Zeitenwende: "Krisenbewältigung und Strukturwandel gemeinsam denken"
Kanzler Scholz sprach in seiner Regierungserklärung nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine von einer “Zeitenwende”. Die Frage ist: Wie muss diese gestaltet sein? IHK-Präsident Manfred Schnabel gibt Antworten aus Sicht der Wirtschaft:
Wir erleben derzeit eine so noch nicht gekannte Kumulation verschiedener Krisen. Gleichzeitig stehen wir vor der Aufgabe, die großen strukturellen Herausforderungen zu bewältigen: den demografischen Wandel, die ökologische Transformation, die Digitalisierung und die Globalisierung. Hier fehlen bisher durch den Staat gesetzte zukunftsorientierte Rahmenbedingungen. Es ist notwendig, Krisenbewältigung und Strukturwandel immer zusammenzudenken. Die Politik stellt dies vor eine große Herausforderung, da sie es in der Vergangenheit versäumt hat, strategische Herausforderungen rechtzeitig und konsequent anzugehen. Das fällt ihr jetzt in der Krise auf die Füße. Ein Beispiel ist die Energiewende. Deren Defizite treten nun mit Wucht zu Tage.Viele der Einflussfaktoren sind aus der Region nur schwer mitzugestalten. Dennoch haben wir auch in der Region selbst viel Gestaltungsspielräume, den wir auch nutzen sollten. Dazu gehören Projekte wie der Mobilitätspakt Rhein-Neckar oder die IHK-Stromstudie. Letztere ermittelt den zukünftigen Strombedarf der Region, welches Potenzial für Erneuerbare Energie in der Region besteht, welcher Anteil mit Stromimporten gefüllt werden muss und was für ein Leitungsnetz dafür nötig ist.Die von der Politik nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ausgerufene Zeitwende ist angemessen. Es kommt dabei aber immer auf die konkrete Stoßrichtung und Umsetzung an. Die Politik sollte sich daran orientieren, dass jede der laufenden Transformationen auch ein ökonomischer Erfolg werden muss. Das ist Voraussetzung dafür, dass wir unsere wirtschaftliche Basis erhalten und andere zum Mitmachen bewegen können.Mit Blick auf eine mögliche Gasmangellage im Winter warne ich vor einer “Gas-Triage” und einem kompletten Abdrehen einzelner Verbraucher in der Wirtschaft. Bereits jetzt leiden fast alle Unternehmen unter den steigenden Energiepreisen. Wer Gas in der Wärmeerzeugung einsetzt, hat oft keine oder wenig Substitutionsmöglichkeiten. Noch problematischer ist die Lage bei den Industrieunternehmen, die Gas als Rohstoff nutzen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die unabsehbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen aufgrund der Verbundeffekte. Die öffentliche Diskussion zeichnet häufig ein Zerrbild von Wirtschaft. Unternehmen produzieren Güter oder erbringen Dienstleistungen, weil es hierfür individuellen oder gesellschaftlichen Bedarf gibt. Der behauptete Gegensatz „Wirtschaft versus Gesellschaft“ ist falsch und irreführendUm eine galoppierende Inflation zu verhindern, muss der Staat einerseits konsumtive Ausgaben reduzieren, andererseits die Angebotsseite stärken, beispielsweise durch Investitionsanreize, wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen und eine Neuauflage zinsvergünstigter Darlehen durch die KfW für Investitionen. Wir erleben derzeit eine Angebotskrise, keine Nachfragekrise. Daher ist eine klassische Konjunkturpolitik verkehrt, die lediglich weitere Nachfrage befeuern und damit die Inflation verstärken würde. Es gilt auch, eine Lohnpreis-Spirale zu verhindern.Man muss kritisch auf die Politik der vergangenen Jahre schauen. Allzu oft wurde versucht, gesellschaftliche Herausforderungen lediglich mit zusätzlichen Ausgaben zu lösen. Dieser Politikansatz ist erkennbar an seine Grenzen gekommen und droht nun zu Lasten aktueller und kommender Generationen zu scheitern.
Mannheim, 21. Juli 2022