Fokus

Arbeit sucht Kräfte

Um Lücken in Belegschaften zu schließen, gehen Berlins Unternehmen auch ­unkonventionelle Wege. Die IHK Berlin sieht noch Beschäftigungspotenziale, die es dringend zu heben gilt.
Krankenhäuser und Altenheime mit viel zu wenigen ­Pflegekräften, Hotels und Gaststätten ohne ­Service- Personal, IT-Dienstleister, die händeringend nach Spezialisten suchen: Schon jetzt fehlen der Berliner Wirtschaft 90.000 Fachkräfte, bis 2035 könnte die Zahl laut IHK-Fachkräftemonitor sogar auf 414.000 ansteigen. Diesen Fachkräftemangel zu bekämpfen, sei eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Berliner Wirtschaft. „Schließlich riskiert der Standort Berlin mit unbesetzten Stellen nicht nur Stilllegungen und Wegzüge von Betrieben, sondern auch, dass die kritische Infrastruktur und Versorgung der Bürgerinnen und Bürger nicht sichergestellt sind.“ Weichen, die heute nicht gestellt würden, hätten morgen gravierende Folgen.
Deshalb stünden die IHK Berlin und die anderen Wirtschaftsverbände bereit, zusammen mit dem Senat und den Arbeitsagenturen Potenziale im lokalen Arbeitsmarkt zu heben – zum Beispiel mit der beruflichen Eingliederung. Gut 200.000 Personen sind derzeit arbeitslos gemeldet, aber nur rund 12.260 davon nehmen aktuell an beruflichen Bildungsmaßnahmen teil. Zudem hat mehr als die Hälfte der Arbeitslosen keinen Berufsabschluss. „Hier sind Maßnahmen erforderlich, die zielgerichtet zum Berufsabschluss führen“, stellen die Verbände in ihrer Erklärung fest. Weiteres Potenzial sehen sie bei den 122.000 ­Berlinerinnen und Berlinern, die bislang noch ausschließlich einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, oder bei den knapp 508.500 Teilzeitbeschäftigten, denen Vollzeitbeschäftigung ermöglicht werden soll. Aber auch bei den rund 200.000 Studierenden, von denen gut 46.000 aus dem Ausland kommen – möglichst viele sollen nach dem Studium langfristig in Berlin gehalten werden.
Vom Fachkräftemangel sind in der Hauptstadt insbesondere die Branchen Gesundheitswesen und Pflege, Informationstechnologie und Digitalisierung sowie Tourismus und Gastronomie betroffen. „Unter dem Mangel leidet aber so gut wie jedes Berliner Unternehmen, wenngleich natürlich in sehr unterschiedlicher Ausprägung“, sagt Nicole Korset-Ristic, Vizepräsidentin der IHK Berlin. „Dies wird vor allem dadurch deutlich, dass zwei von drei Unternehmen den Fachkräftemangel derzeit als größtes Geschäftsrisiko überhaupt bewerten.“

Jobmessen und Weiterbildung

Mit einer Vielzahl an Initiativen und Maßnahmen hilft die IHK Berlin mit, die Fachkräftelücke zu schließen. Wie vielfältig die Angebote sind, verdeutlicht Vizepräsidentin Korset-Ristic an drei Beispielen: „Regelmäßig veranstalten wir Jobmessen für Geflüchtete, gemeinsam mit der Handwerkskammer und den Berliner Jobcentern. Wir setzen uns für ein zeitgemäßes und innovatives Weiterbildungsangebot sowie eine gute diesbezügliche Beratung ein – nicht zuletzt über unsere Plattform weiterbildung.berlin. Und zudem ermitteln und evaluieren wir durch Umfragen stetig die Bedarfe und konkreten Herausforderungen unserer Mitgliedsunternehmen, um deren Interessen bestmöglich gegenüber den politisch verantwortlichen Akteuren zu vertreten.“ So kam bei der jüngsten IHK-Umfrage heraus, dass der Mangel an Fachkräften bei den meisten Unternehmen – 43,7 Prozent von 590 befragten Berliner Firmen – durch das Ausscheiden von Mitarbeitenden in die Rente entsteht. 56,6 Prozent der Teilnehmenden wollen betriebliche Abläufe umstellen, damit weniger Personal benötigt wird.

Unkonventionelle Methoden

Um an dringend benötigte Fachkräfte zu kommen und sie zu halten, setzen Berliner Unternehmen sowohl auf bewährte als auch auf unkonventionelle Methoden – auf die Erhöhung ihrer Ausbildungsaktivitäten zum Beispiel, die Schaffung von inklusiven Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung oder die gezielte Suche nach ausländischen Talenten. Die Charité Universitätsmedizin etwa, mit rund 20.000 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber Berlins, hat eine Stabsstelle Integration Pflege eingerichtet, um Fachkräfte für Gesundheitsfachberufe aus verschiedenen Ländern zu rekrutieren. „Vor Ort arbeiten wir mit Kooperationspartnern, Sprachschulen und Universitäten zusammen“, sagt Carla Eysel, Vorstand Personal und Pflege. „Unsere Stabsstelle begleitet die Rekrutierung, organisiert Interviews, unterstützt bei der Dokumentenbeschaffung, vermittelt Sprachkurse – der Integrationsprozess beginnt somit schon im Heimatland.“ In Berlin kümmere sich die Stabsstelle dann um sämtliche behördliche und administrative Prozesse, einschließlich Deutsch-B2-Kurs, Kenntnisprüfung oder Anpassungsqualifizierung. „Pro Jahr“, so Eysel, „rechnen wir mit 550 bis 600 Einreisen.“
Andere Unternehmen lassen Fachkräfte aus dem Ausland über spezialisierte Personalvermittlungsagenturen suchen. Zu den Leistungen solcher Agenturen gehören in der Regel das Recruiting, die Qualifizierung und die Integration der ausländischen Talente. Für Arbeitgeber aus dem Gesundheitswesen sind in Berlin zum Beispiel der Start Placement Service von Startcon oder die Agentur Careloop tätig, die Jobsuchende aus fernen Ländern mit hiesigen Unternehmen zusammenbringt.
Einen anderen Ansatz verfolgt die Agentur Terratalent, die deutsche Auftraggeber mit Fachkräftepools in Schwellenländern vernetzt. Geschäftsführer Burkhard Volbracht arbeitete vorher bei der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Berlin Partner, an der auch die IHK beteiligt ist. „Ich habe dort den internen Bereich Talent Service verantwortet“, sagt Volbracht, und in diesem Talent Service habe er maßgeblich den Business Immigration Service (BIS) beim Landesamt für Einwanderung (LEA) mit initiiert. Der BIS ist ein Zusammenschluss aller für Visa- und Aufenthaltsfragen relevanten Akteure, also IHK, Handwerkskammer, Berlin Partner, Bundesagentur für Arbeit, zuständiges Bezirksamt und LEA. „Ohne qualifizierte Zuwanderung und Arbeitsmigration“, davon ist IHK-Präsident Sebastian Stietzel überzeugt, „werden wir der massiven Herausforderung des Fachkräftemangels nicht begegnen können.“

Ausbildungsoffensive der IHK

Immer mehr Unternehmen wollen ihren Fachkräftebedarf über Ausbildung – möglichst die duale – decken. Aktuell sind rund 18.000 betriebliche IHK-Ausbildungsverhältnisse registriert, im Handwerk rund 8.800. Mit der IHK-Ausbildungsoffensive sollen mehr Jugendliche für eine berufliche Ausbildung gewonnen, Ausbildungsangebote erweitert und das Matching zwischen potenziellen Azubis und Unternehmen verbessert werden – zum Beispiel durch das Angebot Praktikumswoche Berlin, bei dem es Jugendlichen ermöglicht wird, verschiedene Firmen und Berufe kennenzulernen.
Zur IHK-Ausbildungsoffensive gehört auch der Einsatz von Ausbildungsbotschafterinnen und -botschaftern, die im Rahmen der Berufs- orientierung Schülern der 9. und 10. Klassen ihre Berufe vorstellen und ihnen Rede und Antwort stehen. Sara Lehmann, Ausbildungskoordinatorin beim Elektrogroßhändler Obeta (s. S. 29), betreut rund 100 Azubis und hat sich von der Offensive anregen lassen: „Die Internetpräsenz der Praktikumswoche hat uns schnell überzeugt, und das Rundum-sorglos-Paket ,Ausbildungsbotschafter‘ ist eine große Arbeitserleichterung für uns, weil die IHK die Koordination übernimmt.“
Auf eine eher ungewöhnliche Methode der Fachkräftesicherung setzt Selman Özbek, Geschäftsführer des Garten- und Landschaftsbau-Betriebes Metre (s. S. 28). Er hat schon fünf gehörlose Mitarbeiter eingestellt und hofft, mit weiteren Gehörlosen seine noch offenen Stellen besetzen zu können. „Wir sind stolz, dass bei uns Menschen mit Behinderung Spielplätze für Kinder sicherer gestalten“, so Özbek.
von Almut Kaspar