Resolution zur aktuellen Finanz- und Wirtschaftspolitik

Auf ihrer Sommersitzung hat sich die Vollversammlung der IHK Rhein-Neckar mit der aktuellen Entwicklung des Inflationsgeschehens beschäftigt und hierzu eine Resolution verabschiedet. Gefordert wird eine konsequente Angebotspolitik.

Zeitenwende auch in Finanz- und Wirtschaftspolitik – Resolution der IHK Rhein-Neckar

Die Wirtschaft ist derzeit mit vielschichtigen Problemen konfrontiert. In konjunktureller Sicht steht die Wirtschaft am Beginn eines Abschwungs bei gleichzeitig ungewöhnlich hoher Inflation mit klaren Tendenzen für einen weiteren Anstieg. Gleichzeitig müssen sich die Unter-nehmen an mehreren langfristigen Entwicklungen strukturell anpassen:
  • ein sich ausweitender Fachkräftemangel, der insbesondere durch den demographischen Wandel getrieben wird
  • die ökologische Transformation der Wirtschaft
  • die Digitalisierung
  • die Diversifizierung der Lieferketten und der Aufbau von Pufferkapazitäten, um die Resilienz zu stärken
  • Nachwirkungen des Brexits (Produktzulassung, Kennzeichnungspflichten nach UKCA)
Zusammengefasst befinden wir uns in einer Phase konjunkturelle Abschwächung bei außer-gewöhnlich hoher Inflation und massivem Strukturwandel.
Angesichts dieser gigantischen Herausforderungen bedarf es auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik einer Zeitenwende. Das heißt, dass die Politik sowohl ihren Mindset als auch ihre Handlungsweise grundsätzlich verändern muss. Mit folgenden Punkten wird aufgezeigt, wie eine Zeitenwende in der Wirtschaft- und Finanzpolitik aussehen müsste.

1. Konjunkturpolitische Betrachtung reicht nicht aus

Die aktuelle Lage hat auch konjunkturelle Gründe, aber eben nicht nur. Eine rein konjunkturpolitische Betrachtung der Situation geht fehl. Der multiple Strukturwandel und die Belebung des langfristigen Wachstums sind mindestens genauso wichtig.

2. Angebotsprobleme können nur auf der Angebotsseite gelöst werden

Die außergewöhnlich hohe Inflation und die multiplen Engpässe sind ein klares Zeichen, dass die Probleme auf der Angebotsseite liegen. Und Probleme auf der Angebotsseite können auch nur auf der Angebotsseite gelöst werden. In dem ungewöhnlich langen konjunkturellen Aufschwung und die scheinbar unendlich sprudelnden Steuereinnahmen haben Verteilungsaspekte stark an Bedeutung gewonnen, neue Begehrlichkeiten geweckt, neue Rechtsansprüche geschaffen. Demgegenüber ist die Entstehung des Volkseinkommens aus dem Fokus geraten. Das muss sich grundlegend ändern.
Denn nur was erwirtschaftet wird, kann auch verteilt werden. Der Verteilungspolitik kommt dabei eine flankierende Rolle zu.

3. Prioritäten in den öffentlichen Haushalten setzen – neue Begehrlichkeiten eindämmen

Das dynamische wachsende Steueraufkommen des letzten Aufschwungs hat dazu geführt, dass sich die Politik darum gedrückt hat, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und Entscheidungen zu treffen. Allzu oft wurden “Entweder-oder-Fragen” mit “Sowohl-als auch-Antworten” beantwortet. Negative Zinsen haben dem Vorschub geleistet, weil man damit argumentieren konnte, dass die öffentlichen Haushalte mit der Aufnahme neuer Schulden zusätzliche Einnahmen erzielen konnten.
Für die öffentlichen Haushalte erweist sich die Zinswende der EZB als echte Zeiten-wende für die Politik selbst. Sie zwingt die Verantwortlichen dazu, klare Prioritäten zu setzen. Dabei muss investiven Ausgaben, die dem Strukturwandel dienen und das Wachstum fördern, Vorrang geben werden, anderes muss zunächst zurückgestellt werden. Damit wird zugleich die Grundlage für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und den Wohlstand der Gesellschaft von morgen gelegt.

4. Politik muss schneller werden und praxisnah entscheiden

Der politische Diskurs dauert – nicht zuletzt aufgrund umfangreicher Bürgerbeteiligung – viel zu lang. Die Folge davon:

  • Die Zeit der Unklarheit wird von der Politik verlängert, was auf Seiten der Wirtschaft Investitionen erschwert/verhindert.
  • Die Zeit, die die Politik für die Entscheidungsfindung benötigt, fehlt der Wirtschaft später für die Umsetzung, was die Einhaltung der politischen Ziele erschwert oder gefährdet.
Die Entscheidungen, die dann mit starker Zeitverzögerung getroffen werden, sind oft nicht praxisnah. Sie funktionieren vielleicht im Prinzip, sind aber nicht oder nicht schnell genug skalierbar oder passen nicht ins System. Die IHKs bieten Politik und Verwaltung ihre Unterstützung bei der Findung praktikabler Lösungen an.

5. Anpassung der Unternehmen an den Strukturwandel unterstützen

Um sich an die Herausforderungen anzupassen, muss die Wirtschaft massiv investieren und dies

  • in Zeiten erhöhter Unsicherheit,
  • in Zeiten steigender Inflation und zunehmender Lieferschwierigkeiten,
  • in Zeiten steigender Zinsen und
  • bedingt durch die Corona-Pandemie bzw. die Corona-Maßnahmen der Bunderegierung leiden viele Unternehmen noch immer unter einer betriebswirtschaftlichen Auszehrung, die ihre Finanzierungsfähigkeit für diese Investitionen einschränkt.
Der Staat kann die Finanzierungsfähigkeit der Unternehmen unterstützen, indem er steuerliche Verlustvorträge vorzeitig verrechnet (bzw. die Mindestbesteuerung aussetzt), zinsgünstige Darlehen und eigenkapitalähnliche Mittel zur Verfügung stellt.

6. Vorfahrt für Unternehmensinvestitionen

Die Anpassung an den Strukturwandel erfordert von den Unternehmen erhebliche Investitionen.
Um den Strukturwandel zu unterstützen, müssen diese Investitionen erleichtert und beschleunigt werden. Die Politik kann dazu beitragen, indem sie mit rechtzeitigen und vorausschauenden Entscheidungen für verlässliche Rahmenbedingungen sorgt, Genehmigungsverfahren entbürokratisiert und beschleunigt und geeignete Flächen zur Verfügung stellt.

7. Arbeitsmarkt flexibilisieren

Der Fachkräftemangel ist in weiten Teilen der Wirtschaft bereits da und entwickelt sich zunehmend zum Engpassfaktor für den Strukturwandel – auch weil die Politik es versäumt hat, in Sachen Zuwanderung rechtzeitig die Weichen zu stellen. Er wird sich in den kommenden Jahren dramatisch verschärfen. Um dem entgegenzuwirken, muss der Arbeitsmarkt drastisch flexibilisiert werden.

  • In der kurzen Frist, die für die Bewältigung der akuten Probleme in den Lieferketten relevant ist, geht es um eine Flexibilisierung der Wochen- und Tagesarbeits-zeit. Zur Entspannung bei den Problemen in den Logistikketten würde insbesondere eine Aufhebung des Sonntagsfahrverbots für Lkw sorgen.
  • In der langen Frist geht es um die Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit
  • Flexible Mehrarbeit muss nicht nur möglich, sondern auch wirtschaftlich attraktiv gemacht werden. Hierfür muss die (steuerliche) Grenzbelastung reduziert werden (z. B. steuerliche Begünstigung der Überstundenzuschläge oder eine pauschale Regelung in Anlehnung an die Corona-Prämie).
Das hilft nicht nur den Arbeitnehmern, mit der Inflation zurechtzukommen, sondern hilft auch den Sozialkassen und beschleunigt den Abbau der Probleme in den Lieferketten.

8. Bildungspolitik nachjustieren

Am größten ist der Engpass nicht bei den akademisch, sondern bei den dual ausgebildeten Fachkräften. Dementsprechend muss das Verhältnis der dualen Ausbildung zur akademischen Ausbildung neu justiert werden. Die duale Ausbildung muss deutlich attraktiver gemacht werden.

9. (Anpassungs-)Weiterbildung fördern/honorieren

Der Strukturwandel wird unvermeidlich zum Verlust von Arbeitsplätzen führen, die es so nicht mehr geben wird. Hierdurch dürfen die Sozialversicherungssysteme nicht zusätzlich belastet werden. Deshalb muss mit gezielten Weiterbildungsmaßnahen für eine Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit der betroffenen Arbeitnehmer gesorgt werden.

10. Vorteile der internationalen Arbeitsteilung weiter nutzen, aber einseitige Abhängigkeiten vermeiden

Die aktuellen geostrategischen Entwicklungen haben die Risiken der internationalen Arbeitsteilung aufgezeigt, nachdem zuvor die Chancen im Fokus waren. Hier muss eine neue Balance gefunden werden: Die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung müssen weiter genutzt werden, die geostrategischen Risiken aber reduziert werden.

11. EU-Binnenmarkt schnell vollenden

Die EU ist nicht nur eine politische Wertegemeinschaft, sondern in ökonomischer Hinsicht auch eine Versicherungsgemeinschaft. Je größer und je integrierter die europäischen Märkte sind, desto besser kann der Binnenmarkt die Absicherungsfunktion gegen exogene Schocks wahrnehmen. Dementsprechend muss das Tempo zur Vollendung des Binnenmarktes deutlich beschleunigt werden, insbesondere bei der Energieversorgung.

12. Inflationsbekämpfung priorisieren

Deutschland erlebt seit einigen Monaten eine für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich hohe Inflation. Ursache hierfür sind:

  • die ultralockere Geldpolitik der EZB in den letzten Jahren
  • die während der Corona-Pandemie zurückgestaute Kaufkraft, die sich nun zeitverzögert am Markt auswirkt und dort auf ein aufgrund der Corona-bedingten Probleme in den Lieferketten auf ein reduziertes Angebot trifft.
  • verstärkt durch zunehmende Bestrebungen der Unternehmen, Lagerbestände aufzubauen, um lieferfähig zu bleiben
  • steigende Energiekosten und Lebensmittelpreise durch den Ukrainekrieg und die steigende CO2-Bepreisung
Die hohen Inflationsraten stellen die Unternehmen vor massive Herausforderungen. Listenpreise werden von Preisgleitklauseln oder Tagespreisen abgelöst. Und bei den Tagespreisen handelt es sich oft nicht um Tagespreise bei Bestellung, sondern um Tagespreise bei Anlieferung. Damit befinden sich die Unternehmen in kalkulatorischer Hinsicht auf Treibsand, womit entsprechende wirtschaftliche Risiken einhergehen, ob ein Auftrag auskömmlich abgeschlossen werden kann. Auf Kundenseite führt dies auch zu erheblicher Verunsicherung.
Mindestens genauso bedeutend wie diese Primäreffekte sind die Zweitrundeneffekte:
  • Ein derart massiver Preisanstieg wird eine Preis-Lohn-Spirale in Gang setzen und über massive Tarifsteigerungen weitere Preisanstiege anstoßen. Mit der verteilungspolitisch motivierten Anhebung des Mindestlohnes hat die Bundesregierung selbst dazu beigetragen. Und in den derzeit laufenden Tarifverhandlungen haben die Lohnforderungen bereits deutlich zugelegt (Inflation erzeugt Inflation).
  • Die negativen Verteilungseffekte der Inflation haben bereits die Sozial- und Verteilungspolitiker auf den Plan gerufen, die sich mit neuen “Kompensationsmaßnahmen” gegenseitig überbieten. Dies führt zu weiteren unkalkulierbaren Belastungen der Wirtschaft und des Bundeshaushalts (Inflation erzeugt politische Risiken).
Die Bekämpfung der Inflation muss deshalb oberste Priorität haben, damit sich die hohen Teuerungsraten nicht verfestigen.
Als ein zentrales Element der aktuellen Inflationsbekämpfung sollte die Politik dazu Beiträge leisten, durch angebotsorientierte Maßnahmen die auf vielen Märkten klaffende Angebotslücke zur Nachfrage zu schließen. Dabei sollten insbesondere Unternehmensinvestitionen finanziell gestärkt werden. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen, die anders als kapitalmarktorientierte Unternehmen auf Bankenfinanzierungen angewiesen sind, erleben derzeit, dass sich ihre Investitionsvorhaben durch die allgemeinen Zinserhöhungen kräftig verteuern. Als angebotsorientierte Maßnahme wäre hier zum Beispiel die Wiederaufnahme früherer KfW-Angebote zur Zinsvergünstigung sinnvoll.