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Bloss nichts wegwerfen
Von außen sieht es aus wie eine Kneipe, von innen wie eine Galerie. Stimmt beides und trotzdem: das Wesen des Bistros Alt Gerlingen erkennt man erst, wenn man seine Chefin kennengelernt hat. Leyla Aydin ist nämlich nicht nur Wirtin, Künstlerin und Galeristen, sie hat auch eine Botschaft.
Die Kunstwerke sind bunt und echte Hingucker, schon allein wegen des Materials, aus denen sie bestehen. Aydin fertigt ihre Skulpturen und Bilder nämlich aus dem, was man normalerweise in die gelbe Tonne wirft. Die vierfache Mutter und Großmutter und gläubige Muslima möchte damit das Bewußtsein für Nachhaltigkeit stärken.
„Das kann man doch nicht wegwerfen“, ist einer von Aydins Lieblingssätzen, wenn sie ihre Schätze zeigt: Kaffeebohnenbeutel voll 3-D-Drucker-Abfällen, kniehohe Vasen gefüllt mit Kronkorken und Teelichthüllen, Stapel von CDs, Wollreste, alte Armbanduhren oder Autofelgen, um nur einige zu nennen.
Kunst vom Keller bis zum Dach
Die Werke, die daraus entstehen, füllen die Wände und Treppen ihres Bistros vom Keller bis zum Obergeschoss, WCs inklusive. Einen Teil verkauft sie aber auch – gern an diejenigen, die ihr das Material gebracht haben. Auf eines aber legt sie ganz großen Wert: „Immer mit Quittung, ich bin ein Gewerbebetrieb.“
Angefangen hat alles 2006, als das Bistro Alt Gerlingen mal wieder leer stand. Mehrere Pächter hatten sich an dem verwinkelten Gasthaus gegenüber vom Gerlinger Rathaus versucht und waren gescheitert. Aydin, die 1974 als Teenager nach Deutschland gekommen war, arbeitete damals im Kleiderladen des Roten Kreuzes gleich um die Ecke. Die Kollegen ermutigten die umtriebige Frau, sich als Wirtin zu versuchen. Zusammen mit Ehemann Esref übernahm die temperamentvolle und kommunikative Frau das Bistro.
Ein Missgeschick wird zur Initialzündung
Unter den Gästen war ein Künstler. Er bat Aydin, das Bistro für eine Ausstellung seiner Bilder nutzen zu dürfen, was ihm die Gastronomin gern erlaubte. Doch dann ereignete sich ein Missgeschick, das ihr weiteres Leben umkrempelte. Eines der Bilder fiel nämlich von der Wand und wurde dabei beschädigt. Der Künstler wollte es entsorgen, hatte aber die Rechnung ohne die Wirtin gemacht: „Das ist doch zu schade zum Wegwerfen, da kann man doch noch was draus machen“, war sie überzeugt und fing gleich damit an. Sie suchte verschiedene Materialien zusammen, denen eigentlich dasselbe Schicksal zugedacht war wie dem kaputten Bild, und schuf etwas Neues – zur großen Begeisterung des Künstlers.
Die Natur verlangt von uns, dass wir sie schützen
Seither lässt sich Leyla Aydin von Verwandten, Freunden und Fans Dinge schenken, die andere wegwerfen würden. „Nur gefährlich, verderblich oder schmutzig darf es nicht sein“, schränkt sie ein. Die Spenden kommen teils von weit her: Briefe auf Chinesisch zeigt sie in ihrem Aktenordner, ein Briefumschlag aus Halle liegt auf dem Tisch und daneben steht ein Papprohr mit Absender in Alaska. Alle gehören zu ihrem großen Freundeskreis. Im Minutentakt fallen Namen – immer mit „mein lieber ...“ oder „meine liebe ...“.
Ihre Ideen treiben Aydin schon morgens aus dem Bett
Woher hat sie ihre Ideen? „Ich wache morgens auf und es treibt mich aus dem Bett und dann weiß ich, wie ich etwas gestalten muss“, erzählt sie. Viel geschlafen hat sie dann nicht, denn das Alt Gerlingen kennt keinen Ruhetag, sondern hat täglich von 10 Uhr bis Mitternacht geöffnet, freitags und samstags sogar bis 1 Uhr. Wobei sich die Kreativität nicht auf Kunst beschränkt. Es gibt auch Events, zum Beispiel eine türkische Weinprobe.
Vor einigen Jahren hatte Aydin eine Ausstellung im Ludwigsburger Kreishaus unter dem Titel „Kunst als Recycling“. Auch Schulkinder hatte sie schon zu Gast, mit denen sie gebastelt hat, um sie für den Wert der Dinge zu sensibilisieren. Zu gerne würde sie beides noch öfter machen: Workshops für Kinder und Jugendliche und Ausstellungen. Alles um im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar zu machen, „die Natur verlangt von uns, dass wir sie schützen“.
Dr. Annja Maga, Redaktion Magazin Wirtschaft, für Rubrik Menschen und Ideen
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