Demografischer Wandel
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Die IHK Schleswig-Holstein hat ihre Mitgliedsunternehmen in diesem Zusammenhang zuletzt jeweils im Herbst 2017 und 2018 im Rahmen der regelmäßigen Konjunkturumfrage nach der aktuellen Situation am Arbeitsmarkt gefragt. Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen und mögliche Reaktionen auf Fachkräfteengpässe wurden thematisiert.
Maßnahmenbündel erforderlich
Ausgangslage
Die Sicherung des Fachkräftepotenzials ist für die Wirtschaft in Schleswig-Holstein von zentraler Bedeutung, denn die demographische Entwicklung führt zu einem massiven Rückgang der Anzahl an Erwerbspersonen. Die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Babyboomer-Generation werden zwischen 2030 und 2035 das Renteneintrittsalter erreicht haben. Zusätzlich zu dem generell zu verzeichnenden leichten Bevölkerungsrückgang liegt hierin eine weitere Ursache für den steigenden Bedarf an gut qualifizierten Arbeitskräften.
Die zunehmende Alterung der Belegschaften ist in Schleswig-Holstein das Hauptmotiv für die kontinuierliche Suche nach Fachkräften. Darüber hinaus spielt ebenfalls das wirtschaftliche Wachstum eine entscheidende Rolle, denn eine Ausweitung der Geschäftstätigkeit erfordert meist auch mehr Personalressourcen.
Diese beiden Faktoren wurden 2018 auch von der "Fachkräfteprojektion 2035 für Schleswig-Holstein" hervorgehoben. Diese Studie des Instituts für quantitative Marktforschung & statistische Datenanalyse analytix wurde in Auftrag gegeben unter anderem vom Wirtschaftsministerium des Landes Schleswig-Holstein und den Industrie- und Handelskammern zu Flensburg, zu Kiel und zu Lübeck. Unter der Berücksichtigung aktueller Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (verstärkte Zuwanderung im Rahmen des Flüchtlingszustroms, Weiterentwicklung von Berufsbildern) wurde für Schleswig-Holstein der zu erwartende Fachkräftemangel analysiert und bezogen auf unterschiedliche Qualifikationsniveaus quantifiziert.
Ausgehend von den heutigen Rahmenbedingungen beziffert sich die demographiebedingte Fachkräftelücke in Schleswig-Holstein im Jahr 2035 auf rund 180.000 fehlende Arbeitskräfte.Zusätzlich ist unter der Annahme eines konstanten Wirtschaftswachstums in Schleswig-Holstein eine wachstumsbedingte Fachkräftelücke von bis zu 132.000 fehlenden Arbeitskräften zu erwarten.
Die vollständige Studie aus dem Jahr 2018 können Sie hier einsehen.
Situation in den Unternehmen
Mittlerweile sehen 63 Prozent der Unternehmen in Schleswig-Holstein im Fachkräftemangel das größte Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung (IHK-SH-Konjunkturumfrage Herbst 2018) - der mit Abstand höchste Wert in den Befragungen der letzten Jahre. Auf den Plätzen zwei und drei werden die unsicheren wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen (48 Prozent) und steigende Arbeitskosten (39 Prozent) genannt.
Stellenbesetzungsschwierigkeiten
Offene Stellen in den Unternehmen können längerfristig (länger als zwei Monate) nicht besetzt werden, weil passende Arbeitskräfte fehlen. Dass sich die Problemwahrnehmung in den Unternehmen in den letzten Jahren weiter verschärft hat, zeigt ein Vergleich der Rückmeldungen im jährlichen DIHK-Arbeitsmarktreport.
Gaben im Jahr 2016 noch 37 Prozent der Unternehmen bundesweit an, dass sie offene Stellen nicht besetzen können, so stieg dieser Wert bis 2018 schon auf 49 Prozent. In den Unternehmen der Industrie und des produzierenden Gewerbes ist der Anstieg sogar noch deutlicher (von 36 Prozent auf 53 Prozent).
Links zu den beiden DIHK-Arbeitsmarktreporten 2018 und 2019
Ein Indikator für den Fachkräftemangel sind die branchenübergreifend und bundesweit zunehmenden Stellenbesetzungsschwierigkeiten.
Die Situation im Bundesgebiet deckt sich mit der Lage auf dem norddeutschen Arbeitsmarkt. Von den befragten Unternehmen aus Schleswig-Holstein beklagen mehr als die Hälfte langfristige Stellenbesetzungsprobleme, eine leicht steigende Tendenz ist zu erkennen.
Auf Nachfrage geben die Unternehmen zwei ausschlaggebende Gründe dafür an, warum offene Stellen nicht besetzt werden können. Zum einen werden schlicht zu wenig Bewerbungen eingereicht, zum anderen stimmt bei den vorliegenden Bewerbungen häufig die Qualifikation der Bewerber/ -innen nicht mit den Anforderungen der Stelle überein.
Es gibt also einen quantitativen und einen qualitativen Fachkräftemangel.
Zu hohe Anforderungen der Bewerber/ -innen an die neue Stelle oder zu wenig Berufserfahrung sind demgegenüber nur nachgelagerte Gründe für zahlreiche unbesetzte Stellen in Schleswig-Holstein.
Qualifikationsniveau der Erwerbstätigen
Um die Dimension des Fachkräftemangels in Schleswig-Holstein besser beurteilen zu können, bietet sich ein genauerer Blick auf den Arbeitsmarkt an. Über welche Qualifikationen verfügen die Erwerbstätigen im nördlichsten Bundesland und welche Arbeitskräfte werden gesucht?
Bei der Definition der Qualifikationsniveaus von Erwerbstätigen unterscheidet die Bundesagentur für Arbeit Helfer, Fachkräfte, Spezialisten und Experten anhand verschiedener Kriterien der beruflichen Qualifikation und Erfahrung. Auch der Komplexitäts- und Verantwortungsgrad der ausgeübten Tätigkeiten lässt sich differenzieren.
Die vier Qualifikationsniveaus im Überblick: | |
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Helfer |
Kein formaler beruflicher Bildungsabschluss
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Keine oder nur geringe spezifische Fachkenntnisse
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Helfer- und Anlerntätigkeiten
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Fachkraft |
Abschluss einer 2- bis 3,5-jährigen Berufsausbildung
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Fundierte Fachkenntnisse und Fertigkeiten
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Fachlich ausgerichtete Tätigkeiten
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Spezialist |
Abschluss einer beruflichen Fort- und Weiterbildung
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Spezialkenntnisse und –fertigkeiten
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Planung und Kontrolle sowie gehobene Fach- und Führungsaufgaben
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Experte |
Hochschulabschluss
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Hoher Komplexitätsgrad mit sehr hohem Kenntnis- und Fertigkeitsniveau
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Entwicklungs-, Forschungs-, Leitungs- und Führungstätigkeiten
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Die analytix-Studie zeigt, dass die Verteilung der Qualifikationsniveaus der Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt in Schleswig-Holstein in den zurückliegenden Jahren nahezu unverändert geblieben ist. Ungeachtet der positiven wirtschaftlichen Entwicklung und der Veränderung von Berufsbildern bleibt die dual ausgebildete Fachkraft mit einem Anteil von über 60 Prozent prägend.
Dieses Ergebnis zeigt einmal mehr: Das System der dualen Ausbildung verbindet durch die Kombination der Lernorte Ausbildungsbetrieb und Berufsschule sehr erfolgreich den Erwerb berufspraktischer Erfahrungen mit der Aneignung theoretischen Fachwissens. Absolventen einer dualen Ausbildung sind dazu befähigt, unmittelbar nach Abschluss der Ausbildung in ihrem Beruf zu arbeiten. Sie verfügen über die notwendigen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um qualifizierte Tätigkeiten in einer sich stetig wandelnden Arbeitswelt auszuüben.
Die Projektion in der analytix-Studie geht davon aus, dass bei weitestgehend gleichbleibenden strukturellen Rahmenbedingungen diese Qualifikationsstruktur auch 2035 charakteristisch für den schleswig-holsteinischen Arbeitsmarkt sein wird. Ausgehend von den aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt lässt sich somit das zu erwartende Verhältnis von Arbeitskräfteangebot und –nachfrage – also der Fachkräftemangel – für jedes einzelne Qualifikationsniveau bis zum Jahr 2035 prognostizieren.
Deutlich wird hierbei, dass der Fachkräftemangel im wahrsten Sinne des Wortes Realität werden wird, denn der mit Abstand größte Bedarf besteht in der Gruppe der Erwerbstätigen mit dem Qualifikationsniveau "Fachkraft". Bis 2035 werden demographiebedingt in dieser Gruppe etwa 113.000 Personen in Schleswig-Holstein fehlen.
Je nachdem, wie positiv die wirtschaftliche Entwicklung weiter verläuft und wie sich in diesem Zuge auch der (über-)regionale Arbeitsmarkt verändert, kann diese Fachkräftelücke auch noch wachstumsbedingt um gut 82.000 Personen größer werden.
In Schleswig-Holstein fehlen vor allem dual ausgebildete Fachkräfte.
Reaktionen und Maßnahmen
Abschließend stellt sich die Frage, welche Maßnahmen dem prognostizierten Fachkräfteengpass entgegenwirken und wie Unternehmen schon jetzt auf die Veränderungen reagieren. Die große Mehrheit hat die Herausforderung des demographischen Wandels inzwischen erkannt und realisiert, dass nur ein Bündel von Maßnahmen helfen kann, um die künftige Fachkräftelücke zu reduzieren.
Die Unternehmen sind sich einig darin, dass es verstärkter Bemühungen in der Aus- und Weiterbildung bedarf. 66 Prozent der Befragten in Schleswig-Holstein fordern eine Stärkung der beruflichen Bildung. Durch eine Intensivierung der Berufsorientierung an Gymnasien können angehenden Abiturienten beispielsweise die hervorragenden beruflichen Perspektiven mit einer dualen Ausbildung näher gebracht werden.
Sinkende Schülerzahlen im Zuge des demographischen Wandels, ein längerer Verbleib im Schulsystem sowie die steigende Studierneigung von Abiturienten erschweren Unternehmen die Suche nach Auszubildenden.
Das größte Ausbildungshemmnis aus Sicht der Unternehmen sind weiterhin unklare Berufsvorstellungen vieler Schulabgänger/ -innen, erforderlich ist also eine schulartübergreifende bessere Berufsorientierung junger Menschen. Die Unternehmen unterstützen dieses Ziel zum Beispiel durch ein vermehrtes Angebot von Praktikumsplätzen, um spannende Einblicke in Berufsbilder zu ermöglichen. Darüber hinaus steigern sie als Reaktion auf den Bewerberrückgang ihre Attraktivität als Ausbildungsbetrieb und Arbeitgeber, nutzen ein verbessertes, modernes Azubimarketing und erschließen neue Bewerbergruppen für eine Ausbildung. Für Studienabbrecher bietet die duale Ausbildung beispielsweise attraktive Möglichkeiten.
Lesen Sie mehr zu diesem Thema: Ausbildung 2018. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung. Unternehmen berichten über ihre Ausbildungssituation
Außerdem fordern 57 Prozent der Unternehmen eine bessere Qualifikation der Schulabgänger/ -innen. Die informationstechnologische Entwicklung lässt Tätigkeiten komplexer und anspruchsvoller werden und verlangt nach bestimmten Vorqualifikationen. Hier geht es nicht nur um bereits vorhandene fachliche Fähigkeiten, sondern Problemlösungskompetenzen, Kreativität, Leistungsbereitschaft und kommunikative Stärken gewinnen an Bedeutung, um schnell und selbstständig neue Herausforderungen meistern zu können. Viele Unternehmen unterstützen ihre Auszubildenden inzwischen mit einem innerbetrieblichen Nachhilfeangebot und Möglichkeiten zum Erwerb von Schlüsselkompetenzen und Zusatzqualifikationen.
Aber auch gesellschaftliche und politische Maßnahmen wie die Gestaltung besserer Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Gewährleistung einer hohen regionalen Attraktivität sind für mehr als ein Drittel der Befragten entscheidende Faktoren zur Fachkräftesicherung in Schleswig-Holstein. Gleiches gilt ebenfalls für den Abbau bürokratischer Hürden bei der Beschäftigung ausländischer Fachkräfte.
Diese Forderungen decken sich mit den Ergebnissen der Fachkräfteprojektion 2035 für Schleswig-Holstein, denn die analytix-Studie kommt zu dem Schluss, dass Einzelmaßnahmen die demographiebedingte Fachkräftelücke nicht schließen können. Vielmehr ist eine Kombination unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Lösungsansätze erforderlich, weshalb sich auch Unternehmen bei Maßnahmen zur Fachkräftesicherung strategisch breit aufstellen sollten.
Durch die Simulation verschiedener Szenarien hat die analytix-Studie gezeigt, dass nur die gleichzeitige Veränderung mehrerer Faktoren einen entscheidend positiven Einfluss auf das Arbeitskräfteangebot am Arbeitsmarkt in Schleswig-Holstein im Jahr 2035 haben wird.
Maßnahmen mit positiver Auswirkung auf das Arbeitskräfteangebot
- Erhöhung der Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer/ -innen
- Anhebung des Renteneintrittsalters von 67 auf 70 Jahre
- Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen
- Intensivierung der Arbeitsmarktintegration ausländischer Arbeitskräfte
Durch die Kombination dieser Maßnahmen gelingt es rein rechnerisch, die sich abzeichnende demographiebedingte Fachkräftelücke zu schließen. Personalbedarfe, die darüber hinaus aus weiterem wirtschaftlichen Wachstum resultieren, können allerdings nicht kompensiert werden.
Die Realisierung der einzelnen Maßnahmen ist zudem maßgeblich an entsprechende politische Entscheidungen gebunden. Die Arbeitsmarktintegration ausländischer Arbeitskräfte wirkt sich beispielsweise nur dann entscheidend positiv aus, wenn individuelle Migrationsbewegungen ergänzt werden durch die gesetzlich geregelte Zuwanderung höher Qualifizierter.
Unterstützung
Der Fachkräftemangel stellt die schleswig-holsteinische Wirtschaft sowie Politik und Gesellschaft in den kommenden Jahren vor große Herausforderungen und erfordert eine Vielzahl an Maßnahmen, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Region zu stärken. Die Gewinnung und Bindung von Auszubildenden und qualifizierten Arbeitskräften wird zur zentralen Aufgabe, bei der die Industrie- und Handelskammern als kompetenter Ansprechpartner den Unternehmen zur Seite stehen, um Lösungen zu realisieren.