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Der Mensch im Mittelpunkt
Babybonus, Viertagewoche und Freiraum für Kreativität und Selbstentfaltung: Eine nachhaltige Unternehmenskultur mit Wertschätzung gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist ein echter Wettbewerbsvorteil. Zwei Unternehmen im Norden zeigen, wie es geht.
Anja Pleus und Thies Schmeling im Neubau der Topmotive Group in Bargteheide
© 54°/Felix Koenig
Einen Tanzsaal bei einem Softwarehersteller vermutet wohl kaum jemand. Wenn Anja Pleus durch das lichtdurchflutete Erdgeschoss ihres Unternehmens in Bargteheide führt, kommen viele direkt ins Staunen. Loungemöbel und Kicker reihen sich kreativ angeordnet an Strandkorb und Billardtisch. Der riesige Raum ist Open Space, moderne Kantine und Mitarbeiter-Treffpunkt zugleich - liebevoll “Tanzsaal“ genannt. Bereits bei der Konzeption des 2019 bezogenen Neubaus war der Geschäftsführerin der Topmotive Group klar, dass hier der Mensch im Mittelpunkt stehen soll. “Wir wollten Flächen schaffen, wo sich alle wohlfühlen und einbringen können“, sagt Pleus.
So konnten die Mitarbeiter einzelne Räume mit einem Budget von 5.000 Euro individuell gestalten, in den Fluren hängen Bilder des Topmotive-Fotowettbewerbs - Urlaubsmotive und sogar persönliche Aufnahmen aus dem Kreißsaal haben die Kollegen dort aufgehängt. “Wir nennen unsere Unternehmenskultur den Topmotive-Family-Spirit. Jeder darf so sein, wie er will“, so Pleus. Rund 300 Menschen arbeiten bei dem IT-Unternehmen, das Softwarelösungen für die Automobilbranche entwickelt.
Der nachhaltige Ansatz fange bereits beim Vorstellungsgespräch an: “Uns bringt der erfahrenste Experte nichts, wenn das Team nicht funktioniert. Wichtig ist, dass es menschlich passt, auch wenn jemand noch ein Jahr braucht, um sich das nötige Know-how anzueignen.“ Zu einer nachhaltigen Personalpolitik gehöre auch, dass ein Mensch mal Tiefen erlebt. Wichtig sei, den Mitarbeitern zur Seite zu stehen und Freiheiten zu lassen. Das zahle sich langfristig aus, sagt auch Topmotive-Mitgesellschafter Thies Schmeling: “Unser Unternehmen ist europäischer Markt- und Innovationsführer. Freiraum und positive Energie sind wichtig, um weiterhin neue Impulse zu bekommen. Außerdem bleibt das Wissen unserer Mitarbeiter so lange im Unternehmen, auch das lohnt sich.“
Und wie in einer Familie gehe es bei einer gelebten Unternehmenskultur auch um Wertschätzung: So bekommen die Mitarbeiter bei einer Geburt oder Hochzeit einen Bonus ausgezahlt, im Todesfall erhalten ihre Kinder das halbe Gehalt bis zur Volljährigkeit. Auch ökologische und soziale Nachhaltigkeit spielen bei dem IT-Unternehmen eine große Rolle: “Wir sind seit drei Jahren klimaneutral, unser Neubau ist extrem energieeffizient“, so Schmeling. Darüber hinaus unterstütze die eigens gegründete Stiftung “Topmotive Kids and more“ regionale Projekte sowie Kitas und Sportvereine. Von dem erfolgreichen Kurs zeugen auch viele Auszeichnungen - so hat etwa chip.de Topmotive als besten IT-Arbeitgeber in Deutschland im Automotive-Bereich ausgezeichnet
Doch was genau versteht man eigentlich unter einer nachhaltigen Unternehmenskultur? “Der klassische Nachhaltigkeitsbegriff umfasst die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales“, sagt Professorin Dr. Natascha Kupka, die an der Fachhochschule Kiel das Modul “Nachhaltige Unternehmenskultur“ entwickelt hat. Der soziale Aspekt von Arbeit gehe jedoch oft verloren, was vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der Notwendigkeit, Personal an das Unternehmen zu binden, nicht vorausschauend sei. “Unternehmen und Mitarbeiter profitieren gleichermaßen von einer nachhaltigen Unternehmenskultur. Durch einen wertschätzenden Umgang, eine Kultur des Miteinanders, die Förderung der individuellen Stärken können Unternehmen Mitarbeiter langfristig an sich binden“, so Kupka.
Professorin Dr. Natascha Kupka
© MATTHIAS PILCH
Von Vorteil sei, wenn Mitarbeiter möglichst früh mit der Thematik vertraut gemacht werden. Die für eine nachhaltige Unternehmenskultur notwendigen Kompetenzen könnten aber jederzeit erworben werden. Zu Anfang stehe dabei stets die Selbstführungskompetenz der Führungskraft. Wer authentisch und integer auftritt und sich mit Wertschätzung begegnet, dem werde gleiches entgegengebracht. “Angemessenes Vertrauen in die Mitarbeitenden ist eine häufig unterschätze wirtschaftliche Ressource“, sagt die Professorin. Kupka ist sich sicher: “Wenn Unternehmen dem Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter einen hohen Stellenwert beimessen, kann das zum Wettbewerbsvorteil werden. Die gelebte Kultur einer Organisation ist entscheidend für den langfristigen Erfolg in der sich wandelnden Arbeitswelt.”
Sich von anderen Unternehmen abheben und etwas machen, was sich andere nicht trauen - aus dieser Motivation heraus stellte die Riecke und Theobald GmbH ihren Betrieb Anfang 2020 auf eine Vier-Tage-Woche um. “Wir wollten etwas auf die Beine stellen, um unsere Mitarbeiter langfristig zu halten und ihre Zufriedenheit zu steigern. Nur am Gehalt zu drehen, war uns zu wenig“, sagt Michael Theobald, einer der beiden geschäftsführenden Gesellschafter des Heizungs- und Sanitärunternehmens in Hennstedt im Kreis Dithmarschen. Das Feedback von Belegschaft und Kunden sei seitdem durchweg positiv. “Unsere Kollegen arbeiten in einer 37-Stunden-Woche montags bis donnerstags neun Stunden und eine Viertelstunde täglich. Die Arbeitszeit in der Woche bleibt also gleich, die Kunden merken keinen Unterschied“, ergänzt Mitgeschäftsführer Sascha Riecke.
Sascha Riecke (links) und Michael Theobald
© RIECKE UND THEOBALD GMBH
Die Vorteile des Arbeitszeitmodells liegen neben der Fachkräftegewinnung vor allem in der Nachhaltigkeit. Die Mitarbeiter seien insgesamt ausgeruhter und es gebe weniger Krankentage. Außerdem stoße das Unternehmen weniger CO2 aus und spare Kraftstoff, da die Firmenfahrzeuge einen Tag weniger unterwegs sind. “Auch das war fürs uns ein sehr wichtiger Ansatz“, so Riecke. Nur mit einer Wendung hatten die beiden Geschäftsführer nicht gerechnet: “Wir hatten erwartet, dass unsere Mitarbeiter den Freitag mit ihren Familien verbringen, stattdessen treffen sich viele freitags zum Angeln – auch dadurch ist der Zusammenhalt deutlich gewachsen“, sagt Theobald mit einem leichten Schmunzeln.
Benjamin Tietjen
Veröffentlicht am 1. Juni 2022
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