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Notstand in der Kinderbetreuung
Was ist, wenn die Kita wegen Personalmangels vier Stunden eher schließt als sonst? Was, wenn sie gar nicht erst öffnet? Was, wenn ein Arbeitnehmer deswegen nicht arbeiten gehen kann? Dann herrscht Notstand in der Kinderbetreuung. Die Wirtschaftsjunioren NRW fordern eine umfassende Reform der Kita-Infrastruktur – und nehmen mit ihrem Positionspapier „Kitas und Eltern am Limit“ die Politik in die Pflicht. | Text: Mareike Scharmacher-Wellmann
„Kinder haben keine Lobby. Eltern haben keine Lobby“, sagt Johanna Münzer, Vorsitzende der Wirtschaftsjunioren Nord Westfalen und Inhaberin des Großhandelsunternehmens Münzer aus Emsdetten. „Aber wir als junge Wirtschaft haben eine Lobby! Wir Wirtschaftsjunioren NRW wollen darauf aufmerksam machen, dass eine funktionierende Kita-Infrastruktur darüber entscheidet, ob Nord-Westfalen, ob NRW, ob Deutschland künftig wirtschaftlich erfolgreich sein wird oder eben nicht.“
Münzer weiß, wovon sie spricht. Die Unternehmerin und ihr Mann haben eine Tochter im Kindergartenalter. „Wir hatten in den letzten drei Wochen drei Tage Kita-Ausfall“, sagt sie und ärgert sich über eingeschränkte Öffnungszeiten, Notgruppen oder vorübergehende Gruppenschließungen. „Wenn keine Großeltern vor Ort sind, keine Nanny, keine Nachbarn, kein was auch immer verfügbar ist, dann ist das das K.O.-Kriterium für viele Berufstätige“, bringt sie es auf den Punkt.
Kitas zuletzt häufiger geschlossen
Ist die Kita zu und niemand zum Betreuen da, ist das eine Herausforderung für die Eltern wie auch für die Wirtschaft. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes IT.NRW kamen pro Kita im Jahr 2022/2023 durchschnittlich 20,5 Schließtage zusammen – 1,1 Tage mehr als im Vorjahr. Schließtage sind Tage, an denen eine Einrichtung geschlossen ist, obwohl sie regulär geöffnet haben müsste – durch Teamtage, Ferienzeiten, Krankheiten.
Wirtschaft und Gesellschaft sind betroffen
Die Wirtschaftsjunioren NRW zählen rund 2.700 ehrenamtliche Mitglieder. Die hier engagierten Unternehmerinnen und Unternehmer haben häufig selbst Familie, sind betroffen von der prekären Kita-Lage und haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen es auch so geht. Sie wollen etwas dafür tun, dass es sich ändert. Im Positionspapier „Kitas und Eltern am Limit“ benennen sie zentrale Ansatzpunkte.
Der wichtigste Ansatzpunkt ist die Finanzierung und Refinanzierung der Kitas. „Die Kindpauschalen, die das Land als Zuschüsse den Kitas pro betreutem Kind gibt, decken nicht die Kosten“, erklärt Münzer. Die finanzielle Lage vieler Kitas verschlechtert sich durch Inflation und steigende Lohnkosten zunehmend. „Das gefährdet die Existenz der Kitas“, so Münzer. Sie hofft, dass nicht am Personal gespart wird: „Noch mehr Ausfallzeiten wären vorprogrammiert.“
Finanzierung gefährdet Existenz der Kitas
Darum plädieren die Wirtschaftsjunioren NRW für eine Umgestaltung: zum einen für eine regelmäßige und systematische Anpassung der Kindpauschalen, damit diese den realen Kostensteigerungen entsprechen; zum anderen für eine flexible Anpassung der variablen Kosten, die sich nach den von den Eltern gebuchten Betreuungszeiten richten, um Personal bedarfspassend zu planen. „Es gibt viele kleinere Stellschrauben, an denen die Politik drehen könnte. Andere Bundesländer haben zum Beispiel einen prozentualen Kostenanteil zur Refinanzierung festgelegt. NRW ist eins der wenigen Bundesländer, die noch mit Kindpauschalen arbeiten“, so Münzer.
Pädagogen für Pädagogisches
Die Wirtschaftsjunioren NRW schlagen stattdessen vor, die Kita-Leitung eine Jahresplanung für Fortbildungen erstellen zu lassen, die sich am Bedarf der Kita orientiert. Die Kosten dann zu refinanzieren, anstatt sie durch Pauschalen nur minimal zu decken, könnte nach Ansicht der Wirtschaftsjunioren NRW erfolgsversprechender sein. „Wir können uns gute pädagogische Fachkräfte schließlich nicht aus dem Ärmel schütteln“, weiß Münzer. 98.600 Fachkräfte fehlten laut Bertelsmann Stiftung im Jahr 2023 in den Kitas in Deutschland.
Bürokratie abbauen und Fachkräfte entlasten
Zu viel Bürokratie ist der dritte Hemmschuh beim Thema Kita. Vieles geschieht analog. Die Digitalisierung ist in den Kitas oftmals noch nicht angekommen. „Es gibt ein Kommunikationssystem, mit dem die Kitas Daten an die Jugendämter und das Statistische Bundesamt übermitteln können. Das Tool ist für viele Kitas aber viel zu teuer“, nennt Münzer ein Beispiel. „Also machen die Kitas doppelte Arbeit, tragen die Daten an zwei Stellen ein – die Jugendämter übrigens auch.“
© Canva/Wirtschaftsjunioren Nord Westfalen
Zudem würde die Trennung der pädagogischen und administrativen Aufgaben schon viel nutzen, ist die Wirtschaftsjuniorin überzeugt. „Viel zu oft hängen gut ausgebildete Kita-Leitungen in Verwaltungsjobs fest“, so Münzer. Sie müssten sich nicht nur um die Kinder kümmern, sondern auch den Kita-Haushalt verwalten, Statistiken und Berichte erstellen, die Fortbildung des Personals organisieren oder Hygienekonzepte schreiben. „Letztendlich können das auch Leute machen, die keine pädagogischen Fachkräfte sind“, sagt Münzer. Ein schneller Gewinn wäre darum die Einstellung von Verwaltungsfachkräften.
Flexibilität bei den Betreuungszeiten
In der aktuellen Debatte um die Buchungszeiten in Kindertageseinrichtungen prangern die Wirtschaftsjunioren NRW die mangelnde Flexibilität der bestehenden Modelle an. Denn die starren Öffnungs- und Schließzeiten berücksichtigten die vielfältigen Bedürfnisse der Familien nicht ausreichend. Das belastet die Familien als auch die Planungsprozesse der Einrichtungen.
„Die Eltern brauchen mehr Flexibilität bei der Buchung von Betreuungszeiten. Unsere Vorschläge zielen darauf ab, den individuellen Bedürfnissen der Familien besser gerecht zu werden und gleichzeitig die Planbarkeit für die Kitas zu verbessern", erklärt Johanna Münzer.
Die Wirtschaftsjunioren fordern die Einführung flexibler Betreuungsmodelle, die eine Buchung in fünf-Stunden-Schritten ermöglichen. So könnten Eltern Betreuungszeiten von beispielsweise 30, 35 oder 40 Stunden pro Woche buchen, was eine gerechtere Kostenverteilung und eine realistischere Planung der notwendigen Betreuungskapazitäten ermögliche. Sprich: Wie viele Erzieherinnen wann in einer Kita eingesetzt würden und ob und wie Ergänzungskräfte benötigt würden, ließe sich so viel besser planen.
Mehr Sicherheit für den Betrieb
Schließlich sind auch in den Kitas Fachkräfte Mangelware. Um den Betrieb zu sichern, greifen viele Kitas auf Praktikanten oder Alltagshelfer zurück. „Sie sind eine wertvolle Entlastung für das pädagogische Team“, weiß Münzer. Doch fehle häufig die langfristige Finanzierungssicherheit für diese unterstützenden Rollen. „In unserer Kita hatten wir eine sehr gute Alltagshelferin, die im November aber noch nicht wusste, ob ihr Job im Januar weiter finanziert wird“, führt Münzer ein Beispiel an. „Sie hat sich selbstverständlich umorientiert. Und unsere Kita hat wieder sechs Wochen nach einer neuen Alltagshelferin gesucht. So lange mussten die pädagogischen Fachkräfte ihre Arbeit mitstemmen“, zeigt Münzer auf. Die Finanzierung einer Alltagshelferin müsse doch wohl für ein Jahr machbar sein.
Wer nun daran denkt, Fachkräfte aus Drittstaaten anzuwerben, bekomme es wieder mit der Bürokratie zu tun. „Es hilft wenig, wenn Anträge im Auswärtigen Amt oder in Asylbehörden drei Monate liegen, bevor die Bewerber, die sofort in Kitas arbeiten könnten, anfangen dürfen“, sagt Münzer. Die Politik müsse qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland einen schnelleren und unkomplizierteren Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen.
Wenn es mehr Betreuungsplätze gäbe und sich Eltern darauf verlassen könnten, dass ihre Kinder dort Tag für Tag betreut werden, wäre der Arbeitskräftemangel aber längst nicht so groß, ist die Unternehmerin überzeugt: „Wenn wir die Kinderbetreuung sichern, dann können die Mütter und Väter auch gesichert in ihren Arbeitsbereich gehen und dann sind die Fachkräfte da“, fährt sie fort.
Die Kinderbetreuung sei der Dreh- und Angelpunkt, von dem alles andere abhänge. „Wer soll es richten, wenn nicht die Politik“, erklärt Unternehmerin Münzer. Größere Investitionen in die Kita-Infrastruktur seien unerlässlich. „Natürlich ist es ein Erst-Invest, aber es sichert den Wirtschaftsstandort NRW – auch im europäischen Vergleich“, so Münzer. Das würde die Wirtschaftsleistung erhöhen, wodurch das Land NRW und die Kommunen auch wieder mehr Einnahmen verbuchten.
Reform ist alternativlos
Trübe Aussichten hingegen warten, wenn sich die Politik der Kita-Reform nicht annimmt: „Dann haben wir ein riesiges Problem: Wenn es immer mehr Stolpersteine gibt, dann werden immer mehr Menschen wegen des Jobs nicht mehr die Familie zurückstellen. Mütter oder Väter werden zu Hause bleiben, die Arbeitskräftelücke würde wachsen, sich noch weniger Menschen für eine Unternehmensnachfolge oder Gründung entscheiden“, führt Münzer auf. „Schon jetzt ist die Zahl riesig und sie würde noch weiter steigen.“
Nach Erhebung der IHK Nord Westfalen stehen 35.000 Betriebe im Münsterland und in der Emscher-Lippe-Region in den nächsten zehn Jahren vor der Herausforderung, die Nachfolge an der Unternehmensspitze zu regeln. „Mit jedem Unternehmen, das aufgegeben wird, weil eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger fehlt, gehen Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft verloren“, benennt Sven Wolf, der bei der IHK Nord Westfalen den Geschäftsbereich Unternehmensführung leitet, den volkswirtschaftlichen Schaden.
Bereits seit einigen Jahren gehe die Zahl der Gründungen und Übernahmen von Unternehmen zurück. „Das liegt zu einem erheblichen Teil daran, dass es nicht gelingt, mehr Frauen für eine Gründung oder eine Nachfolge zu begeistern und ihnen dafür auch die notwendigen Rahmenbedingungen zu bieten – wie eben eine verlässliche und flexible Kinderbetreuung“, betont Wolf und verweist dabei auf die Studie „Gründen und Nachfolgen durch Frauen in NRW“, die die nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammern gemeinsam mit der Bergischen Universität Wuppertal Ende des vergangenen Jahres veröffentlicht haben.
Vor allem wenn familiäre Verpflichtungen bestehen, sehen sich Frauen immer noch vor besondere Herausforderungen gestellt. „Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Selbstständigkeit und flexiblere Lösungen – sowohl für Mütter als auch Väter – könnte ein bedeutender Hebel sein, um das Potenzial für mehr Selbständigkeit zu fördern", so Wolf. „Wir verzichten sonst auf zusätzliches und dringend benötigtes Wachstum“, unterstreicht er.
Die ersten politischen Reaktionen lassen jedoch hoffen: Eileen Woestmann, NRW-Landtagsabgeordnete der Grünen und stellvertretende Ausschussvorsitzende „Familie, Kinder und Jugend“ habe Interesse am Austausch über das Wirtschaftsjunioren-Positionspapier „Kitas und Eltern am Limit“. Im September soll es ein Treffen der Grünen-Landesfraktion mit Johanna Münzer und dem Wirtschaftsjunioren NRW-Landesvorsitzenden Patrick Weiß geben. „Wir tragen es bereits in die Politik ein, würden uns aber auch über jeden demokratischen Regionalpolitiker oder wirtschaftlich Verantwortlichen freuen, der mit uns schauen möchte, was wir auf kommunaler Ebene machen können“, benennt Johanna Münzer die Bereitschaft zum Dialog.
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Redaktion Wirtschaftsspiegel