weniger CO2- und Feinstaubbelastung und mehr Klimaresilienz insgesamt.
Sie haben das Thema Wirtschaft angesprochen und die Berliner Wirtschaft ist ein Wirtschaftsmagazin. Da werden unsere Leser werden fragen: Wo ist Platz für die Wirtschaft in einer 15-Minuten-Stadt?
Das ist ein interessanter Punkt. Was wir nach der Pandemie nicht nur in Berlin, sondern auch in London, Paris, Madrid oder Lissabon sehen, ist ein Rückgang der Büronutzung. Immer mehr Menschen arbeiten zumindest tageweise remote. Nun ist Homeoffice nicht zwingend eine gute Sache, deshalb plädiere ich für sogenannte Intermediate Hubs in den Kiezen. Hier können die Leute remote arbeiten, sind nicht weit von zuhause weg und gleichzeitig wird dort die Infrastruktur vielfältiger. Riesige Single-Use-Bürotürme sind überholt. Wir müssen uns klarmachen, dass wir für diese Gebäude ein neues Geschäftsmodell brauchen.
Welche Rolle können beispielsweise Berlins rund 70 Einkaufszentren beim Umbau der Stadt spielen? Taugen Malls als Intermediate Hubs?
Das ist ein wichtiger Punkt. Der Einzelhandel spielt eine absolut zentrale Rolle bei der Transformation unserer Metropolen in Europa. In den 70er und 80er Jahren waren Malls Ausdruck des Zeitgeistes. Diese Zeiten sind aber vorbei und das Geschäftsmodell „Mall“ steckt seit Jahren in der Krise. Gerade die jüngere Generation geht zum Shoppen eher ins Netz als in eine Mall. Wir beobachten, dass in vielen europäischen Städten die Mall-Betreiber deshalb an alternativen Geschäftsmodellen arbeiten. In Frankreich hat etwa das Konsortium AFM, das an vielen namhaften Handelsketten beteiligt ist, ein neues Modell für kleinere, kompakte Einzelhandelsangebote in Innenstädten entwickelt und die großen Einkaufszentren in Multi-Use-Gebäude umgebaut. In diesen Gebäuden kann man jetzt einkaufen, arbeiten, ins Theater gehen oder auch wohnen.
BW: Und was ist mit dem produzierenden Gewerbe? Ein Industriebetrieb wird nicht in eine leergezogene Büro- oder Malletage passen.
CM: Die 15-Minuten-Stadt ist natürlich keine universelle Lösung für alle Herausforderungen in den Städten. Ich halte die Regionalisierung der Produktion für sehr wichtig. Das zeigen uns auch die Krisen der letzten Jahre. Wir müssen Made in Europe wiederbeleben. Wir dürfen dabei nur nicht die gleichen städtebaulichen Fehler machen wie im 20. Jahrhundert, als wir Wohnen, Arbeiten und Freizeit in unterschiedliche Viertel verbannt haben.
Was meinen Sie: Wie viel Zeit braucht eine Stadt wie Berlin für den Wandel?
Die Frage höre ich oft und ich gebe immer die gleiche Antwort (lacht): Es geht nicht um die Anzahl der Jahre. Es geht um die Frage, wann wir anfangen wollen. Dafür brauchen wir eine Strategie mit mittel- und langfristigen Maßnahmen. Unsere Priorität sollte sein, ein ruhigeres und friedlicheres Leben zu führen mit mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge in unserem Leben.
Professor Moreno, vielen Dank für das Interview und es war großartig, Sie auf unserem Kongress zu haben.
von Claudia Engfeld