BW 06/2022 - Schwerpunkt

Raus aus der Schule – rein in die Ausbildung

Gegen den Mangel an qualifizierten Mitarbeitenden hilft nur ein gemeinsames Vorgehen: mit Informationen, innovativem Matching und einem Imagewandel. Für Jugendliche darf die duale Ausbildung gegenüber einem Studium nicht nur zweite Wahl sein
Die Suche nach Fachkräften wird für viele Berliner Unternehmen zunehmend schwieriger. In der Baubranche etwa gibt es schon jetzt einen Mangel an passendem Personal. Durch Fluktuation und Renteneintritte gehen die Mitarbeiterzahlen zurück. Das sorgt auf vielen Baustellen für eine angespannte Beschäftigungssituation. „Der Arbeitsmarkt ist quasi leer gefegt“, berichtet Dieter Mießen von der Frisch & Faust Tiefbau GmbH. „Zuverlässige und motivierte Mitarbeiter sind derzeit nicht verfügbar“, fügt der kaufmännische Leiter des Pankower Unternehmens hinzu.
Die Situation wird sich ab Mitte der 2020er- Jahre in allen Branchen noch einmal verschlechtern. Dann erreichen die Jahrgänge der sogenannten Babyboomer das Renteneintrittsalter. So prognostiziert der Fachkräftemonitor der IHK Berlin für das Jahr 2035 in der Hauptstadt 377.000 fehlende Fachkräfte. Die Verschärfung geht maßgeblich darauf zurück, dass das Angebotspotenzial in Berlin in der nächsten Dekade deutlich sinken wird: 2035 werden dem Arbeitsmarkt nach den vorliegenden Berechnungen 423.000 weniger Fachkräfte zur Verfügung stehen als heute.
Dieser Herausforderung versucht das Bauunternehmen aus Pankow mit einem klassischen Erfolgsrezept zu begegnen: Es setzt langfristig auf eine gleichbleibend hohe Ausbildungsquote. Jeder fünfte Mitarbeiter des Unternehmens ist ein Auszubildender. „Für dieses Ziel hat Frisch & Faust vor vielen Jahren begonnen, ein eigenes Bildungsnetzwerk mit zahlreichen Partnern aufzubauen“, erklärt Dieter Mießen. „Aus diesem Netzwerk und der Bekanntheit als zertifiziertes Ausbildungsunternehmen speisen sich unsere Bewerbungen.“

Job sucht Bewerber

Allerdings spitzt sich auch die Situation auf dem Ausbildungsmarkt zu: Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft blieben zuletzt 40 Prozent aller Ausbildungsstellen in Deutschland unbesetzt. Am höchsten (60,4 Prozent) lag diese Quote demnach beim Verkauf von Fleischwaren. Ebenfalls einen hohen Anteil unbesetzter Ausbildungsstellen verzeichneten etwa die Berufe „Fachkraft im Gastronomieservice“ oder „Beton- und Stahlbetonbauer/-in“. Die Gründe dafür sind vielfältig. Oft genug passen Jobs und Bewerber nicht zusammen, oder sie finden sich in Zeiten der Pandemie erst gar nicht. Zudem beginnen sehr viele junge Menschen heutzutage lieber ein Studium als eine duale Ausbildung. Dazu kommt: Manche Betriebe haben geringes Interesse auszubilden oder schätzen ihre eigenen Möglichkeiten auf der Suche nach den Fachkräften von morgen nicht richtig ein. Höchste Zeit, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen. Die Rechnung ist ganz einfach: Wo heute Auszubildende fehlen, gibt es künftig zu wenig Fachkräfte. Entsprechend müssen auf allen gesellschaftlichen Ebenen die Anstrengungen verstärkt werden, der dualen Ausbildung als Königsweg der Fachkräftesicherung wieder mehr Bedeutung zu verschaffen.

Chancenreicher Karrierestart

Aber wie lassen sich junge Menschen für diesen chancenreichen Karrierestart überzeugen? Dieser Prozess beginnt bereits mit der Berufsorientierung: Klassische Instrumente wie Betriebsbesuche oder Praktika spielen hierbei eine wichtige Rolle. „Das eigene Ausprobieren und vielleicht auch das Mitnehmen von Dingen, die ich während des Praktikums geschaffen habe, bleiben länger im Gedächtnis als theoretisches Kennenlernen von Berufen“, betont Gerd Woweries, Geschäftsführer der ABB Ausbildungszentrum Berlin gGmbH. „Dazu zählen auch solche Formate wie unser Technik-Camp, wo Mädchen die Möglichkeit geboten wird, eine Woche lang in den Ferien sich im Bereich Metall – Elektro auszuprobieren, ergänzt Woweries.
Nach Überzeugung des Bildungsexperten ist aber auch eine Bewusstseinsänderung nötig, damit sich insgesamt wieder vermehrt junge Menschen für die duale Ausbildung gewinnen lassen. „Solange so getan wird, als ob die duale Berufsausbildung nur für die Jugendlichen geeignet ist, die es nicht zum Studium geschafft haben, wird sich wenig ändern“, so Woweries. „Es muss den Jugendlichen wieder vermittelt werden, dass eine Ausbildung sehr anspruchsvoll ist und es Menschen glücklich macht, mit dem eigenen Kopf und der eigenen Hände Arbeit Dinge zu schaffen, inklusive der attraktiven Karriere- und Verdienstmöglichkeiten nach einem erfolgreichen Abschluss.“
Den Blick möglichst früh für eine reflektierte Berufswahlentscheidung schärfen, dieser Ansatz wird auch mit dem Talente-Check sowie dem Showroom für die duale Ausbildung verfolgt. Seit dem vergangenen Jahr machen beide Angebote die Berufsorientierung zu einem modernen und zielgruppengerechten Erlebnis, bei dem die Schülerinnen und Schüler aller achten Berliner Klassen ihre Talente, Stärken und Potenziale spielerisch und ohne Leistungsdruck erkunden können und gleichzeitig erfahren, welche vielfältigen Möglichkeiten eine duale Ausbildung bietet.

Ausbildungsoffensive der IHK

Es ist nicht das einzige Angebot, bei dem die IHK Berlin eine Hauptrolle spielt. Mit einer breit aufgestellten Ausbildungsoffensive voller Innovationen und Formate möchte die Kammer in den nächsten drei Jahren bei Jugendlichen und Unternehmen für die duale Ausbildung werben. Dafür stellen die IHK-Mitgliedsunternehmen fast drei Mio. Euro zur Verfügung. Im Rahmen dieser Offensive will die IHK Berlin Antworten auf ganz unterschiedliche Zukunftsfragen finden: Wie lassen sich durch ein besseres Ausbildungsmarketing wieder mehr junge Menschen für eine duale Ausbildung gewinnen? Mit welchen Maßnahmen erhöht sich der Matchingerfolg von Betrieben und potenziellen Azubis? Oder auch: Wie kann die Zahl der ausbildungswilligen Betriebe gesteigert werden? Mithilfe der Kampagne sollen unter anderem zusätzliche Unternehmen gewonnen werden, die Betriebspraktika, Ausbildungen oder duale Studiengänge für interessierte Jugendliche anbieten. Weitere Angebote richten sich speziell an Studienaussteiger.
Ein wichtiger Schlüssel dafür, mit einem besseren Ausbildungsmarketing wieder mehr junge Menschen für die duale Ausbildung zu gewinnen, liegt in der zielgerichteten Ansprache der Generation Z. „Die 12- bis 19-Jährigen verbringen täglich mehr als 240 Minuten im Internet, einen Großteil davon in den sozialen Medien: Instagram, YouTube und TikTok gehören damit zum selbstverständlichen Alltag dieser Generation“, erzählt André Mücke, Geschäftsführer der DSA youngstar GmbH. „Für Ausbildungsbetriebe ist es daher besonders wichtig, auch auf diesen Plattformen stattzufinden, wenn man die junge Zielgruppe vom eigenen Ausbildungsplatzangebot überzeugen möchte.“
Unternehmen hätten hierbei die Möglichkeit, entweder eigene Social- Media-Kanäle aufzubauen oder sich erfolgreichen Kanälen wie „Mach’s wie wir!“ anzuschließen und diese zu nutzen. Gerade vor dem Hintergrund knapper Ressourcen ist das eine attraktive Alternative. Mach’s wie wir! gehört zu den Konzepten, die die IHK Berlin im Rahmen der Ausbildungsoffensive begleitet. Es bietet unterhaltsame Berufsorientierung in genau dem Format, das die Generation Z liebt: spannende und charmante Kurzvideos zu einzelnen Berufsbildern, produziert von und mit den aktuellen Azubis. Der Peer-to-Peer-Ansatz sorgt dabei auch dafür, dass die Berufsorientierung genau den richtigen Ton bei der Zielgruppe trifft.
Ein weiteres Aktionsfeld ist das Matching von Betrieben und potenziellen Azubis. Zielstellung der IHK beim Thema erfolgreiches Matching ist es, insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen zur Nutzung verschiedener Kanäle fürs Azubi-Recruiting zu animieren, beispielsweise durch Formate wie das Online-Event „Meet your Azubi“ oder die Ausbildungsmesse ­„Karriere Kick“.
Beim Karriere Kick treten ausbildungswillige Betriebe mit potenziellen Auszubildenden spielerisch in Kontakt und begegnen sich an einem von 25 aufgestellten Kickertischen. In jeder Runde bekommen die Jugendlichen über ihr Smartphone einen neuen Mitspieler eines Unternehmens zugelost. „Wenn wir am Kickertisch stehen, schaffen wir es, uns frei vor Vorurteilen echt und authentisch auf Augenhöhe zu begegnen“, weiß Johannes Kirsch. „Das Spielen am Kicker ermöglicht den niederschwelligen Einstieg, und anschließend besteht die Möglichkeit, sich ganz entspannt über die Themen Job und Ausbildung zu unterhalten“, so der Geschäftsführer der Kivent GmbH.
Das Berliner Unternehmen hat das unkonventionelle Matching-Format entwickelt, auch hier gibt es eine Kooperation mit der Kammer. Zusätzlich zum Messeauftritt schafft dabei eine dazugehörige App Anreize, sich noch intensiver mit dem Thema Berufsausbildung auseinanderzusetzen, denn über die App gelangen zum Beispiel auch die offenen Stellen der teilnehmenden Betriebe direkt auf die Smartphones der Jugendlichen.
Nicht zuletzt möchte die IHK Berlin mit zeitgemäßen Austausch- und Informationsformaten ihre Mitgliedsunternehmen dazu anregen, verstärkt in die eigene Ausbildung zu investieren. So versorgt das Angebot „Update Ausbildung“ in einem kurzweiligen einstündigen Format Ausbildungsunternehmen mit Wissen und aktuellen News rund um das Thema Ausbildung. Auch für noch junge Ausbildungsbetriebe hat die IHK ein neues Format mit dem Namen „Startschuss Ausbildung“ erfolgreich etabliert. In digitalen Workshops setzt die Kammer zudem einen Schwerpunkt auf konkrete Handlungsempfehlungen zur Umsetzung eines wirkungsvollen Azubimarketings.

Potenziale digital heben

Alle drei Angebote stehen digital zur Verfügung. Auf der einen Seite lassen sich dadurch Ausbildungsbetriebe noch besser step by step bei der Gestaltung erfolgreicher Ausbildung unterstützen. Auf der anderen Seite sind gerade digitale Formate auch langfristig ein guter Weg, neue Ausbildungsbetriebe zu gewinnen und für gute Ausbildung zu qualifizieren. „Mit unserer Ausbildungsoffensive setzt die Berliner Wirtschaft ein Zeichen: Wir wollen unseren Teil zur nachhaltigen Fachkräftesicherung beitragen, um das volle Potenzial Berlins zu nutzen – wir wollen mehr Ausbildung und mehr Auszubildende“, erklärt IHK-Präsident Daniel-Jan Girl. „Auch das ,Digital Education Lab‘ ist Teil der wichtigen Ausbildungsoffensive – ein Ort, an dem innovative Lösungen für den besseren Zugang zu Talenten sowie Fachkräften und die digitale Transformation praxisnah entwickelt werden.“
Bei dem Austausch und den gemeinsamen Projekten in der neuen Ideenschmiede geht es unter anderem auch darum, Instrumente zu finden, wie sich digitale Kompetenzen in der berufsnahen Ausbildung vermitteln lassen oder gerade kleine und mittelständische Unternehmen bei der Weiterentwicklung ihres Ausbildungsangebotes abgeholt werden können.

Lernplattform und Augmented Reality

Für Ausbildungsbetriebe ist es im Rahmen der digitalen Transformation der beruflichen Bildung wichtiger denn je, zu wissen, was eine Lernplattform bedeutet oder was man unter Augmented Reality sowie künstlicher Intelligenz versteht und wie Lösungen in diesem Bereich sinnvoll im Ausbildungsalltag eingesetzt werden können. „Damit sollen neben Azubis und Fachkräften auch Ausbilder, Prüfer und nicht zuletzt Unternehmer selbst erfahren, was heute schon etwa in der technischen Bildung möglich ist und was in Zukunft möglich sein wird“, sagt Ralf Detzel, einer der Geschäftsführer von Christiani. Das Unternehmen hat sich vom Fernlehrinstitut der Anfangstage zu einem der führenden Lehrmittelanbieter für den gesamten technischen Bildungsweg entwickelt und wird zu den Ankermietern des Digital Education Labs gehören. Dabei kommen nach Überzeugung von Detzel sowohl junge Menschen als auch Unternehmen im Ausbildungssektor bereits heutzutage an der Nutzung digitaler Lern- angebote nicht mehr vorbei. „Als Unternehmen kann ich den Wettbewerb um den Nachwuchs nur gewinnen, wenn ich mich im Bereich der Ausbildung mit gut qualifiziertem Ausbildungspersonal, sehr gut ausgestatteten Räumlichkeiten sowie mit guten, modernen und zukunftsweisenden Lernkonzepten perfekt aufstelle“, betont der Geschäftsführer. „Ohne digitale Lernangebote ist das nicht zu machen.“
Insgesamt hat die Pandemie in allen Bereichen noch einmal für einen enormen digitalen Schwung gesorgt. Der Einsatz digitaler Tools und Plattformen, die Unternehmen für ihr Azubi-Marketing und -Recruiting nutzen können, hat stark an Bedeutung gewonnen. Treiber dieser Entwicklung sind auch die EdTechs. Unter der Abkürzung lassen sich innovative und technologieorientierte Unternehmen und Start-ups zusammenfassen, die Lösungen, Services oder Produkte im Bereich der Bildungslandschaft anbieten.
Dazu gehört das Peer-to-Peer-Netzwerk talentify. Das innovative EdTech hilft Jugendlichen dabei, ihre Stärken und Talente zu entdecken, zu fördern sowie die richtigen Entwicklungspfade vorzugeben. „Durch unser zukunftsorientiertes Tool wird die Berufsorientierung in eine talentorientierte Richtung geführt, anstatt das Spektrum der Berufsauswahl nur auf Modeberufe zu reduzieren“, sagt Gerhard Oehling. „Dank automatisierter Prozesse werden dabei die qualifiziertesten Jugendlichen für unterschiedliche Ausbildungsstellen oder Traineepositionen vorgeschlagen. Andere Prozesse, wie die Erstellung von Stellenanzeigen oder die Vorauswahl, laufen ebenfalls automatisch ab“, fügt der Fachmann von talentify hinzu. „Das ergibt eine Zeitersparnis, genauere Matchingergebnisse, ein effizienteres Recruiting und damit zufriedenere Jugendliche und Unternehmen.“
Klar ist schon jetzt: Ein Ende der digitalen Weiterentwicklung von Lehr- und Lernangeboten in der Aus- und Weiterbildung ist noch nicht abzusehen, aber die Ansätze dafür können ganz unterschiedlich sein. „Wir bei Kiron Digital setzen vor allem auf partizipatives digitales Lernen, erklärt ­Sabrina Konzok. „Der Schlüssel zum Erfolg sind keine starren Kurse von der Stange, sondern digitale Projekträume, in denen Lernende miteinander Themen und neue Lösungen erarbeiten können“, so die Geschäftsführerin bei Kiron Digital. Gerade in einer Welt, die sich so rasant wandelt, gibt es aus Sicht der Bildungsexpertin immer weniger vorgefertigte und allgemein gültige Lösungen.

Digitales Lernökosystem

„Der Schlüssel zur Zukunft liegt in einer niederschwelligeren Verfügbarkeit von Lerninhalten und der daran anknüpfenden Anwendung auf den eigenen Arbeitskontext“, betont sie. „Gerade kleine und mittelständische Unternehmen sollten sich im Bereich digitaler Bildung zusammenschließen und gemeinsam ein digitales Lernökosystem für die Zukunft einzelner Branchen aufbauen.“ So können sie auch im Bereich Bildung mit Trends mithalten und von den Vorteilen der Digitalisierung profitieren.
Die gute Nachricht lautet also: Unternehmen können sich aus einer großen Anzahl Erfolg versprechender Lösungsansätze das passende Angebot heraussuchen. Große Unterstützung erhalten die ausbildungswilligen Betriebe von der IHK Berlin. Für die Gewinnung der Fachkräfte von morgen werden alleine im Rahmen der Ausbildungsoffensive viele smarte Ideen präsentiert, entwickelt, getestet und den Berliner Ausbildungsunternehmen wie Ausbildungsinteressierten zur Verfügung gestellt. Klar ist aber auch: Jedes Unternehmen wird die Instrumente nutzen und sich gleichzeitig individuell weiterentwickeln müssen, um sich personell für die Zukunft zu rüsten. Nur gar nichts zu tun, ist keine Alternative. Dazu reicht der Blick auf den Fachkräftemonitor der IHK Berlin.
oder
von Jens Bartels