Die Grundfreiheiten in der Europäischen Union

Der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital im europäischen Binnenmarkt wurde eingerichtet, um die wirtschaftlichen Entwicklungen in einem Raum ohne Binnengrenzen zu fördern.

Allgemeines

Die Mitgliedstaaten haben sich mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (kurz: EWG) zur Aufgabe gemacht, die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Gemeinschaft harmonisch, expandierend, ausgewogen und stabil zu gestalten, um den Lebensstandard ihrer Bürger zu heben und engere Beziehungen untereinander zu begründen. Zur Erreichung dieser Ziele verlangt Art. 2 EGV bzw. Art. 14 EGV die Errichtung eines gemeinsamen Marktes sowie eines gemeinsamen Binnenmarktes. Die Europäische Union (EU) sieht für diesen Zweck die sogenannten vier Grundfreiheiten vor:
  • der freie Warenverkehr
  • der freie Personenverkehr
  • die Dienstleistungsfreiheit
  • der freie Kapitalverkehr
Ergänzt werden diese vier Grundfreiheiten durch die sogenannte fünfte Freiheit oder Hilfsfreiheit, nämlich den freien Zahlungsverkehr.

Gemeinsamkeiten

Die Grundfreiheiten weisen einige Gemeinsamkeiten auf:

a) Unmittelbare Anwendbarkeit

Eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten ist, dass es sich bei den Grundfreiheiten um unmittelbar anwendbare Rechtsnormen handelt. Die Folge ist, dass jeder EU-Bürger sich vor den Gerichten und der Verwaltung der Mitgliedsstaaten auf die Grundfreiheiten berufen kann. Die Gerichte und die Verwaltung müssen diese Normen unmittelbar als geltendes Recht anwenden. Entgegenstehende nationale Vorschriften sind insoweit nur zulässig, wenn die jeweiligen Bestimmungen dies vorsehen.

b) Diskriminierungsverbot

Eine weitere Gemeinsamkeit und wesentlicher Bestandteil der Grundfreiheiten sind die Diskriminierungsverbote. Diese besagen, dass Staatsangehörige bzw. Waren anderer Mitgliedstaaten nicht schlechter behandelt werden dürfen als inländische Staatsbürger bzw. Waren (vergleiche Art 39 II, 43 II, 50 III EGV). Dieses Prinzip wird auch als Gebot der Inländergleichbehandlung bezeichnet.
Beim Diskriminierungsverbot unterscheidet man zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen. Offene Diskriminierungen sind dabei solche, die ausdrücklich auf die Staatsangehörigkeit als Entscheidungskriterium abstellen. Versteckte Diskriminierungen sind dagegen solche, die zwar nicht ausdrücklich auf die Staatsangehörigkeit abstellen, jedoch in aller Regel nur Inländer oder Ausländer betreffen.
Denkbar ist, dass aufgrund der Grundfreiheiten ausländische Waren bzw. Mitgliedstaaten nicht nur nicht schlechter behandelt sondern sogar besser gestellt werden als inländische Waren bzw. Staatsangehörige. Beispiele dafür sind das Reinheitsgebot des Biers (welches nicht für ausländische Biere gilt) oder der Meisterzwang im deutschen Handwerk. In einem solchen Fall spricht man von "Inländerdiskriminierung". Eine solche stellt grundsätzlich keinen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar, weil dies die Regelung grenzüberschreitender Sachverhalte voraussetzt. Die Inländerdiskriminierung ergibt sich aus einer Regelung die nur nationale Sachverhalte betrifft.

c) Beschränkungsverbot

Der Europäische Gerichtshof hat die als Diskriminierungsverbote formulierten Grundfreiheiten schrittweise zu Beschränkungsverboten weiterentwickelt. Dies bedeutet, dass auch unterschiedslos auf Inländer und Ausländer anwendbare Vorschriften sich auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht überprüfen und unter Umständen rechtfertigen lassen müssen. Begründet hat der Gerichtshof diese Weiterentwicklung damit, dass auch unterschiedslos angewandte Vorschriften den freien Waren- bzw. Personenverkehr erheblich behindern, wenn nicht sogar unmöglich machen können. Beschränkungen sind nur dann zulässig, wenn sie eine gemeinschaftliche Rechtfertigung besitzen, die durch den Europäischen Gerichtshof in vier Stufen geprüft wird.
Maßnahmen sind danach nur dann gerechtfertigt, wenn sie:
  • in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden,
  • aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind,
  • geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten
  • und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Die einzelnen Grundfreiheiten

a) Der freie Warenverkehr

Der räumliche Anwendungsbereich des freien Warenverkehrs folgt aus Art. 23 II EGV, wonach die Freiheit des Warenverkehrs für die aus den Mitgliedstaaten stammenden Leistungen sowie für Leistungen aus Drittländern gilt, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden.
Zur Erreichung des freien Warenverkehrs sieht der EGV vor allem zwei Mittel vor:
  • das Verbot von Ein- und Ausfuhrzöllen (Art. 25 EGV) und
  • die Abschaffung aller mengenmäßigen Beschränkungen (Art. 28 ff. EGV)
Diese beiden Mittel haben bereits seit längerem volle Wirkung entfaltet. So fielen die letzten Zollschranken innerhalb der EG bereits 1968. Gleichzeitig mit der Beseitigung der Zollschranken im Innern der EG erfolgte ebenfalls 1968 die Festsetzung eines Zolltarifs (Außenzoll) gegenüber den Staaten, die nicht der EG angehören. Durch diesen gemeinsamen Außenzoll wird eine Verlagerung der Warenströme verhindert.
Ebenso kommen die verbotenen mengenmäßigen Beschränkungen, d. h. sämtliche staatliche Maßnahmen, die die Einfuhr, Durchfuhr oder Ausfuhr einer Ware der Menge oder dem Wert nach begrenzen, in der heutigen Praxis nicht mehr vor.
Neben dem Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen gilt ebenso das Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung. Im Dassonville-Urteil definiert der Europäische Gerichtshof solche Maßnahmen gleicher Wirkung als jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, das innergemeinschaftliche Handeln unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (EuGH 8/ 74 vom 11.7.1974). Im Allgemeinen handelt es sich dabei um Maßnahmen, die ausschließlich eingeführte Erzeugnisse belasten. Eine Grundsatzentscheidung hierzu wurde im Cassis de Dijon-Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 20.2.1979 getroffen. Ein deutscher Lebensmittelkonzern hatte vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt, weil ihm die Einfuhr eines französischen Likörs aus schwarzen Johannisbeeren (franz.: cassis) unter Hinweis auf deutsche Gesetze verboten worden war. Nach deutschem Recht mussten Liköre mindestens 32 Prozent Alkohol haben, der Cassis hat aber weniger als 20 Prozent. Der Gerichtshof entschied, dass das deutsche Einfuhrverbot den Verträgen der Gemeinschaft widerspreche, die den freien Warenverkehr fordern und Einfuhrbeschränkungen verbieten. Er stellte in seinem Urteil den Grundsatz auf: Was in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft nach dem dort gültigem Recht verkauft werden darf, das darf auch in allen anderen Mitgliedstaaten verkauft werden. Mit diesem Urteil wurden dem freien Warenverkehr im Binnenmarkt endgültig alle Türen geöffnet.

b) Der freie Personenverkehr

Die Freiheiten des Personenverkehrs umfassen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie die Niederlassungsfreiheit.

aa) Freizügigkeit der Arbeitnehmer

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zielt auf die Mobilität der unselbständig Tätigen hin. Der Begriff Arbeitnehmer im Sinne von Art. 48 ff. EGV erfasst dabei alle Personen, die eine abhängige Tätigkeit ausüben und in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis stehen. Zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer gehört die räumliche und die berufliche Mobilität sowie die soziale Eingliederung. Die räumliche Mobilität umfasst das Recht der Unionsbürger sich in ein anderes Mitgliedsland zu begeben und sich dort aufzuhalten. Die berufliche Mobilität bezieht sich auf die Berufsausübung sowie die Beschäftigungs- und die Arbeitsbedingungen. So darf auch in dieser Hinsicht ein Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer. Die soziale Eingliederung umfasst den Anspruch auf soziale Eingliederung und verkörpert das Recht auf Teilhabe an allen im Gastland im Hinblick auf die allgemeinen Lebensumstände angebotenen Vergünstigungen.

bb) Niederlassungsfreiheit

Die in Art. 43 ff. EGV näher geregelte Niederlassungsfreiheit umfasst im Gegensatz zur Arbeitnehmerfreizügigkeit die Freizügigkeit der unternehmerischen Tätigkeiten und die Freiheit der Standortwahl des Unternehmens. Die Niederlassungsfreiheit schützt dabei die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates.
Auch für Gesellschaften gilt innerhalb der EU das Recht auf Niederlassungsfreiheit. Dies umfasst sowohl die Errichtung einer primären als auch einer sekundären Niederlassung. Eine andere Frage ist, welches Recht für die Prüfung der ordnungsgemäßen Gründung dieser Gesellschaften anwendbar ist. Seit der Centros-Entscheidung ist dies in der Diskussion. Damit hängt auch zusammen, ob eine Gesellschaft ihren Sitz innerhalb der EU verlegen kann, ohne dass das zur Auflösung bzw. Neugründung führt. Um das zu ermöglichen, ist die Rechtsform der Europa-AG geschaffen worden. Die Europa-AG basiert auf der Richtlinie 2001/ 86/ EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer und auf der Verordnung 2001/ 2157/ EG des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE).

c) Die Dienstleistungsfreiheit

Die Dienstleistungsfreiheit bezieht sich auf dieselben Leistungen wie bei der Niederlassungsfreiheit. Für die Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit ist jedoch der vorübergehende Charakter der Dienstleistungsfreiheit entscheidend. Anders als die Niederlassungsfreiheit verlangt die Dienstleistungsfreiheit nämlich nicht eine dauernde Niederlassung im Aufnahmestaat, sondern erfasst gerade den vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zur Erbringung oder zum Empfang von Leistungen.
Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieser Grundfreiheit ist einmal ein grenzüberschreitendes Element und zum anderen das Merkmal der Entgeltlichkeit.
Die Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit enthält über den Grundsatz der Inländergleichbehandlung hinaus ein umfassendes Beschränkungsverbot. Ähnlich wie bei den anderen Freiheiten können Beschränkungen auch hier nur zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden, als sie zur Verwirklichung des angestrebten Zieles geeignet und erforderlich sind.

d) Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs

Nach den Art. 56 I, 57 ff. EGV sind grundsätzlich alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Umfasst von dem Begriff Kapitalverkehr werden sowohl Geldkapital als auch Sachkapital (wie zum Beispiel Rechte an Immobilien). Die Freiheit des Zahlungsverkehrs wird auch als fünfte Freiheit bezeichnet. Sie schützt grenzüberschreitende Transaktionen im Rahmen von Austauschverträgen (zum Beispiel Zahlung von Kaufpreisen oder Gehältern). Die Freiheit des Zahlungsverkehrs komplettiert damit die anderen Freiheiten, denn Warenverkehrsfreiheit oder Arbeitnehmerfreizügigkeit wären unvollständig, wenn die dafür zu erbringende Gegenleistung (Kaufpreis oder Gehalt) nicht ebenso leicht die Grenzen überschreiten kann.
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