Den örtlichen Fußballverein unterstützen und Arbeitsplätze schaffen – wenn es nach dem Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) geht, reicht das nicht mehr. Die Bewegung setzt sich für eine ethische Wirtschaftskultur ein. Auch in Schleswig-Holstein ist sie bereits angekommen, besetzt allerdings noch eine Nische.
Auf 3.000 Quadratmetern hat das Christian Jensen Kolleg in Breklum einen Garten der Sinne geschaffen.
Das Summen von Bienen erfüllt die Luft, es duftet nach frischen Gartenkräutern, in den Beeten wachsen Salat, Radieschen und Erdbeeren. Auf 3.000 Quadratmetern hat das Christian Jensen Kolleg in Breklum einen Garten der Sinne geschaffen, um seine Gäste über Natur, Gärtnern und Umweltschutz aufzuklären. Obst und Gemüse landen in der Küche der kirchlichen Tagungs- und Bildungseinrichtung – oder in Privathaushalten, denn der Park ist offen für jeden. „Wir möchten, dass die Gäste sich wohlfühlen, gerne wiederkommen und etwas mitnehmen. Als kirchliches Bildungshaus ist es uns wichtig, ein Vorzeigebetrieb zu sein. Unsere Energieversorgung ist klimaneutral, wir kochen mit regionalen Produkten, viel vegetarisch und bieten unseren Mitarbeitern verschiedene Benefits wie etwa eine Zusatzrente“, erklärt Geschäftsführer Stefan Schütt. Einige der Maßnahmen hat der Betrieb 2015 nach seiner ersten Gemeinwohl-Bilanz eingeführt. „Die ethischen Werte und der Klimaschutz, auf denen das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie basiert, passten gut zu uns“, so Schütt weiter.
Die ethischen Werte und der Klimaschutz, auf denen das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie basiert, passten gut zu uns.
Stefan Schütt
Die Gemeinwohl-Bilanz unterscheidet sich stark von anderen Zertifizierungen für Unternehmen, obwohl es auch hier Testat und Siegel gibt, die unter anderem für Werbezwecke genutzt werden. Die Bilanz misst nicht nur eine Komponente wie die Qualität als Arbeitgeber oder die biologische Herkunft der Lebensmittel, sondern den Beitrag, den das Unternehmen im ganzheitlichen Sinne für das Gemeinwohl leistet. Die Vision: ein zukunftsfähiges Wirtschaften, bei dem es weniger um Profit und mehr um Menschen und Umwelt geht. Die Bewegung baut auf den Werten Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitbestimmung auf. „Ein weiterer Unterschied zu anderen Zertifizierungen ist, dass es keine Mindestanforderungen für eine Bilanz gibt. Auf einer Skala von -3.600 bis 1.000 Punkten kann alles herauskommen. Null bedeutet, dass das Unternehmen nichts Schlechtes, aber auch nichts Gutes für das Gemeinwohl bewirkt. Auf Basis des Ergebnisses kann der Betrieb sich Ziele setzen und sich entwickeln“, erklärt Frauke Hellwig.
Die Medienfachwirtin ist Mitgründerin der GWÖ-Regionalgruppe Schleswig-Holstein Nord und bietet als zertifizierte Gemeinwohl-Referentin Workshops und Vorträge zu dem Thema an. „Als ich mich 2018 selbstständig gemacht habe, habe ich mich gefragt, was ich für eine Unternehmerin sein möchte. Die Gemeinwohl-Ökonomie passte gut zu meinen Werten“, so die Projektmanagerin und Grafikdesignerin. 2019 stellte sie das Thema bei der Flensburger Branding- und Digitalagentur visuellverstehen vor, woraufhin das Unternehmen die erste Bilanzierung vornahm und in 2022 und 2023 durch Frauke Hellwig die Re-Bilanzierung umsetzen ließ. Die Zusammenarbeit funktionierte so gut, dass die 33-Jährige dort nun als Projektmanagerin arbeitet und zusätzlich im Namen des Unternehmens Workshops zur GWÖ anbietet.
„Uns ist bewusst, dass das Engagement innerhalb der wirtschaftlichen Möglichkeiten liegen muss.“
Frauke Hellwig
Mit 25 Mitgliedsunternehmen in der Regionalgruppe und 20 zusätzlich Gemeinwohl-engagierten Betrieben ist die GWÖ-Bewegung in Schleswig-Holstein noch überschaubar. Denn neben dem Kerngeschäft eine Bilanzierung zu wuppen, ist mit Aufwand und Kosten verbunden. Das können viele Betriebe – gerade nach den Herausforderungen der Corona-Pandemie und Energiekrise – nicht leisten. „Ich verstehe die Zurückhaltung der Unternehmen, das Thema anzugehen. Der Aufwand ist groß im Verhältnis zu dem, was am Ende herauskommt. Ein Bildungsbetrieb wie wir hat es leichter, eine Bilanz aufzustellen“, so Stefan Schütt. Hellwig schätzt den Aufwand auf 200 bis 450 Arbeitsstunden pro Bilanzierung. „Uns ist bewusst, dass das Engagement innerhalb der wirtschaftlichen Möglichkeiten liegen muss.“ Unternehmen, die keine externe Auditierung oder Begleitung möchten, können zunächst intern an sich arbeiten und später die Bilanz erstellen“, sagt die GWÖ-Expertin.
Die Vision der GWÖ: Bilanzierte Unternehmen sollen zukünftig begünstigt werden – in Form von Steuervorteilen oder vereinfachtem Zugang zu Fördergeldern. Ein weiterer positiver Nebeneffekt sei laut Hellwig, dass die Bilanz gerade kleinen und mittleren Unternehmen dabei helfe, ihr Geschäftskonzept zu überdenken und zukunftsfähig aufzustellen. „Start-ups vermarkten teilweise das gleiche Produkt, das bereits KMUs produzieren, nur eben in nachhaltig. Da sehe ich großes Potenzial für die Entwicklung des Mittelstands“, so Hellwig. Mit dem Engagement für das Gemeinwohl stellten Unternehmen sich zudem als attraktive Arbeitgeber auf. „Gerade jüngere Menschen wählen ihren Arbeitgeber auf Basis von Werten. Und durch einen gemeinsamen Bilanzierungsprozess verankern sich die Werte in der Belegschaft, und die Verbundenheit mit dem Unternehmen wird gestärkt.“ Die Gemeinwohl-Ökonomie bereite die Wirtschaft auch auf kommende gesetzliche Rahmenbedingungen vor, argumentiert Frauke Hellwig. Sie denke da etwa an das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder die EU-Nachhaltigkeitsberichtspflichten.
Im Juni dieses Jahres erhielt das gemeinnützige Unternehmen sein drittes Testat. „Auf die Entwicklung der letzten Jahre sind wir schon stolz“, so Stefan Schütt. Der 59-Jährige und sein Team haben das Ergebnis ihrer Bilanz in neun Jahren von 447 auf 589 Punkte gesteigert. Und Schütt möchte weitermachen: „In zwei bis drei Jahren werden wir uns wahrscheinlich der vierten Gemeinwohl-Bilanzierung widmen.“