Medieninformation vom 22. Mai 2024

Turbo beim Ausbau der Erneuerbaren notwendig: IHK veröffentlicht Prognose zur regionalen Stromversorgung bis 2040

In allen berechneten Szenarien steigt der Strombedarf in der Region erheblich an, zwischen 61 und 128 Prozent. Die politischen Ausbauziele der Erneuerbaren Energien können mit dem Bedarf nicht mithalten: In 16 Jahren wird es eine Versorgungslücke geben, die gedeckt werden muss. Das ist das Fazit der Studie, die durch das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) im Auftrag der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg erstellt wurde.
IHK-Vizepräsidentin Bettina Schuler-Kargoll ordnet die Ergebnisse ein: „Die regionale Industrie hat bereits die Mehrheit ihrer Prozesse elektrifiziert. Was sie nur bedingt steuern können, ist, aus welcher Quelle der Strom stammt. Deshalb ist es wichtig, dass wir beim Ausbau der Erneuerbaren vorankommen und das Angebot an grünem Strom für alle Nutzer ausweiten.“ Die erhobenen Zahlen würden erneut belegen, dass eine sichere Stromversorgung kein Selbstläufer ist: „Die Prognosen zum Strombedarf übersteigen die politischen Ausbauziele – und ob wir selbst die erreichen, steht in den Sternen.“
Die aktuelle Planungsunsicherheit der Wirtschaft beruht nicht nur in einer generellen Verfügbarkeit von Energie am Standort: Zum einen soll sie zu wettbewerbsfähigen Preisen, deutlich unter 10ct die Kilowattstunde, vorhanden sein. Zum anderen bereiten mögliche Dunkelflauten Sorge, wenn aufgrund des Wetters Energie nicht durchgehend und in ausreichender Menge verfügbar ist.
Vizepräsidentin Schuler-Kargoll appelliert deshalb an alle Verantwortliche in Politik und Gesellschaft: „Auch wenn wir Teil des europäischen Strommarktes sind, können wir uns nicht einfach auf unsere Nachbarn verlassen, dass in Villingen, Rottweil und Tuttlingen jederzeit Strom aus der Steckdose kommt. Den Akteuren, die die Energiewende und die Transformation der Wirtschaft tatsächlich umsetzen, sollte mehr Gehör geschenkt werden.“ So sei noch keine Maßnahme des im November 2023 beschlossenen Beschleunigungspaktes umgesetzt. Erst 20% der Maßnahmen seien überhaupt erst begonnen worden.
„Die Unternehmen in der Region sind sehr aktiv und suchen lösungsorientiert nach Wegen, ihre Umweltauswirkungen zu minimieren. Das verdient aus unserer Sicht Unterstützung statt Misstrauen und Verschlossenheit notwendigen Veränderungen gegenüber – wie neuen PV- und Windkraftanlagen vor Ort. Die Energiewende ist eine Gemeinschaftsaufgabe“, so das Fazit der Vizepräsidentin.
Die komplette Stromstudie, inklusive einer Betrachtung nach Landkreisen, und eine ausführliche IHK-Analyse zum Stand der Energiewende aus Sicht der Wirtschaft ist verfügbar unter www.ihk.de/sbh/strom2040.
Pressevertreter erhalten weitere Grafiken aus der Studie auf Anfrage über unsere Pressestelle.

Hintergrund
Der Himmel ist grau verhangen an einem Freitagmorgen im Februar. Und die Stimmung im digitalen Raum ist nur geringfügig besser. 20 Unternehmen der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg besprechen auf Einladung der IHK die Ergebnisse der eigens beauftragten Studie zur regionalen Stromversorgung bis 2040.
Ihr Fazit: In allen berechneten Szenarien steigt der Strombedarf in der Region erheblich an, zwischen 61 und 128 Prozent. Die politischen Ausbauziele der Erneuerbaren Energien können mit dem Bedarf nicht mithalten, in 16 Jahren wird es eine Versorgungslücke geben, die gedeckt werden muss.
Stirnrunzeln ist allgegenwärtig, die Anwesenden sehen ihre Befürchtungen bestätigt. Marcel Trogisch ist einer von ihnen. Er hat die Studie betreut, seit 15 Jahren ist er Referent für Energie und Umwelt bei der IHK: „Die Energieversorgung war schon immer ein komplexes Thema. Die Geschwindigkeit, in der man es jetzt umbauen will, ist mutig und eine Herausforderung. Das Ziel der Klimaneutralität ist gesetzt, das Projektmanagement ist noch ausbaufähig.“ Aus seinen regelmäßigen Gesprächen mit Unternehmen gibt der IHK-Experte eine Wasserstandsmeldung zum Stand der nachhaltigen Wirtschaft.
Ohne Energie keine Wende
Das Whiteboard im IHK-Büro ist übersäht mit Paragrafennummern und Gesetzeskürzeln: § 9b StromStG, EnSimiMaV, EnEfG, DIN 17463, GEG, StromPBG, BImSchV… „Es ist unser Versuch, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen und den Überblick über die zum Teil wöchentlich geänderten Verordnungen zu behalten“, erläutert Marcel Trogisch. Wie es läuft? „Sagen wir mal: stetig Work-in-Progress. Es ist Sisyphos-Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes, bevor man die neuste Richtlinie verarbeitet hat, kommt bereits das nächste Update ins Postfach geflattert. Die Frequenz für neue Regulierungen hat in den letzten Jahren merklich zugenommen.“ Durch diesen Dschungel müssen sich die Unternehmen kämpfen. Dabei brauchen sie, um am Markt erfolgreich zu sein, vor allem eins: Energie. Energie, die drei Attribute erfüllt: sicher, planbar und kostengünstig.
Sicher: Egal, wann die Produktion angeworfen wird, die Energie muss fließen. Stehen die Bänder still, wird kein Euro verdient – kurzfristig durch das Unternehmen, langfristig auch durch die Beschäftigten und die Staatskasse. Mögliche Dunkelflauten durch die Volatilität der Erneuerbaren Energien soll deshalb durch die Kraftwerkstrategie des Bundes begegnet werden, eine Strategie zu der erst Eckpunkte vorliegen.
Planbar: Dies bezieht sich zum einen auf den Preis, der in den letzten Jahren unvorhersehbaren Schwankungen unterlagt. Zum anderen bezieht es sich auf die Verfügbarkeit. In wirtschaftlichen guten Zeiten arbeiten Betriebe im Drei-Schicht-Betrieb, also auch nachts. Es soll keine Situation auftreten, in denen sich die Produktion nach der Windstärke oder der Sonneneinstrahlung richtet muss.
Kostengünstig: Hier fällt meistens das Wort „wettbewerbsfähig“. Der Blick geht oft über den Teich, wo in Kanada oder den USA mit Strompreisen im einstelligen Cent-Bereich geworben wird. Da käme auch ein vor kurzem in Deutschland diskutierter Industriestrompreis um 15 Cent nicht heran. Die IHK setze sich stets für eine umfassende Kostenrechnung ein, so Marcel Trogisch: „Oft werden bei Prognosen bei den Strompreisen die Gestehungskosten herangezogen, die die Kosten der Errichtung und dem Betrieb eines Kraftwerkes ins Verhältnis zur erzeugten Strommenge setzen.“ Dieser Ansatz greife zu kurz, da er die Nachfrageseite ausblende: „Am Ende stehen auf der Stromrechnung nicht nur die Kosten für Bau und Betrieb der Kraftwerke, sondern auch die zusätzlichen Systemkosten. Dazu zählen unter anderem der notwendige Netzausbau, zusätzliche Speicherkapazitäten, um der Volatilität der Erneuerbaren Rechnung zu tragen, und mögliche Kosten für den Redispatch.“ Kurzum: Auch wenn die Erneuerbaren in Zukunft vergleichsweise günstig Strom produzieren werden, sind laut Experten niedrige Preise von unter fünf Cent wie in den USA auf absehbare Zeit unwahrscheinlich.
Und wie schätzen die Unternehmen diese drei Faktoren aktuell ein? „Das IHK-Energiewendebarometer ist unser zentraler Gradmesser dafür, ob die Unternehmen diese Kriterien als erfüllt ansehen. Aktuell ist der Index der Umfrage auf einem historischen Tiefstand“, so Trogisch. „Unternehmen der Region unterstützen die Pariser Klimaziele. Bei der Analyse der Wirtschaftlichkeit wird deswegen auch nicht auf die letzte Nachkommastelle geschaut, wenn es um klimafreundliche Investitionen geht. Aber sie müssen sich langfristig tragen – kein Unternehmen kann sich auf Dauer eine defizitäre Produktion leisten.“
Anders ausgedrückt bedeute das vor allem, dass sich die Elektrifizierung insgesamt rechnen muss. In der Anschaffung neuer Maschinen und im anschließenden laufenden Betrieb. Und bevor Unternehmen überhaupt darüber nachdenken zu Elektrifizieren, müssten sie wissen, dass der Strom auch immer verfügbar ist, wenn sie ihn benötigen.
Werkzeughersteller, Energieversorger und Tankstelle - Wer bin ich?
Auch zeigt sich die Komplexität der Transformation. Viele Unternehmen in der Region haben sich bereits auf den Weg gemacht, einige sind nach ihren Plänen in Scope 1 und 2 (Energiebezug und Produktion) bereits 2025 klimaneutral.
Es liegt im Wesen einer Transformation, dass sich etwas ändert. Wie die Industrie von morgen aussehen kann, zeichnet sich langsam in den Industrie- und Gewerbegebieten ab:
Sie ist vernetzt: Für eine effiziente Nutzung entstehen lokale Wärmenetze, die Betriebe mit überschüssiger Abwärme mit denen verbinden, die Bedarf haben. Hier kann der IHK-Abwärme-Atlas unterstützen. An anderen Orten kooperieren Unternehmen mit Landwirten, um PV-Anlagen auf Freiflächen zu installieren. Große Betriebe beliefern in Form von Direktstromlieferverträgen (PPAs) kleinere.
Sie ist dezentral: Nicht nur durch die PV-Pflicht in Baden-Württemberg wächst der Aufgabenbereich von Unternehmen. Viele versuchen sich im Zuge der Elektrifizierung ein stückweit selbst nachhaltig zu versorgen. Es kommen Solaranlagen aufs Dach, Geothermie unter die Wiese, ein Blockheizkraftwerk in den Keller. Die Unabhängigkeit und die niedrigeren Energiekosten kommen aber auch mit ihrem ganz eigenen Preisschild, wie Marcel Trogisch ausführt: „Es braucht Menschen, die die Anlagen betreiben und warten. Es braucht die entsprechende Infrastruktur, um den Strom dorthin zu leiten, wo ich ihn nutze oder speichere. Und es braucht die Ressourcen und Nerven, sich mit dem Papierkram auseinanderzusetzen.“
Denn die Welt der Energieversorger ist eine eigene, die ziemlich wenig mit dem eigentlichen Geschäft der Industrieunternehmen zu tun hat. Das eine wurde gegründet, um Werkzeuge herzustellen, das andere für Medizintechnik. Keines von beiden hatte vor Stromproduzent zu sein. IHK-Experte Trogisch kennt die Herausforderung: „Als Energieversorger komme ich ein ganz eigenes Regulierungsdickicht, Stichwort Sicherheit, Genehmigungen, Einspeisung und Steuern. Stelle ich etwa Ladesäulen auf dem Parkplatz auf, damit die Beschäftigten ihre E-Autos laden können, muss ich diese Strommenge abgrenzen, da sie steuerlich anders behandelt wird als der Strom zur Eigennutzung.“ Diese neue Geschäftsrealität sollte sich daher auch in den Gesetzen widerspiegeln.
Die Ruhe vor dem Sturm: der CO2-Preis
Anfang Februar einigte sich die EU darauf, ihre Klimaziele zu verschärfen. Bis 2040 soll der Binnenmarkt bereits zu 90 Prozent klimaneutral sein. Da das Land Baden-Württemberg ein ähnliches Ziel verfolgt, hat dieser Beschluss für die Unternehmen der Region erst einmal wenig Auswirkungen. Es bedeutet jedoch, dass das noch verfügbare CO2-Budget der EU schneller sinkt und mit ihm die Anzahl verfügbarer CO2-Zertifikate im Rahmen des europäischen Handelssystems (ETS). Und bei einer Verknappung des Angebotes auf dem Markt wird eine Entwicklung wahrscheinlicher: der Preis steigt.
Wenn der EU-Emissionshandel ab 2027 vollumfänglich zum Einsatz kommt, gingen Prognosen von einem CO2-Preis von etwa 140 Euro pro Tonne aus. Mit der Verknappung sehen einige Analysten das Preisschild bei bis zu 400 Euro. Heute zahlen Unternehmen 45 Euro für die Tonne im deutschen Emissionshandel, beziehungsweise zwischen 70 und 80 Euro im europäischen. Es herrscht Konsens darüber, dass der Preis steigen wird. Mit welchem konkreten Euro Unternehmen in drei Jahren rechnen müssen, bleibt jedoch abzuwarten. Können schnell neue, emissionsarme Technologien in der Industrie und im Energiesektor implementiert werden, wird die Kostensteigerung gebremst. Auch eine anhaltend schwache wirtschaftliche Entwicklung hätte diesen Effekt. Oder – wie Anfang 2024 passiert – eine vorgezogene Ausgabe von Zertifikaten durch die EU-Kommission, um Einnahmen für das Programm Repower EU zu generieren, wodurch der Preis auf ein historisches Tief von 50 Euro sank. Derartige Eingriffe in die Preisbildung sehe die IHK kritisch, da darunter der Lenkungseffekt und die Planungssicherheit für Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen würde.
„Als IHK-Organisation treten wir schon lange für eine effektive CO2-Bespreisung ein“, bekräftigt Marcel Trogisch. „Für uns ist das der effektivste und effizienteste Weg für eine erfolgreiche Transformation: Die Lenkungswirkung belohnt nachhaltiges Wirtschaften und macht umweltschädliche Aktivitäten unwirtschaftlich. Alles andere bleibt den Unternehmen überlassen und es liegt in ihrem Eigeninteresse, den effizientesten Maßnahmen zu ergreifen.“ Zusätzliche Einzelmaßnahmen würden diesen Ansatz eher behindern als unterstützen, da sie Ressourcen in den Unternehmen binden, etwa durch Berichtspflichten. Dafür werde jeder Euro für die Transformation benötigt.
Den prognostizierten schnellen Anstieg des CO2-Preises wird eine große Herausforderung für Unternehmen, die sich bislang noch nicht mit einer Umstellung ihrer Produktion beschäftigt haben oder diese aus technischen oder finanziellen Gründen nicht stemmen können. Eine neue Maschine geht oft in die Millionen, sie rechnet sich erst nach einigen Jahren. Entsprechend lang sind die Investitionszyklen in den Betrieben. Die Umstellung braucht entsprechend Zeit. „Unternehmen sollten nicht überfordert werden“, rät Marcel Trogisch. „Die, die sich das nicht leisten können, sind oft die kleinen. Dabei sind sie es, die unseren Mittelstand wirtschaftlich so resilient machen. Und eine derartige Marktbereinigung sollten wir dringend vermeiden: Denn von Wettbewerb profitiert vor allem der Verbraucher.“
Fazit: Road to 1,5°C - Können wir das schaffen?
„Die Klimaforschung liegt außerhalb des IHK-Kompetenzbereichs“, resümiert der IHK-Referent. „Wir sehen jedoch, dass vor Ort zum Teil eine andere Realität herrscht als beim Gesetzgeber. Das streut unnötigerweise Sand ins Getriebe und verzögert Maßnahmen.“ Als Beispiel nennt er die Windkraftflächen, die vom Regionalverband ausgewiesen wurden und mögliche Solarpark, die in der Region angedacht werden könnten. Beiden Projekten wehe aus der Öffentlichkeit zum Teil ein starker Wind entgegen. „Den Akteuren, die die Energiewende und die Transformation der Wirtschaft tatsächlich umsetzen, sollte mehr Gehör geschenkt werden. Die Unternehmen in der Region sind sehr aktiv und suchen lösungsorientiert nach Wegen, ihre Umweltauswirkungen zu minimieren. Das verdient aus unserer Sicht Unterstützung statt Misstrauen und Verschlossenheit notwendigen Veränderungen gegenüber.“
IHK-Vizepräsidentin Bettina Schuler-Kargoll zieht ihr eigenes Fazit zum Status Quo: „Ein ‚grünes Wirtschaftswunder‘ sieht die IHK in den nächsten Jahren nicht. Dabei ist für das Klima und den Standort gleichermaßen wichtig, dass wir gemeinsam ein wirtschaftlich erfolgreiches Klimaschutzkonzept entwickeln. Wir haben in Deutschland das Know-How, wir haben ein hohes volkswirtschaftliches Kapital. Das sind gute Voraussetzungen. Es fehlen noch die passenden Rahmenbedingungen. Wenn unsere Unternehmen in den nächsten Monaten und Jahren vor einer Investitionsentscheidung stehen, soll sich die Frage ‚Kann ich am Standort investieren?‘ gar nicht stellen.“
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Link zur Stromstudie: www.ihk.de/sbh/strom2040
Link zum Energiewendebarometer: www.ihk.de/sbh/energiewende
Link zu Bürokratieübersicht: www.ihk.de/sbh/entlasten