GenerationenGESPRÄCH

Sechs Jahrzehnte Wirtschaftsentwicklung liegen zwischen ihrer Zeit als Geschäftsführer bei der Industrie- und Handelskammer in Bingen: Dr. Hans Friderichs, 92, hat die IHK zwischen 1959 und 1963 geleitet, vor seiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister – Dr. Florian Steidl, 37, ist dort zum Jahresbeginn 2023 gestartet. Ein Generationengespräch aus Anlass des 225-jährigen Jubiläums der IHK. 
Florian Steidl: Herr Dr. Friderichs, was hat die Wirtschaft in Rheinhessen vor 60 Jahren ausgemacht?
Hans Friderichs: Schon damals war unsere Region stark mittelstandsorientiert, mit Mainz als wirtschaftlichem Zentrum. Über die Grenzen der Landeshauptstadt hinaus von Bedeutung war, dass es gelungen ist, 1952 die Firma Schott dort anzusiedeln. Mainz hatte ja seine rechtsrheinischen Gebiete, die eigentlichen Industriegebiete, an Hessen verloren und musste die Industrie erst wieder aufbauen. Boehringer Ingelheim war bereits die wirtschaftliche Kraft in der Region, aber noch nicht so stark international ausgerichtet wie heute. In Bingen neu hinzugekommen war etwa der Spielautomatenhersteller NSM-Löwen…
FS: …die Löwen-Gruppe ist heute in Deutschland einer der führenden Glücksspielanbieter.
HF: Im Raum Bingen war die Getränkeindustrie aufstrebend. Ich denke da beispielsweise an die großen Weinbrennereien A. Racke, Scharlachberg und Texier.
FS: Diese Betriebe gibt es heute nicht mehr am Standort. Dafür haben sich viele Logistikunternehmen angesiedelt. Die Verkehrsinfrastruktur ist gut ausgebaut.
HF: Die Verkehrsinfrastruktur vor 60 Jahren war überhaupt nicht vergleichbar mit der heutigen Zeit. Die Straßen waren bei weitem nicht so ausgebaut. Es gab noch keine Autobahnen. Die Wege waren deutlich länger.
FS: Ihr Zuständigkeitsbereich umfasste die damals noch eigenständigen Landkreise Mainz, Bingen, Alzey und Worms. An dem Zuschnitt hat sich übrigens bis heute nichts geändert.
HF: Im Raum Alzey-Worms war die Wirtschaft noch viel stärker klein- und mittelständisch strukturiert. Neben dem Weinbau spielte auch die reine Agrarproduktion eine erheblichere Rolle als heute.
FS: Eine bedeutende Weinregion ist Rheinhessen geblieben. Die Branchenvielfalt hat zugenommen und die Wirtschaftsstruktur heute viel dienstleistungsorientierter. Der Tourismus etwa ist zu einem starken Wirtschaftsfaktor geworden. Mehr als ein Drittel der Gäste in Rheinhessen reist aus dem Ausland an. Die Region ist insgesamt noch immer mittelständisch geprägt. Viele Unternehmen haben sich zu Global Playern oder Hidden Champions entwickelt. Ich denke da beispielsweise an Eckes-Granini, die mit Getränkemarken wie hohes C oder Granini Marktführer in Europa sind.
FS: Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Welche großen, wirtschaftsrelevanten Themen gab es um 1960?
HF: Die sogenannte Wirtschaftswunderphase hielt an. Es herrschte eine positiv-optimistische Stimmung, bis die Wirtschaft in den 1960ern Rückschläge hinnehmen musste. Arbeitslosigkeit war kein Thema, die Arbeitskräfte konnten weitgehend aus der Region selbst rekrutiert werden. In der Landwirtschaft fing der Strukturwandel an und setzte Arbeitskräfte frei. Gastarbeiter waren daher in der Region noch nicht oft anzutreffen. Die Unternehmen waren sehr stark auf den deutschen Markt fokussiert. Eine internationale, insbesondere europäische Perspektive kam aber langsam auf.
FS: Heute hat die Wirtschaft mit multiplen Krisen und Herausforderungen zu kämpfen. Die internationalen Verflechtungen sind stark, die Risiken geopolitischer Abhängigkeiten entsprechend hoch. Gut die Hälfte des Industrieumsatzes wird heute im Ausland gemacht. Es herrscht ein Mangel an Arbeitskräften, der durch den Renteneintritt der Babyboomer-Generation verschärft wird. Es ist ein regelrechter Kampf um die Talente ausgebrochen. Ohne Fachkräfteeinwanderung werden wir nicht auskommen. Zentrale Herausforderungen für Unternehmen sind auch die Digitalisierung und die Dekarbonisierung. Daneben steht ein deutlich gestiegener Verwaltungsaufwand. Da ist es nur folgerichtig, dass sich die jeweiligen Themen auch in den Angeboten und Aktivitäten der IHK widerspiegeln müssen.
HF: So liegt es nahe, dass die Schwerpunkte der IHK-Arbeit zu meiner Zeit in der Beratung und Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen lagen. Auch die duale Berufsausbildung spielte innerhalb der IHK eine beachtliche, aus meiner Sicht erfreuliche, Rolle. Der Anteil Studierender an den Schulabgängern war im Vergleich zu heute sehr gering. In Bingen war die Ingenieurschule sehr bedeutend. Sie hat das Bildungsangebot in der Region deutlich aufgewertet.
FS: Das ist die heutige TH Bingen. Sie hat noch immer zukunftsorientierte Studiengänge im Angebot. Die Bildungslandschaft hat sich stark ausdifferenziert. Die duale Berufsausbildung ist ein Exportschlager, wir müssen aber im eigenen Land immer wieder ihren Wert deutlich machen – obwohl sie alle Chancen im Berufsleben bietet. Das müssen wir in der Öffentlichkeit immer wieder verdeutlichen.
HF: Das Dienstleistungsangebot der IHK war in den 1960er Jahren geringer als heute. Man spürte noch den Gründergeist der Nachkriegszeit. Ich erinnere an die Eröffnung des ersten Massa-Marktes in Alzey. Das war der Start einer Expansion der SB-Warenhauskette. Große Warenhäuser und Selbstbedienung waren etwas Neues.
FS: Die Massa-Märkte gingen später teilweise in der Metro AG auf.
HF: Solche Ansiedlungen und Gründungen haben wir als IHK intensiv begleitet. Eine wichtige Frage war, wie wir weitere Unternehmen ansiedeln können. Nachfolge war weniger ein Thema, da die Betriebe nach dem Krieg ja erst (wieder) aufgebaut wurden, oft von Unternehmern im mittleren Alter.
FS: Der Beratungsbedarf hat heute stark zugenommen. Angebote für Gründerinnen und Gründer, zur Fachkräftesicherung und zur Unternehmensnachfolge sind heute stark nachgefragt, die Umwelt- und Energieberatung wird wichtiger. Wir unterstützen bei der digitalen Transformation. Auch die Beratung zum internationalen Geschäft hat heute einen hohen Stellenwert in der IHK-Arbeit. Zudem gehen wir stark in die Vernetzung der Akteure und bieten Plattformen zum Austausch.
HF: Damals gab es einen relativ engen Kontakt zur Landespolitik.  Das war wichtig, um die Positionen der Wirtschaft einzubringen. 
FS: Das ist bis heute geblieben. Über die DIHK hat die Wirtschaft auch ein Sprachrohr in Berlin und Brüssel, wo die meisten Gesetze gemacht werden. Unsere Hauptaufgabe ist ja die Bündelung der Interessen der Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe oder der Branche. Doch wir sind mehr als Interessenvertreter. Wir sehen uns heute stärker gestaltend und als Impulsgeber für den wirtschaftliche Entwicklung Rheinhessens. Dabei ist die Wirtschaftswelt über die Zeit nicht nur schnelllebiger geworden, auch die Art des Arbeitens hat sich verändert.
HF: Als ich in Bingen bei der IHK anfing, hatte ich eine veraltete Büroorganisation vorgefunden. Hier habe ich erst mal modernisiert. Wir hatten Schreibmaschinen, unsere Kommunikationsmittel waren Telefone, Briefe und Besuche vor Ort. Das Internet war noch nicht erfunden. Der Kontakt zu den Unternehmen war sehr eng – ich bin viel vor Ort gewesen. Die Arbeit bei der IHK hat mir Freude gemacht.
FS: Persönliche Gespräche sind noch immer das A und O. Aber die Arbeit ist digitaler geworden. Wir bieten deshalb fast alle Dienstleistungen und einen Teil der Seminare und Veranstaltungen auch digital an. Die Kommunikation hat sich vollkommen verändert. Die digitale Welt eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten, beispielsweise über die sozialen Medien unsere Angebote darzustellen und mit Unternehmen, Schülern, Auszubildenden und auch der Politik in Kontakt zu kommen.
HF: Die Art der Büroorganisation und der Menschenführung, sowie Offenheit und Neugier habe ich aus der IHK-Zeit mitgenommen für meine späteren Tätigkeiten als Bundeswirtschaftsminister und im Vorstand der Dresdner Bank. Das habe ich mir bis heute bewahrt. Geblieben ist auch das Verständnis der IHK-Organisation. Sie hatte immer eine abwägende, kompromissbereite Haltung. Hinzu kommt, dass ich bei Auslandsreisen oft mit den Auslandshandelskammern zu tun hatte.
FS: Die IHK für Rheinhessen feiert dieses Jahr ihr 225-jähriges Jubiläum. Zudem haben wir Neuwahlen zur IHK-Vollversammlung, dem Wirtschaftsparlament. Was kann die IHK aus der Vergangenheit mit in die Zukunft nehmen und was geben Sie den dann neu gewählten Mitgliedern mit auf den Weg?
HF: Die IHK sollte zu akuten wirtschaftspolitischen Themen noch stärker ein Antreiber sein. Die Politik ist derzeit zu wenig zukunftsorientiert ausgerichtet. Über die Vollversammlung können die Unternehmer dafür sorgen, dass wirtschaftspolitische Zukunftsthemen auch auf überregionaler Ebene behandelt werden und zeigen, wohin es führt, wenn wir diese Themen nicht anpacken. Es geht dabei um mehr als um das permanente Lösen von Tagesproblemen. Die Vollversammlung kann Anregungen geben und Vorschläge machen. Dabei ist es wichtig, die Wirtschaftsregion im Blick zu haben, losgelöst von den Interessen des eigenen Unternehmens.
Was den Nachwuchs im Wirtschaftsparlament betrifft, so sind die Wirtschaftsjunioren eine gute Adresse. Ich habe den Kreis der Wirtschaftsjunioren Rheinhessen aufgebaut, um junge Unternehmer und leitende Angestellte an die IHK-Arbeit heranführen. Es entstanden enge Kontakte, die zum Teil bis heute anhalten.
FS: Der Kreis ist erfreulicherweise noch immer aktiv. Haben Sie einen Wunsch für die Wirtschaftsregion?
HF: Die rheinhessische Wirtschaft war damals stärker als heute mit dem Raum Bad Kreuznach und Idar-Oberstein verbunden. Auf die andere Rheinseite gab es eher wenig Kontakt.
FS: Heute ist die Wirtschaftsregion Rheinhessen auch in Richtung Frankfurt-Rhein-Main orientiert. Sie ist ja auch Teil der Metropolregion.
HF: Mein Wunsch wäre, dass sich die Gesamtregion Rhein-Main weiter annähert. Sie ist nach wie vor nicht sehr eng verflochten. Aus dem Ausland Zugezogene sehen die Region viel stärker als Einheit als wir sie selbst sehen. Das umfasst auch eine stärkere Zusammenarbeit der IHKs.
FS: Diese hat sich deutlich verstärkt. Schließlich orientieren sich Unternehmer nicht an Verwaltungsgrenzen. Die IHKs in der Region arbeiten an gemeinsamen Projekten und einer engeren Vernetzung, sowohl mit der Metropolregion Rhein-Neckar in der IHK MRN als auch im länderübergreifenden Strategieforum FrankfurtRheinMain und der Initiative PERFORM. Ziel ist es, 2030 einer der attraktivsten Lebens- und Wirtschaftsräume weltweit zu sein. Das Potenzial ist aber sicher noch nicht ausgeschöpft.
HF: Ich habe noch einen Wunsch, eine Hoffnung. Ich hoffe, dass die EZB ihre Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung – die sie zu spät angefangen hat – ernst fortsetzt. Die Inflation führt zu großen Problemen, wenn sie nicht ausreichend bekämpft wird. Erst wenn das gelingt, sehe ich eine große Zukunftschance für die wirtschaftliche Entwicklung.
FS: Herr Dr. Friderichs, vielen Dank für das Gespräch!
Zu den Personen

Der Jurist Dr. Hans Friderichs (92) ist ein Wanderer zwischen den Welten Politik und Wirtschaft. Von 1959 bis 1963 war er Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für Rheinhessen in Bingen. Es folgten Stationen als FDP-Bundesgeschäftsführer, Mitglied des Deutschen Bundestages und Staatssekretär in Rheinland-Pfalz. Von 1972 bis 1977 war er Bundesminister für Wirtschaft. Danach wechselte er in den Vorstand der Dresdner Bank, dessen Sprecher er von 1978 bis 1985 war.

Der international ausgebildete Volkswirt Dr. Florian Steidl (37) wurde nach Stationen in der Wissenschaft und der IHK Wiesbaden wirtschaftspolitischer Berater des Hessischen Ministerpräsidenten in der Hessischen Staatskanzlei. Seit 2023 ist er Geschäftsführer der IHK für Rheinhessen in Bingen.
IHK-Standort Bingen
In Bingen ist die Industrie- und Handelskammer seit 161 Jahren mit einem Standort vertreten. Die Zuständigkeit erstreckte sich zunächst nur auf die Stadt Bingen und wurde dann sukzessive ausgeweitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Standort mit der IHK Mainz und der IHK Worms zur IHK für Rheinhessen verschmolzen. Über das Dienstleistungszentrum der IHK in Bingen werden heute 14.000 Unternehmen in den Landkreisen Mainz-Bingen und Alzey-Worms zu den Themen Ausbildung, Unternehmensgründung und -förderung, Export-Dokumente, Steuern, Umwelt und Energie betreut und die Interessen gebündelt.