Wirtschaftspolitische Position der IHK Region Stuttgart
Keine Gruppenklagen in Europa einführen – Kein Missbrauch durch Musterfeststellungsklagen
Positionen:
Die Einführung europaweiter Gruppenklagen wird wegen der erheblichen Missbrauchsrisiken zum Nachteil der Unternehmen von der Wirtschaft abgelehnt. Sollte sich die Rechtsentwicklung in der EU nicht aufhalten lassen und insbesondere in Deutschland die Einführung von Musterfeststellungklagen kommen, setzt sich die Wirtschaft in jedem Fall insbesondere für die Beachtung der nachfolgenden Kriterien ein:
- Nur der tatsächliche, nachweisbare Schaden darf zulässiges Klageziel sein. Der Ersatz des Schadens muss streng von der Bestrafung von Unternehmen und der Gewinnabschöpfung getrennt werden.
- Der geltend gemachte Schadensersatz sollte tatsächlich bei den Geschädigten ankommen und nicht der Befriedigung wirtschaftlicher Interessen anderer Verfahrensbeteiligter dienen.
- Für das beklagte Unternehmen dürfen keine unverhältnismäßigen Verfahrenskosten entstehen. Insbesondere anwaltliche Erfolgshonorare sollten nur im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Regelung des § 4a RVG vereinbart werden können.
- Das Verfahrensrecht darf keine Instrumente zur Durchsetzung von Vergleichen bei missbräuchlichen Forderungen bieten.
- Die Wirtschaft setzt sich für eine Opt-In-Lösung ein, d. h. Geschädigte müssen sich bewusst und gewollt an einer Sammelklage beteiligen.
- Gerade bei betroffenen KMUs muss die Waffengleichheit gegenüber professionellen Initiatoren von Gruppenklagen sichergestellt werden. Die Klagebefugnis der Verbände (qualifizierte Einrichtungen) – insbesondere solcher mit Sitz außerhalb Deutschlands – ist so zu gestalten, dass Missbrauch ausgeschlossen ist und auch Sicherheit im Hinblick auf die Erstattung von Verfahrenskosten gegeben ist.
- Eine Beweiserforschung nach US-Vorbild (Discovery) wird abgelehnt. Die Verfahrensgrundsätze des deutschen Zivilprozessrechts (insbesondere das „Loser-Pays-Prinzip“) müssen gewahrt bleiben.
- Das Schutzniveau von Datenschutz und Persönlichkeitsschutz sowie des Schutzes von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen darf durch Kollektivklagen nicht ausgehebelt werden.
- Die Wirtschaft lehnt ein „Forum-Shopping“ innerhalb Europas bei Sammelklagen ab.
- Eine Regelung muss sich auf grenzüberschreitende Fälle innerhalb der EU mit spürbarer Europa-Komponente beschränken; ansonsten fehlt der EU die Regelungskompetenz.
- Kollektive Klageinstrumente sollten nach Meinung der Wirtschaft allenfalls in ausgewählten Bereichen geschaffen werden und nur bei gesicherter Ausschaltung der zuvor genannten Risiken.
Hintergrund:
In den USA haben Gruppenklagen zu großen Wirtschaftsschäden mit der Zerschlagung vieler erfolgreicher Unternehmen und dem Verlust zahlreicher Arbeitsplätze geführt. Zugleich sind solche Klagen ein lukratives Geschäftsfeld für Rechtsanwälte und Fondsverwalter. Die Durchführung solcher Prozesse sind für Unternehmen wegen der erheblichen Kosten und zeitlichen Belastung, beispielsweise durch die extremen Beweiserhebungsverfahren, häufig existenzbedrohend. Das zwingt Unternehmen zu Vergleichen selbst in Fällen, in denen sich die Klage nicht oder kaum begründen lässt. In vielen Fällen kommen große Anteile der erstrittenen Schadensersatzbeträge nicht bei den Geschädigten an, sondern verbleiben bei Rechtsanwaltskanzleien und Fondsverwaltern.
Ein Teil der Gründe für die Fehlentwicklungen liegt im US-amerikanischen Prozess- und Anwaltsrecht, das vergleichbar auch in vom englischen Recht geprägten Mitgliedsstaaten existiert. Die EU könnte solche Fehlentwicklungen bei der Einführung von Gruppenklagen in Europa nicht verhindern, da ihr die Zuständigkeit für das Prozess- und Anwaltsrecht fehlt.
Zwar wird die Einführung von Gruppenklagen immer wieder mit dem Hinweis darauf gefordert, dass anderenfalls Verbraucher mit nur geringen Schadensersatzsummen faktisch von einer Geltendmachung von Ansprüchen ausgeschlossen werden. Auch wird vorgebracht, dass anderenfalls Unternehmen von der fehlenden Inanspruchnahme profitieren können. Im Vergleich zu den zuvor beschriebenen erheblichen, häufig existenzbedrohenden Risiken für die betroffenen Unternehmen erscheinen die Nachteile für den einzelnen Verbraucher aber gering. Hinzu kommt, dass gerade in Deutschland selbst bei geringen Streitwerten mit sehr überschaubarem finanziellen Einsatz geklagt werden kann und auch tatsächlich geklagt wird. Dies hängt insbesondere mit dem in Deutschland gebräuchlichen System von Rechtsschutzversicherungen, den streitwertabhängigen Gerichtskosten und Anwaltshonoraren sowie dem Grundsatz des deutschen Rechts zusammen, dass die unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat. Im Übrigen verfügt das deutsche Recht über ausreichend andere Instrumente, um gesetzwidrig erlangte Gewinne abzuschöpfen.