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Ein Anker für den Stadtteil
Es war ein harter Schlag für Christoph Hartwig, der die Adler-Apotheke im Kieler Jungfernstieg zum Jahresende 2023 abgeben wollte: Obwohl er frühzeitig eine Nachfolge suchte, hieß es im März nur noch „aufgeben“. Aber eine WhatsApp-Nachricht seiner Mitarbeiterin Hede Neumeister änderte alles.
© Adina Merkel
„Zum Neuanfang alles Gute!“ Eine Kundin überreicht der sichtlich gerührten Hede Neumeister einen bunten Blumenstrauß und bedankt sich herzlich. „Es ist so schön, dass die Apotheke bleibt!“ Zwischen den massiven Eichenholzschränken, antiken Apothekergläsern aus vergangenen Jahrzehnten und gediegenem Charme ist die Stimmung in der kleinen Adler-Apotheke im Jungfernstieg greifbar fröhlich. In der Offizin, der offene Verkaufsraum der Apotheke, stehen die Kunden Schlange, die Mitarbeiterinnen reichen Medikamente, hören zu, geben Ratschläge. Zwischen dem Trubel steht auch Hede Neumeister im Handverkauf, bedient eine Kundin nach ihrem regulären Rezept und verkörpert genau das, was sie sich für ihre Apotheke vorgenommen hat: Offenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit. Ihre Apotheke – das sagt sie erst seit wenigen Wochen, als neue Inhaberin und Chefin.
„Wo sehe ich mich eigentlich arbeiten, wenn nicht mehr hier?“ Das fragte sich Hede Neumeister, als sie noch Mitarbeiterin war und sich noch nicht zutraute, den traditionsreichen, nostalgischen Betrieb zu übernehmen. Doch eine Wohnmobilreise mit der Familie und offene Gespräche mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber gaben ihr den Mut, kurzentschlossen ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die WhatsApp-Nachricht mit ihrer Entscheidung erreichte Christoph Hartwig, selbstständiger Pharmazeut seit mehr als 20 Jahren, kurz nach Ostern. Eigentlich sah er sich mit der schleppenden Digitalisierung, gestiegenen bürokratischen Auflagen und dem Ausbleiben einer geeigneten Nachfolge gezwungen, aufzugeben. Mit ihrer Nachricht gab Hede Neumeister dem Betrieb von 1902 aber eine neue Chance. Ein Betrieb wie dieser sei ein Anker für einen Stadtteil wie diesen, beschreibt Hede Neumeister. „Wir sind ein niedrigschwelliger Anlaufpunkt für Menschen mit Bedürfnissen, ein Ort, an den man mit gutem Gewissen gehen kann und erhält, was man braucht – ein Medikament, ein Gespräch, einen gesundheitlichen Ratschlag.“ Vielleicht ist genau diese Haltung der Grund, warum die Adler-Apotheke sich, im Gegensatz zu den Apotheken in der Nachbarschaft, halten konnte. Allein 2022 schlossen 14 Apotheken in Schleswig-Holstein, Tendenz für die kommenden Jahre steigend. Nach Angaben der Apothekerkammer schließen die meisten von ihnen, weil sie keine geeignete Nachfolge finden. Sind junge Pharmazeuten also weniger bereit, sich selbstständig zu machen? Zumindest die Zahl der Absolventen der Universitäten reiche nicht aus, um Bedarfe zu decken, so Dr. Kai Christiansen, Präsident der Apothekerkammer SH, im Gespräch mit den Kieler Nachrichten. So stünden 1200 offene Stellen in den nächsten zehn Jahren nur 800 Studienabsolventen gegenüber.
„Dabei ist unsere Apotheke ein solide laufender Betrieb, trotz der nicht immer optimalen Rahmenbedingungen durch die Gesundheitspolitik“, so Hede Neumeister zu ihrer Übernahme. „Herr Hartwig übernahm die Apotheke damals unter ganz anderen Umständen als ich heute. Natürlich ist es auch für mich als dreifache Mutter keine Selbstverständlichkeit, jetzt diese Verantwortung zu tragen. Aber der Standort ist gewachsen, wir haben einen festen, loyalen Kundenstamm und zehren von unserem positiven Standing.“ Im traditionellen Interieur fühlt sich die neue Inhaberin sichtlich wohl. Die Offizin hat sie etwas luftiger gestaltet, Blumen aufgestellt, vor der Tür wartet ab Frühling eine Sitzbank. Doch im Kern ist die Apotheke genau das, was sie immer war, sagt die Apothekerin, die sechs Jahre lang unter der Leitung von Christoph Hartwig arbeitete. Gemeinsam entschieden sie nach der entscheidenden WhatsApp-Nachricht, die Übernahme zu gestalten. Offenheit und Transparenz waren maßgeblich in diesem Prozess. „Ich konnte alle Fragen stellen, bekam klare und offene Antworten, hatte einen sehr guten Steuerberater, und auch die apoBank war sicherlich heilfroh, dass eine weitere Apotheke als Kunde bleiben kann“, beschreibt Hede Neumeister. Einige Behördengänge seien unerwartet langatmig gewesen, auf finale Entscheidungen oder Angaben habe sie viele Wochen warten müssen, doch auch hier stand ihr Christoph Hartwig zur Seite. „Er ist der ruhige Gegenpol zu meiner Ungeduld und hat mir immer Mut gemacht, dass es sich alles schon finden wird. Trotzdem muss ich sagen: Das Dreivierteljahr, das wir für den Prozess hatten, haben wir definitiv auch gebraucht – es war einfach enorm viel zu bedenken.“ Das E-Rezept, Münzgeldbestellungen, Notartermine, Personalplanung, Verhandlungen mit pharmazeutischen Großhandlungen und Notdienste der Apothekerkammer waren da nur einige Begleiterscheinungen, die während des laufenden Betriebs geklärt werden mussten. Heute steht die neue Chefin voller Tatendrang in ihrem Betrieb. „Es gefällt mir, dass ich Entscheidungen jetzt alle selbst treffen kann, gleichzeitig kommen natürlich jetzt auch alle Kolleginnen mit Fragen zu mir“, sagt die Inhaberin lachend. „Da übe ich noch, genauso beim Delegieren von Aufgaben.“
Ihren Alltag kann sie gut mit ihrer neuen Rolle vereinbaren: Nur wenige Minuten Fußweg entfernt liegt die Wohnung der fünfköpfigen Familie, die Kinder können im Notdienstzimmer Hausaufgaben machen und Mama nach der Schule in „ihrer Apotheke“ besuchen. Zwei Nachmittage wolle sie sich freinehmen und ihr Mann, Sozialpädagoge bei der Stiftung Drachensee, könne seine Arbeitszeiten an die neuen Umstände anpassen. „Unsere Lebensplanung spielte eine große Rolle bei der Entscheidung“, bestätigt Hede Neumeister. „Meine Kinder sind jedoch so gut gefestigt in der Schule, mit Freunden, in ihrem Alltag, dass ich mir keine Sorgen machen muss.“
© Adina Merkel
Mit der Apotheke selbst konnten auch die Arbeitsplätze des gesamten Teams gehalten werden, ein neuer Kollegen durfte direkt nach seiner Approbation und dem pharmazeutischen Praktikum bleiben. „Alle waren froh, dass wir weitermachen. Wir ziehen an einem Strang, genießen unser gutes Verhältnis untereinander und nehmen uns Lasten ab“, freut sich die Apothekerin. Wäre ein fremder Inhaber eingestiegen, hätte es anders aussehen können, weiß sie aus Erfahrung. „In einer anderen Apotheke habe ich mitbekommen, wie externe Konzepte über einen lange bestehenden Betrieb gestülpt werden sollten. Das war schwer für das Team und für die Kunden.“ Daher geht sie mit bestem Beispiel voran: Die bodenständigen Werte und Abläufe der Adler-Apotheke bleiben. Nur bei der Onlinepräsenz darf es etwas mehr werden. „Ich möchte, dass wir online moderner auftreten, unsere Webseite für Smartphones optimieren und einen Instagram-Account starten, damit wir wirklich viele Zielgruppen im Stadtviertel ansprechen. Das war früher nicht die Priorität, aber ich weiß um die Notwendigkeit, dass wir hier noch stärker auftreten.“ Die Unterstützung ihres Mannes hat Hede Neumeister bereits sicher – und auch ihr Umfeld ist immer wieder ermutigend an ihrer Seite. „Ich trete dankbar in beeindruckende Fußstapfen und Herr Hartwig wird immer mein Vorbild bleiben.“ Den „alten Chef“ können die Stammkunden übrigens immer noch antreffen – nicht nur, wenn er noch ein wenig aufräumt, sondern wenn er Hede Neumeister in ihrer Urlaubszeit vertritt. „Das war unser Deal, für den ich sehr dankbar bin – und wir sind alle glücklich, noch ein kleines Stück von ihm zu haben, zumindest eine Zeitlang“, sagt die neue Chefin mit einem Lächeln.
Autorin: Julia Romanowski
Veröffentlicht: Januar 2024
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