BW 05/2022 - Schwerpunkt | Interview

„Einmal im Jahr an die Urne genügt nicht“

Nachgefragt bei Ludwig Erhard: Was der Vater der sozialen Marktwirtschaft über IHK-Wahlen, Inflation und Nachhaltigkeit denkt. Ein fiktives Interview
Er gilt als „Vater der sozialen Marktwirtschaft“ und ist Namensgeber des Ludwig Erhard Hauses, in dem die Industrie- und Handelskammer zu Berlin ihren Sitz hat. In seiner politischen Laufbahn war Ludwig Erhard zunächst Bundeswirtschaftsminister (1949–1963) und anschließend Bundeskanzler (1963–1966). Es gibt also keinen passenderen Gesprächspartner, um die laufende IHK-Wahl und die wirtschaftspolitische Lage einzuordnen.

Berliner Wirtschaft: Herr Erhard, die Mitglieder der IHK Berlin wählen aktuell ihre ­Vertreterinnen und Vertreter in der Vollversammlung. Wie ist Ihre Meinung zu diesem demokratischen Akt?

Ludwig Erhard: Demokratie setzt Partizipation voraus. Es genügt nicht, dass man das Volk einmal im Jahr an die Wahlurne führt und verführt.* Die Mitgliedsunternehmen sollten also die Möglichkeiten nutzen, um aktiv die Geschicke der Kammer zu beeinflussen.

Nun gibt es immer noch Unternehmerinnen ­und Unternehmer, die daran zweifeln, dass sie einen Einfluss auf die IHK haben, und deswegen nicht an der Wahl teilnehmen. Was würden Sie ihnen antworten?

Eine formierte Gesellschaft setzt eine informierte Gesellschaft voraus. Wir schufen das IHK-Gesetz 1956 im urdemokratischen Bestreben, eine Mitmach-Organisation für die Unternehmen zu schaffen. Keine hierarchisch geführte Behörde, sondern ein Selbstverwaltungsorgan. Ich kann alle nur dazu ermutigen, sich über die Beteiligungsmöglichkeiten zu informieren und mitzugestalten.

Kommen wir zur aktuellen wirtschaftlichen Lage. Sie haben ja vieles erlebt und kennen ­manche Umbruchsituation aus eigener Erfahrung. Die Menschen machen sich etwa Sorgen um steigende Preise, insbesondere im Energiesektor …

Die Inflation – eine unverzeihliche Sünde. Das Bemühen um ein stabiles Preisniveau steht an der Spitze der wirtschaftlichen Rangordnung. Alle verantwortlichen Stellen sollten das Problem mit höchster Priorität angehen, um den Unternehmen und Verbrauchern eine positive Perspektive zu bieten.

Gerade der Energiemarkt ist aber europäisch ­ und global so verflochten, dass sich eine Lösung nur für Deutschland nicht finden lässt.

Das ist richtig. Die Welt ist schon zu sehr integriert, ist zu sehr miteinander verflochten, als dass irgendein Land für sich sein eigenes Schicksal gestalten kann. Nur mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung der westlichen Demokratien lässt sich eine langfristige Lösung finden. Ohne Kompromisse wird es nicht gehen. Kompromisse setzen die Beherrschung der Kunst voraus, eine Torte so aufzuschneiden, dass jeder glaubt, er habe das größte Stück bekommen.

Verstehen Sie die Ängste vor möglichem ­Wohlstandsverlust und schmerzlichem Verzicht?

Wer den Gürtel nicht enger schnallen will, muss sich eben Hosenträger besorgen. Wer unserem Volke nichts anderes zu geben vermag, als besser leben und weniger arbeiten, der wird die Geister und Herzen auf die Dauer nicht gewinnen können. Und überhaupt: Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung. Ihn zu bewahren ist noch schwerer, als ihn zu erwerben.

Ein letztes Wort zur Nachhaltigkeit …

Wir werden mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen „Fortschritt“ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.

* Die hier in kursiver Schrift kenntlich gemachten ­Aussagen von Ludwig Erhard entstammen ­seinen Veröffentlichungen, Interviews und anderweitig überlieferten Zitaten.

von Dr. Mateusz Hartwich