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Keinen zurücklassen
Eine duale Ausbildung ist der beste Weg, ein aktiver Teil unserer Gesellschaft zu werden. Auch für junge Menschen mit Startschwierigkeiten - beispielsweise aufgrund von Flucht, Behinderung oder Lernschwäche. Ihre Chancen stehen gut: Individuelle Betreuung, betriebliche Nachhilfe und weniger Theorie helfen ihnen durchzustarten. Das zeigen drei Beispiele aus Schleswig-Holstein.
Ausbildungsleiterin Sabine Hoyer (links) mit Kim Idel
© IHK/Tietjen
Halb sieben, die Scheiben sind noch beschlagen: Kim Idel steigt in ihr Auto, eine halbe Stunde fährt sie bis nach Norderstedt. Viermal in der Woche pendelt die Auszubildende von Bargteheide zu ihrem Ausbildungsort. Idel ist zu 80 Prozent schwerbehindert und im dritten Ausbildungsjahr zur Fachpraktikerin Hauswirtschaft. Im SOS-Kinderdorf Harksheide lernt sie, worauf es bei der Nahrungszubereitung, Haus- und Wäschepflege ankommt. Sie ist eine von knapp 400 Azubis mit Behinderung, die es laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Schleswig- Holstein gemäß Paragraf 66 BBiG/42 HwO gibt. "Am liebsten arbeite ich in der Reinigung", sagt sie. In der Küche machen ihr die vielen Nebengeräusche zu schaffen - dank des Hörgeräts kann sie gut hören, trotz ihrer Schwerhörigkeit. Im Kinderdorf werden insgesamt 18 junge Erwachsene mit dem Förderschwerpunkt Lernen ausgebildet, die etwas mehr Unterstützung brauchen. "Das Besondere an der Ausbildung ist, dass unsere Azubis alles fragen dürfen und genügend Zeit zum Üben bleibt. Im Stützunterricht fördern wir individuell nach Bedarf", sagt Ausbildungsleiterin Sabine Hoyer. Eine Sozialpädagogin arbeitet an der Selbstständigkeit der jungen Erwachsenen und hilft beim Bewerbungstraining.
Idel hat im Juni Abschlussprüfung und weiß, wie es weitergehen soll: "Ich suche aktuell einen Arbeitsplatz - am liebsten in einem Seniorenheim." Dort hat Idel, die sich abends noch um ein Pferd kümmert, bereits mehrere Praktika absolviert. Insgesamt sechs solcher betrieblichen Ausbildungsphasen gehören zur Ausbildung dazu. 30.000 Euro kommen pro Ausbildung schnell zusammen, die die Agentur für Arbeit übernimmt, so Hoyer. Gut angelegtes Geld: Die Mehrzahl der Azubis findet nach der Ausbildung direkt eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt, sagt sie.
Wie wichtig eine gute Ausbildung für Menschen mit Handicap gleichzeitig für unsere Gesellschaft ist, unterstreicht Hans Joachim Beckers, Federführer Bildung der IHK Schleswig-Holstein: "Ausbildung wird für die Gewinnung von qualifiziertem Berufsnachwuchs angesichts der Fachkräfteengpässe immer bedeutsamer. Deshalb gilt es, möglichst alle geeigneten Bewerbergruppen zu erreichen. Niemand soll zurückgelassen werden. Dabei gilt es, Personen einzubeziehen, die bisher nicht so stark im Fokus standen. Dazu gehören vor allem behinderte Menschen, Geflüchtete und Lernschwache - sowie Frauen nach der Elternzeit. Auf sie alle sind wir angewiesen, um die Herausforderung des demografischen Wandels erfolgreich zu bewältigen."
Am richtigen Ort
Alexander Jung, Azubi beim Grenzhändler Fleggaard
© IHK/Scheffler
Der Berufsstart von Alexander Jung war holprig: Schule fand er nie so interessant, den Hauptschulabschluss schaffte er, aber eine Lehre im Gartencenter brach er ab. Beim Grenzhändler Fleggaard erhielt er eine zweite Chance: Der 18-jährige Niebüller absolvierte eine sechsmonatige Einstiegqualifizierung (EQ) - und überzeugte. Nun befindet er sich im zweiten Ausbildungsjahr zum Verkäufer. "Wir haben gute Erfahrungen mit Mitarbeitern gemacht, die irgendwo etwas verbockt haben. Eigentlich ist es ja so: Sie waren nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort", sagt Ralf Stapelfeldt, Personalleiter von Fleggaard Detail in Harrislee. "In der Feststellung 'Das ist nichts für mich' liegt ja bereits eine große Entschlusskraft. Ich habe lieber einen Mitarbeiter, der ein klares Ziel vor Augen hat." Jung gehört dazu. Sein Ziel: die Ausbildung zum Verkäufer abschließen, im dritten Lehrjahr den Kaufmann im Einzelhandel machen, damit den Realschulabschluss erhalten und übernommen werden. Die Chancen dürften gut stehen: "Wir bilden Azubis aus, um sie zu halten, und wir hören auch beim Verkäufer nicht auf, sondern fördern bis zum Betriebswirt, wenn es passt", so Stapelfeldt.
Für Jung passt es, vom Einzelhandel ist er begeistert - vor allem von der Süßwarenabteilung und vom Kundenkontakt: "Ich versuche unsere Kunden immer bestmöglich zu beraten, etwa bei Unverträglichkeiten." Um die Grenzhandelskunden gut beraten zu können, lernt Jung gerade Dänisch per App. Stapelfeldt ist angetan von so viel Eigeninitiative. Jungs Zwischenprüfung lief hingegen noch nicht ganz so rund. Besonders schwer falle ihm kaufmännisches Rechnen. "Ich arbeite eben lieber, als Sachen zu lernen“, sagt er geradeheraus.
Stapelfeldt ist überzeugt, dass es auf die richtige Umgebung ankommt: „Das ist wie beim Pinguin-Prinzip von Hirschhausen. Man sieht einen Pinguin an Land und denkt: der arme Kerl, absolute Fehlkonstruktion. Und dann springt er ins Wasser und bewegt sich so effektiv und effizient wie kein zweites Tier."
Betrieb hilft bei Nachhilfe
Welche Apfelsorte eignet sich eigentlich für Apfelmus? "Am Anfang musste ich meine Kollegen vieles fragen und erst einmal die deutsche Küche kennenlernen", sagt Hayat Amin. Der 25-Jährige macht bei famila Kiel-Wik eine Ausbildung zum Verkäufer, zuvor hat er dort eine EQ durchlaufen. Ende 2013 ist Amin allein aus Afghanistan geflohen. Am liebsten arbeitet Amin, laut BIBB einer von knapp 300 Azubis mit Fluchthintergrund in Schleswig-Holstein, in der Obst- und Gemüseabteilung. Neben der Pflege und Dekoration der Waren bringe ihm die Beratung viel Spaß, auch wenn er manche Wörter erst einmal verstehen müsse.
Hayat Amin in der Gemüseabteilung von famila Kiel-Wik
© IHK/Tietjen
"Ich lerne am Wochenende immer den Werbeprospekt der kommenden Woche, damit ich die Kunden zu den Regalen führen kann." Sich so vorzubereiten, sei schon sehr vorbildlich, sagt Warenhausleiterin Anja Rüther, die mit Amin sehr zufrieden ist. "Für uns war die Einstiegsqualifizierung eine sehr wertvolle und intensive Probezeit, um zu sehen, ob der Kundenkontakt gut klappt. Motivation und Höflichkeit waren bei Herrn Amin von Anfang an spitze", sagt Rüther. Die größte Herausforderung seien noch die Sprachkenntnisse.
Generell müssten Geflüchtete schnelleren Zugang zu Sprachkursen haben, findet sie. Amin hat mithilfe der Muttergesellschaft Bartels-Langness (Bela) eine zusätzliche Nachhilfemöglichkeit für die Berufsschule gefunden. Bela hat auch dabei geholfen, eine Wohnung in Kiel zu finden. Rüther freut sich, dass Amin sich so schnell weiterentwickelt. "Ich wünsche mir, dass es mehr Unternehmen gibt, die eine Einstiegsqualifizierung anbieten. Eine Chance hat jeder verdient und man muss den Menschen lediglich an die Hand nehmen", sagt sie. Dass sich Unterstützung auszahlt, belegt auch eine aktuelle BIBB-Studie: So sind eine individuelle Betreuung und eine EQ für geflüchtete Bewerber wahre Türöffner. Sie schaffen häufiger den Sprung in die Arbeitswelt.
Andrea Scheffler, Benjamin Tietjen
Veröffentlicht am 4. Mai 2018
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