Unternehmen & Märkte

Digitaler Reisepass fürs ganze Produktleben

Die Europäische Union führt den Digitalen Produktpass als Instrument für mehr Nachhaltigkeit ein. Das wird demnächst Pflicht. Doch dazu gehört die Kür: Narravero aus Münster sieht neue Chancen für Unternehmen, mit Kunden zu kommunizieren. | Text: Tobias Hertel
Vor sieben Jahren begann Narravero damit, sich mit den Lieferketten von Lebensmitteln zu beschäftigen. „Wir wollten kleinere Betriebe in die Lage versetzen, die Entstehungsgeschichte ihres Produkts sichtbar zu machen“, erklärt Geschäftsführer Thomas Rödding.

Chips, dünner als eine Briefmarke

Was dicke Anleitungen füllt, passt auf einen Smartphone-Bildschirm: Der Digitale Produktpass macht es möglich.
Was dicke Anleitungen füllt, passt auf einen Smartphone-Bildschirm: Der Digitale Produktpass macht es möglich. © Narravero
Die Grundidee beruht auf NFC-Chips als Träger des Produktpasses. Sie sind dünner als eine Briefmarke und zum Beispiel in Smartphones oder Kreditkarten im Einsatz. Ausstatten lassen sich mit allen wesentlichen Informationen zum Produkt. Zunächst nutzten große Jagd- und Wildbetriebe die Technologie, Biofleisch NRW oder der SuperBioMarkt kamen hinzu. Spätestens seit 2021 ist Narravero aus der Nische herausgetreten: „Zu dem Zeitpunkt erreichten wir pro Monat 34 Millionen Zugriffe auf Digitale Produktpässe“, berichtet Rödding – Zeit also für einen breiteren Auftritt.
Heute machen beispielsweise auch Textilhersteller oder Industriezulieferer den Lebenszyklus ihrer Produkte transparent. Mit der Technologie aus Münster weisen sie nach, woher einzelne Rohstoffe und Teile ihres Produktes stammen, wie sie verarbeitet wurden, wie sie repariert werden und wie sie am Ende ihrer Lebensdauer recycelt werden können. Das ist zunächst noch weitgehend freiwillig.

Pflicht spätestens ab 2027

Die EU möchte mit dem Digitalen Produktpass (DPP) Unternehmen künftig allerdings zu mehr Nachhaltigkeit verpflichten. Ab 2027 ist er für alle Unternehmen vorgeschrieben, die in der EU produzieren. Unter anderem für Batterien und Akkus geht es schon früher los. „Schuhe und Textilien werden sicher bald folgen“, erwartet Thomas Rödding, Gründer und CEO von Narravero.
B&W International aus Ibbenbüren stellt sich schon jetzt auf die neuen Regelungen ein. Der Hersteller von Spezialkoffern gehört zu den Kunden von Narravero. Für Gerhart Seichter, einer der Geschäftsführer, verwandelt die NFC-Technologie „einen Nachteil in einen Vorteil“. Der vermeintliche „Nachteil“ ist der hohe administrative Aufwand durch die neuen Vorgaben. Mit mehr Bürokratie war das Unternehmen schon durch das 2023 in Deutschland in Kraft getretene „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ konfrontiert. B&W dachte damals schon weiter: „Wenn wir ohnehin Informationen zu einem Produkt anbieten müssen, dann können wir dies auch anreichern und weiteren Kundennutzen schaffen“.

Ein Pass mit einer „vertrieblichen Seite“

Dr. Inga Ellen Kastens, bei Narravero zuständig für Strategie und Kommunikation, nennt dies die „vertriebliche Seite“ des Digitalen Produktpasses, eben die Kür neben der Pflicht. Die bloße, bald in immer mehr Bereichen rechtlich verbindliche „Nachhaltigkeits-Berichterstattung“ ist nur eine Anwendung, und aus unternehmerischer Sicht noch nicht einmal die interessanteste.
Ein gutes Beispiel dafür, was mit dem „lebenslangen, digitalen Reisepass für Produkte“ möglich ist, liefert ein Kunde aus Italien. Der produziert Schuhe und setzt den Chip unsichtbar zwischen zwei Lederschichten ein. „Wer sein Smartphone in die Nähe des Chips bringt, kann per Funk den Produktpass aufrufen“, erklärt sie. Darin sind unter anderem Pflegetipps für den Schuh untergebracht – und die Online-Bestellung des passenden Pflegemittels lässt sich gleich mit erledigen. Die Möglichkeiten gehen noch viel weiter: „Einige Kunden wickeln bereits Garantiefälle oder Reklamationen über den Produktpass ab.“
Das ist mit Hilfe des „Software-as-a-Service“-Prinzips unkompliziert. Narravero stellt die IT-Infrastruktur in der Cloud bereit, Kunden greifen darauf einfach über ihren Browser zu und füllen den Digitalen Produktpass mit neuen und ergänzenden Inhalten

Schluss mit dicken Gebrauchsanleitungen

Auch für B&W ergeben sich zusätzliche Anwendungen. Die robusten Koffer werden weltweit eingesetzt, oft in sensiblen Bereichen. Batterien und Akkus werden mit ihnen transportiert, sogenannte Energy Cases sorgen beispielsweise bei medizinischen Einsätzen im Ausland für eine kompakte mobile Energieversorgung. Alle Zertifikate, Bedienungsanleitungen und landesspezifische Verpackungsvorschriften in sämtlichen relevanten Sprachen aufzuführen, würde dicke Bücher füllen – oder einen winzigen NFC-Chip. „Ein Smartphone haben wir alle dabei“, erklärt Seichter. Alles, was der Nutzer des Koffers wissen muss, kann damit abgerufen werden und erscheint dort in seiner bevorzugten Sprache.
Auf Kundenwunsch bietet Narravero auch die Möglichkeit, statt eines NFC-Chips einen QR-Code zu verwenden. Empfohlen ist diese Option nicht. Auch Gerhart Seichter bevorzugt die NFC-Lösung, weil sie Fälschungen ausschließt: „Der Chip kann nicht einfach kopiert werden“. Aus Gründen der Rechtssicherheit ein klarer Pluspunkt. Für Narravero ist die EU-Gesetzgebung ohnehin kein Nachteil. Das Unternehmen kann bereits heute eine ausgereifte Technologie anbieten für eine wachsende Kundschaft, die die europäischen Vorgaben künftig erfüllen muss.

Fünf Billionen Produktpässe jährlich

Der Markt ist entsprechend riesig, ein renommierter Unternehmensberater geht von fünf Billionen digitalen Produktpässen ab 2027 aus – pro Jahr und allein in der EU. Entsprechend wächst die Zahl der Mitbewerber. „Jede Woche machen zwei, drei neue Startups oder Unternehmen aus dem Beratungssektor auf“, erklärt Thomas Rödding. Damit es nicht unübersichtlich wird für Nutzer des Digitalen Produktpasses, kümmert sich die „Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik“ (kurz DKE) um einheitliche DIN-Standards – der Narravero-Geschäftsführer wirkt hier mit.
Dass es im Einzelfall nicht ganz einfach ist, den Digitalen Produktpass mit sämtlichen relevanten Informationen zu füttern, räumt er ein. Der besagte Schuhhersteller aus der Toskana mit einer kleinen, exklusiven Lieferkette aus Handwerksbetrieben hat es noch leicht. Wer große Mengen von Textilien verarbeitet, hat es dagegen öfter mit direkten oder indirekten Zulieferern aus Ländern zu tun, „die nicht so gerne mitmachen“ bei einer Transparenzoffensive.
B&W, das auch einen Standort in China hat, konzentriert sich bei der Ausstattung seiner Produkte mit dem DPP deshalb zunächst auf die Werke in Europa und erfüllt damit künftige EU-Vorgaben. Eingebaut wurde der Chip zunächst bei Spezialkoffern, die in Stückzahlen von wenigen Dutzend bis hin zu einigen tausend hergestellt werden. „Das half uns, die Technik zu erproben“, begründet Gerhart Seichter. Nun sieht er sie reif, um sie in der Serienproduktion mit Stückzahlen jenseits der 100000 einzusetzen. Das ist längst keine Zukunftsmusik mehr: „In diesem Jahr soll es in Deutschland losgehen, nächstes Jahr in den anderen europäischen Standorten“, plant er.