Magazin Wirtschaft

Die Region greift nach den Sternen

Transformation ist das Stichwort: Die Automotive-Branche wird den Strukturwandel meistern, dürfte die Region aber nicht mehr so stark dominieren wie in den vergangenen Jahrzehnten. Andere Hoch­technologiebranchen gewinnen an Bedeutung – etwa die Luft- und Raumfahrttechnik.
Dies zeigen die Zahlen des Wirtschaftsministeriums: Demnach beschäftigt die Branche in Baden-Württemberg rund 16.000 Menschen und erwirtschaftet einen Umsatz von über fünf Milliarden Euro pro Jahr. Davon werden 17,5 Prozent wieder in Forschung und Entwicklung investiert. „Es ist viel zu wenig bekannt, wie stark wir in der Luft- und Raumfahrt bereits jetzt sind“, sagt IHK-Präsident Claus Paal. „Und das Potenzial ist mit Sicherheit noch viel größer.“ Besonders für Unternehmen, die bisher fast ausschließlich von der Automobilindustrie abhängig sind, biete dieser stark wachsende Sektor eine Chance, so Paal.
Rigo-Geschäftsführer Angel Canadas mit einem Präzisionsteil für eine Forschungsmission.
Es gibt in der Region Stuttgart Unternehmen, die diese Chance schon vor Jahren beim Schopf gepackt haben. Zum Beispiel die Rigo GmbH in Sersheim bei Vaihingen/Enz. „Wenn heute immer wieder von Transformation der Industrie die Rede ist, und dass die Abhängigkeit unserer Region vom Automotive-Sektor reduziert werden muss, kann ich nur sagen: Diesen Weg haben wir erfolgreich eingeschlagen“, sagt Geschäftsführer Angel Canadas.
Mehr als drei Jahrzehnte fertigte das Unternehmen Präzisionsteile für die Automobilindustrie und den Maschinenbau. Heute ist Rigo ein hochinnovativer Zulieferer für die Raumfahrt und laut Canadas als einziges Unternehmen in Deutschland in der Lage, Beryllium-Aluminium-Legierungen in der für die Branche notwendigen Präzision zu bearbeiten. Dieses Material ist 30 Prozent leichter als reines Aluminium und hat dabei eine sehr hohe Stabilität – Eigenschaften, die in Satelliten und Raketen geschätzt werden, weil jedes Gramm weniger wertvollen Treibstoff spart. Obendrein erträgt die Metalllegierung sehr hohe Temperaturschwankungen, ohne ihre Form zu verändern. Im Weltraum, wo es sowohl 200 Grad kalt als auch mehrere hundert Grad heiß werden kann, ist das ein klarer Vorteil.
Präzisionsteile aus Sersheim sind denn auch bei zahlreichen Raummissionen von NASA und ESA dabei. Etwa zum Mars (InSight, ExoMars) oder zu den Jupitermonden (JUICE). Für die BepiColombo-Mission zum Merkur lieferte Rigo die Mechanik für einige Instrumente, bestehend aus einer Legierung von 62 Prozent ­Beryllium und 38 Prozent Aluminium.

Rigo: Neueausrichtung sichert die Zukunft

Wie hat das die 30-Mitarbeiter-Firma aus dem Zabergäu geschafft? „Man braucht eine gewisse Beharrlichkeit“, sagt Canadas, der das Unternehmen seit seinem Eintritt in die Firma 2008 auf den neuen Kurs gebracht hat. Viel Zeit und Energie musste er aufwenden, um Netzwerke mit Unternehmen und Forschungseinrichtungen in den neuen Branchen zu knüpfen und Widerstände im eigenen Unternehmen zu überwinden. Letztlich habe der Kurswechsel Rigo die Zukunft gesichert, ist der Manager überzeugt. „In unserer Region gibt es zuhauf Unternehmen, die auf technisch hohem Niveau immer noch das gleiche machen wie wir damals. In einer solchen Situation entscheidet allein die Marktposition.“
Der Befreiungsschlag gelang Rigo 2012 mit dem ersten Großauftrag von Airbus DS Optronics, der heutigen Hensoldt AG. Heute macht das ursprüngliche Hauptgeschäft mit der Autoindustrie nur noch ein Prozent des Geschäftsvolumens aus. Um so weit zu kommen, hat der Mittelständler enorme Investitionen stemmen müssen. „Allein in die Messtechnik haben wir eine Million gesteckt“, sagt Canadas. Um seine Produkte unter Realbedingungen zu testen, hat sich das Unternehmen einen Vakuumofen konstruieren lassen, der sich auf 1350 Grad heizen und auf minus 145 Grad kühlen lässt – natürlich unter völligem Luftausschluss. Um die Branchenstandards für absolute Partikelfreiheit zu erfüllen, ist ein Reinraum unerlässlich, auch die Sicherheit der Mitarbeiter lässt sich das Unternehmen etwas kosten: So wird Beryllium in einer Unterdruckkammer verarbeitet, damit die potenziell gesundheitsschädlichen Partikel nicht nach außen dringen.
Die Expertise der Sersheimer in der Metallbearbeitung ist auch in anderen Branchen gefragt. „Wir fertigen Spiegel für Laserscanner aus reinem Beryllium mit einer Oberflächenreinheit im Nanometerbereich“, erklärt Angel Canadas. Gebraucht werden diese Spiegel für Laserscanner die unter anderem bei der additiven Fertigung zum Einsatz kommen. Hier wird mit einem starken Laserstrahl nach dem 3-D-Druck-Prinzip ein komplexes Bauteil schichtweise aus Metallstaub zusammengeschmolzen. „Die Berylliumspiegel haben einen sehr geringen Streu- und Leistungsverlust“, erklärt Canadas. „Sie ermöglichen konkurrenzlose 12.000 Bewegungen pro Minute und beschleunigen den gesamten Prozess erheblich.“ Für den Laserscanner-Hersteller Scanlab aus Puchheim bei München war diese Entwicklung so wichtig, dass er die Rigo GmbH Anfang des Jahres von der Gründerfamilie Goltz über seine Holding übernommen hat. Eine Minderheitsbeteiligung von zehn Prozent hat Geschäftsführer Canadas selbst erworben.
Wir bringen unseren Leuten selbst bei, was sie brauchen. Mitarbeiter mit diesen Kenntnissen findet man nicht am Markt
„Mechanisch operieren wir am Rande des Machbaren“, sagt der Firmenchef. Um höchste Präzision zu gewährleisten, müssen die Fräsmaschinen ständig neu kalibriert werden. Manche Arbeiten werden sogar von Hand gemacht, etwa das Entgraten komplexer Teile unter OP-Mikroskopen. Das ist notwendig, weil selbst winzige Grate, wenn sie abbrechen, ein Hunderttausend-Euro-Messinstrument zu Schrott machen. „Bis die Mitarbeiterinnen das richtig können, kann es schon mal zwei Jahre dauern“, so Canadas. Das sei aber gar nicht schlimm: „Wir bringen unseren Leuten selbst bei, was sie brauchen. Mitarbeiter mit diesen Kenntnissen findet man ohnehin nicht am Markt.“ Im Wettbewerb um gute Fachkräfte leidet der Mittelständler durchaus unter der Konkurrenz der zahlungskräftigen Großunternehmen in der Region. Wer bei ihm aber einmal an Bord ist, bleibt in der Regel: „Die Leute schätzen die Eigenverantwortung bei uns und wissen, dass sie anderswo oft nur drei Knöpfe drücken.“
Bleibt die Frage: Wozu das alles? Was ist der konkrete Nutzen der Milliarden, die Staaten und Privatunternehmen in die Raumfahrt stecken? Canadas verweist auf „die Elon Musks und Jeff Bezos dieser Welt“. Für sie sei die Raumfahrt kein Hobby, sondern ein Geschäftsmodell. Satelliten würden für autonomes Autofahren künftig ebenso unentbehrlich sein wie für die Vorhersage von Naturkatastrophen und sogar Erdbeben. „Wer das All beherrscht, beherrscht vieles andere auch.“
Auch IHK-Präsident Claus Paal sieht das so: „Der gesamte Bereich der Telekommunikation verlagert sich gerade ins All. Und daran hängen Anwendungen wie das autonome Fahren, die digitale Fabrik oder die Vorhersage von Naturkatastrophen.“
Der Markt ist also riesig. Nach einer Prognose der Investmentbank Morgan Stanley soll bis 2040 weltweit eine Billion Dollar für die Raumfahrt ausgegeben werden. 40 Milliarden beträgt derzeit das Jahresbudget für institutionelle und private Raumfahrt in den USA – viermal soviel wie in der EU. „Deutschland ist das einzige Land, das seine Budgets sogar zurückgefahren hat“, beklagt der Rigo-Chef. Für einen Mittelständler ist das kein einfaches Umfeld. Dennoch hat sich Rigo in seiner Nische bisher gut behauptet.

Tesat profitiert vom Satelliten-Boom

Der Nährboden für die Zukunftsbranche Luft und Raumfahrt ist in der Region fruchtbar. Das zeigt auch ein Beispiel vom anderen Ende der Region. Die Tesat-Spacecom GmbH in Backnang hat ihre Wurzeln in der Telekommunikationssparte von AEG. Nach einem langen Zwischenspiel in der Bosch-Familie ging das Unternehmen Anfang des Jahrtausends in den Besitz des EADS-Konzerns über, erhielt seinen heutigen Namen und wird heute als eine Tochterfirma von Airbus geführt.
Tesat-Geschäftsführer Thomas Reinartz.
Tesat-Geschäftsführer Thomas Reinartz. © Silicya Roth
Dennoch agiert Tesat mit seinen derzeit 1200 Mitarbeitern sehr selbstständig, denn das Kerngeschäft, die Produktion von Sendetechnik für die Satellitenkommunikation, reicht weit über den Mutterkonzern hinaus, wie Geschäftsführer Thomas Reinartz erklärt. Rund 75 Prozent ihrer Umsätze machen die Backnanger außerhalb der Airbus-Programme, etwa 60 Prozent in den USA. Zu ihren Kunden zählen Konzerne wie Thales Alenia Space, OHB, Lockheed Martin oder Northrop Grumman, auch praktisch alle europäischen Forschungsinstitute im Bereich der Luft- und Raumfahrt. „Unser Auftragsbestand liegt derzeit bei historisch hohen 700 Millionen Euro“, freut sich Reinartz.
So gut waren die Aussichten aber nicht immer. „Früher waren wir der Hoflieferant für praktisch alle geostationären Satelliten“, sagt Reinartz. „Wir produzierten pro Jahr 13 von 26 Einheiten, eine sehr große Menge für die Branche.“ Geostationäre Satelliten bleiben in einer sehr weiten Umlaufbahn (ca. 36.0000 Kilometer) mehr oder weniger über demselben Punkt der Erde. Vor knapp einem Jahrzehnt brach der Markt zusammen, heute werden in Backnang für diesen Satellitentyp nur noch sechs Sendeeinheiten pro Jahr gefertigt. Der Grund: Moderne Satelliten werden zunehmend in eine mittlere (mehr als 1200 Kilometer) oder eine erdnahe (200 bis 1200 Kilometer) Umlaufbahn gebracht. Dort bekommen sie nicht so viel schädliche Strahlung ab und umrunden die Erde mehrfach pro Tag, wobei sie eine große Menge Messdaten aufnehmen und senden können.
„Wir mussten erst einmal durch ein tiefes Tal der Tränen“, so Reinartz. Restrukturierung war angesagt, die Belegschaft schrumpfte um fast 20 Prozent. Als der heute 52-Jährige vor drei Jahren das Ruder in Backnang übernahm, war die Transformation noch am Anfang. Die TESAT musste sich auf die neuen Marktgegebenheiten einstellen und das Produktportfolio erweitern, wie z.B. die Digitalisierung der Datenübertragung und der Kommunikation zwischen Satelliten mittels Laser und Radiofrequenz. Dazu muss man wissen, dass Satelliten ihre Messdaten – etwa Temperatur, Luftmassenbewegung oder die Position von Schiffen und Flugzeugen – mittels Röhrentechnologie verstärken und zur Erde schicken. Diese „Wanderröhrenverstärker“ und die zugehörige Elektronik sind eine Spezialität von Tesat. Gerade für die erdnahen Trabanten gibt es mittlerweile auch digitale Alternativen, und in diesem Markt mischt das Backnanger Unternehmen gut mit.
Gut unterwegs sind die Spezialisten von der Murr auch mit einer anderen Zukunftstechnologie, der Laserkommunikation. Was dahinter steckt, erklärt Thomas Reinartz so: „Man kann ein Datennetzwerk mit Glasfaserverbindungen auf dem Erdboden aufbauen. Man kann es aber auch mit Laserkommunikation zwischen Satelliten im Orbit knüpfen. Das ist viel effizienter und leistungsfähiger.“ Um wieder Tritt zu fassen, hat die Tesat-Spacecom in Backnang in den vergangenen drei Jahren 45 Millionen Euro investiert in Gebäude und Fertigungstechnologien. Kopfzerbrechen macht Reinartz derzeit, wie so manchem Firmenchef in der Region, die Mitarbeitergewinnung. „Wir beschäftigen uns vor allem mit Elektrotechnik, und das erscheint auf den ersten Blick oft nicht so sexy.“ Man versuche deshalb, die spannenden Missionen in den Vordergrund zu rücken, denen die Entwicklungen letztlich dienen: „Es ist eben ganz etwas anderes, wenn man weiß, dass man für Galileo oder die ISS arbeitet.“
Die Bedeutung der Region Stuttgart als Standort für die Luft- und Raumfahrt werde weithin unterschätzt, ist der Tesat-Chef überzeugt. Immerhin fließen 40 Prozent des nationalen Raumfahrtbudgets hierhin. Und attraktiv sei die Region allemal – sowohl durch ihr Netz aus Hochschulen und Unternehmen, als auch was die Lebensqualität betrifft. „Aber anderswo versteht man sich besser darauf, sich zu inszenieren und publikumswirksame Aktivitäten in den Vordergrund zu stellen“, sagt Reinartz, der selbst lange im Raum München tätig war.

Astos: Dienstleister für Startups

Andreas Wiegand von der Astos GmbH.
Andreas Wiegand von der Astos GmbH. © Silicya Roth
Mit Satelliten beschäftigt man sich auch bei der Astos Solutions GmbH. Das Unternehmen ist 2006 als Spin-off des Instituts für Flugmechanik und Regelungstechnik der Universität Stuttgart gegründet worden und sieht sich als Weltmarktführer für Software zur Leistungsanalyse von Raumtransportsystemen. Hieran arbeiten am Firmensitz in Stuttgart-Vaihingen etwa 30 Mitarbeiter – zum Großteil IT-Fachleute und Luft- und Raumfahrtingenieure, wie Geschäftsführer Andreas Wiegand erklärt.
Wer ein Satellitennetz aufbauen will, zum Beispiel um flächendeckende Telekommunikation zu ermöglichen, muss unter anderem wissen, wie viele Satelliten man braucht, wie viel Energie diese benötigen und welche Umlaufbahn für den Bodenkontakt optimal ist. Bedingungen, die man mit Hilfe der Astos-Software vorab ermitteln kann. In einem weiteren Prozessschritt werden Simulationen zwecks Validierung vorgenommen: Um das Verhalten eines Satelliten zu testen, gaukelt ihm das Programm vor, er befände sich bereits im All. „Für die Betreiber sind solche Informationen essenziell“, weiß Wiegand, denn: „Sind die Satelliten erst einmal im Orbit, kann man sie nicht mehr zwecks Reparatur zurückholen.“
Das Stuttgarter Unternehmen profitiert von der Startup-Welle, die seit rund neun Jahren durch die Branche rollt. „Wir befinden uns mitten in der Restrukturierung, weg von der institutionellen, hin zur privaten Raumfahrt“, sagt Wiegand. Rund 40 internationale Startups zählt Astos Solutions zu seinen Kunden – darunter Firmen aus den USA und Südkorea. Bisher ist Astos Solutions noch auf öffentliche Fördergelder angewiesen. „Interessant sind für uns vor allem Projekte, die durch die Industrie kofinanziert sind und uns eine Vorbereitung auf den kommerziellen Markt ermöglichen“, so der Firmenchef. Denn trotz des vorausgesagten Booms in der Raumfahrt besteht die Gefahr, dass im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern die staatliche Förderung in Deutschland gekürzt wird.

Thales: Der Big Player operiert aus Ditzingen

Dr. Anusch Arezki, COO von Thales Deutschland.
Einer der größten Player der Branche ist der französische Thales-Konzern. Sein wichtigster Standort in Deutschland für den Bereich Raumfahrt ist Ulm mit 500 Beschäftigten. Hier werden für Satelliten jährlich bis zu 2000 Wanderfeldröhren produziert, bei denen Thales weltweit führend ist. Hier wurde auch der Xenon-Ionenantrieb für den Kommunikationssatelliten Heinrich Hertz entwickelt, der 2023 ins All startete. Doch auch in der Deutschland-Zentrale in Ditzingen, Kreis Ludwigsburg, wird für die Branche gearbeitet – hier mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Sicherheits- und Verteidigungstechnik. So werden bei Thales in Ditzingen Bodenüberwachungsradare für militärische Zwecke entwickelt und hergestellt. Die mobilen und eher kleinen Geräte dienen u. a. dazu, angreifende Drohnen zu orten, damit sie anschließend mit entsprechenden Abwehrwaffen abgeschossen werden können. Die Systeme können von zwei Soldaten im Gelände binnen zehn Minuten auf- und wieder abgebaut werden. Darüber hinaus lassen sie sich auch auf Masten oder Fahrzeuge montieren. Seit dem Ukraine-Krieg ist die Produktion in Ditzingen deutlich angewachsen.
»Die forschungsstärksten Städte in ganz Europa sind hier in unmittelbarer Nachbarschaft.«
Ein weiterer in Ditzingen angesiedelter Bereich ist die Kryptologie und das Schlüssel-Management. Softwareexperten arbeiten hier daran, die gesicherte Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Geräten zu gewährleisten. So stellen Verteilsysteme von Thales die kryptografische Versorgung des Airbus A400M und anderer fliegender Plattformen der Bundeswehr sicher. Insgesamt sind in der Ditzinger Thales-Zentrale 650 Mitarbeiter beschäftigt.
Dr. Anusch Arezki, COO von Thales Deutschland, ist voll des Lobes über den Standort: „Die Region Stuttgart verfügt über eine ausgezeichnete Verkehrsinfrastruktur mit Anschluss an alle wichtigen europäischen Wirtschaftszentren, was für uns als Teil eines internationalen Konzern extrem wichtig ist, sagt sie. Darüber hinaus seien die forschungsstärksten Städte in ganz Europa mit ihren Hochschulen, Instituten und Forschungszentren in unmittelbarer Nachbarschaft. Im Ditzinger Headquarter arbeitet rund ein Drittel der 2000 deutschen Thales-Beschäftigten. „Sie wissen die hohe Lebensqualität hier in der Region zu schätzen, in der ein reichhaltiges kulturelles Angebot und vielseitige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung existiert“, so Arezki.

Acentiss: Bayerischer Anbieter auf den Fildern

Arnd Sauer, Niederlassungsleiter von Acentiss.
Arnd Sauer, Niederlassungsleiter von Acentiss. © Silicya Roth
Dass die Region als Standort für die Luft- und Raumfahrt Gewicht hat, zeigt sich auch darin, dass Unternehmen aus dem vermeintlichen Branchenparadies Bayern hier Ableger treiben. Etwa die Acentiss GmbH, ein Tochterunternehmen der IABG aus Ottobrunn bei München. Der Ingenieurdienstleister hat Schwerpunkte in der Konstruktion und Entwicklung von Leichtbauelementen für die Luftfahrt sowie in der Zulassung von Teilen bei der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA). „Die Sicherheit und der zugehörige Zulassungsprozess werden immer wichtiger“, sagt Arnd Sauer, der die Acentiss-Niederlassung in Leinfelden-Echterdingen mit fünf Mitarbeitern leitet. „Diese Bereiche umfassen rund die Hälfte der Ingenieursarbeit.“ Dienstleistungen, die direkt vor Ort bearbeitet werden, waren zum Beispiel Flugzeugsitze für die Firma Recaro aus Schwäbisch Hall oder so genannte elektrohydraulische Aktuatoren, mit denen Steuerflächen von Linienflugzeugen und Businessjets bewegt werden. Dieses Projekt haben die Acentiss-Projektleiter für den oberschwäbischen Maschinenbauer Liebherr realisiert. Das Unternehmen ist allgemein für Baumaschinen und Gefriergeräte bekannt, erzielt aber mehr als ein Zehntel seines Umsatzes mit dem Bereich Aerospace und Verkehr.
Stolz ist Arnd Sauer auf den Beitrag der Acentiss zum vollelektrisch angetriebenen Testflugzeug „Elias“: Für den in Leichtbauweise hergestellten Flieger wurden der Elektromotor, die Tragflächen, die Bodenstation und das elektrisch einziehbare Fahrwerk entwickelt. Eine kommerzielle Anwendung habe man nicht im Auge, sagt Sauer. „Es ging uns in erster Linie darum, zu zeigen, dass vollelektrisches Fliegen machbar ist – auch im Hinblick auf mittlerweile schon umgesetzte Entwicklungen wie Flugtaxis oder so genannte eVTOLs.“ Das Kürzel steht für electric vertical Take-off and Landing, also elektrisch angetriebene Fluggeräte, die senkrecht starten und landen können. Des Weiteren will Acentiss künftig auch Entwicklungen im Bereich Wasserstoff in der allgemeinen Luftfahrt mit Projektmanagement und Engineering unterstützen. Auch dort gibt es vielversprechende Ansätze in Baden-Württemberg.
»Die Unternehmen im Südwesten haben schon mehr als einen Strukturwandel
bewältigt.«
Gerade auf diesem Gebiet strebt die Region nach einer führenden Rolle. Klimafreundlichere Antriebe sind ein erklärter Schwerpunkt der Luft- und Raumfahrtstrategie, die das Land Baden-Württemberg im vergangenen Jahr mit einem Fördervolumen von 42 Millionen Euro auf den Weg gebracht hat. Unterstützt wird auch das „Hydrogen Aviation Center“, das am Flughafen Stuttgart den Einsatz von Brennstoffzellenmotoren erprobt. Das federführende Startup H2Fly hat ein viersitziges emissionsfreies Testflugzeug seit Jahren in Betrieb. Kürzlich wurde das Flugtaxi eines Partnerunternehmens mit einem Brennstoffzellensystem aus Stuttgart ausgestattet und auf eine Reichweite von mehr als 800 Kilometer gebracht. An einem Passagierflugzeug mit 40 Sitzen arbeiten die Konstrukteure des Startups derzeit intensiv.
Der Südwesten ist also schon jetzt weit mehr als Automotive. Sei es modernste digitale Satellitenkommunikation, neue Materialien oder die Vision des emissionsfreien Fliegens: Firmen aus Baden- Württemberg und der Region sind immer dabei. Und, so IHK-Präsident Claus Paal: „Die Unternehmen im Südwesten sind innovativ und anpassungsfähig. Sie haben schon mehr als einen Strukturwandel erfolgreich bewältigt.“

Walter Beck, Redaktion Magazin Wirtschaft