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„Eine Achillesferse, die nur wenige kannten“
Prof. Dr. Guido Quelle, Managementberater aus Dortmund, und Markus Becker, Tiefbauingenieur aus Bad Neuenahr-Ahrweiler, haben nach der Flutkatastrophe im Ahrtal in ihrem Buch „Und dann fällt der Strom aus…“ Erkenntnisse für Bürgermeister und Landräte zusammengetragen. Sie sollen deutschlandweit für das Thema Infrastruktur sensibilisieren. | Interview: Daniel Boss und Gero Brandenburg
Herr Quelle, Herr Becker, jede Katastrophe hat ihre eigene Vorgeschichte und Kausalitäten. Was aber lässt sich Ihrer Ansicht nach aus dem Hochwasser im Ahrtal im Juli 2021 allgemein für die Infrastrukturen in Deutschland ableiten?
Markus Becker: Was lernt man aus dieser Katastrophe? Unsere Antwort lautet im Kern: Eine funktionierende Infrastruktur ist keine Selbstverständlichkeit. Das mag banal klingen, ist es aber nicht. Denn alle gehen davon aus, man könnte zum Beispiel überall mit Glasfaser versorgt werden, E-Auto aufladen oder – in einem größeren Maßstab – überall neue Gewerbegebiete hinsetzen. Die Ahrtal-Katastrophe zeigt die Komplexität der Zusammenhänge und die Anfälligkeit der Systeme. Sie hat unsere Achillesferse offenbart, von der die Öffentlichkeit zuvor noch überhaupt nichts oder viel zu wenig wusste. Das Ahrtal ist ein Katalysator, der die allgemeine Ohnmacht offensichtlich gemacht hat.
Prof. Dr. Guido Quelle
© Silvia Kriens
Guido Quelle: Wir wollen mit unserem Buch, das ja mit einigem zeitlichen Abstand geschrieben ist, auf eine Schwachstelle hinweisen, die alles andere als im Fokus liegt. Denn der Blick richtet sich zunächst und vornehmlich auf den Katastrophenschutz, auf die Rettung von Menschenleben. Das ist richtig und verständlich. Zugleich wurde eine Infrastruktur zerstört, an der zig Haushalte und Unternehmen hängen. Es wird Jahrzehnte dauern, sie wieder auf einen guten Stand zu bringen.
Warum ist das so schwierig?
Becker: Das liegt unter anderem am Zuständigkeitsgewirr: Unterirdisch hat man es in der Regel mit verschiedenen Netzeigentümern zu tun. Im Ahrtal sind es beispielsweise drei Gasversorger, vier Abwasserakteure und ebenso viele Wasserakteure. Und alle verfolgen unterschiedliche Interessen – auch, was die Lösungen der aktuellen Probleme angeht.
Quelle: Und da haben wir über Strom und Internet noch gar nicht gesprochen. Mit der Infrastruktur verhält es sich in unserem Leben, so, wie mit der IT oder der Logistik im Unternehmen: Wir gehen davon aus, dass sie funktioniert. Und wir stellen erst dann fest, wie wichtig sie ist, wenn sie ausfällt.
Becker: Die vielen Leitungen muss man zusammendenken. Eine gemeinsame Infrastruktur-Trasse statt des bisherigen Wirrwarrs wäre bereits eine gute Schutzmaßnahme.
Steht Ihrer Meinung nach genügend Geld für den Wiederaufbau zur Verfügung?
Becker: Die Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler hat 1,7 Milliarden Euro Schaden angemeldet. Die Erwartungen der Bürger sind: „Dann legt mal los!“ Wir haben zwar auch das Geld, aber Geld baggert nicht. Die Zeit und die ausführenden Unternehmen sind die entscheidenden Faktoren: Wer soll das alles in möglichst wenigen Jahren bewerkstelligen?
Im Subtitel Ihres Buchs adressieren Sie lokale Verwaltungen: Damit implizieren Sie, dass vieles an der Katastrophe menschengemacht war. Daraus wiederum folgt die Frage: Was können die Verantwortlichen künftig besser machen?
Becker: Um diese Frage zu beantworten, muss man sich die Rahmenbedingungen einer kommunalen Verwaltung anschauen: Deren Chef oder Chefin sitzt im Rathaus beziehungsweise im Landratsamt und ist für wenige Jahre gewählt. Daher ist der langfristige Blick meist nicht vorhanden. Denn die Politik sucht schnell Lösungen. Und die sind Gift für die Infrastruktur, die Entwicklungskonzepte mit weiter Perspektive benötigt. Nahezu 90 Prozent der technischen Verantwortlichen aus der Zeit der Flutkatastrophe sind nicht mehr im Amt. Um Ihre Frage zu beantworten: Es braucht Expertinnen und Experten, die überregional – und nicht durch Wahlämter befristet – konstruktiv und effektiv zusammenarbeiten.
Quelle: Bei ihnen läge dann die Zuständigkeit, während die Verantwortlichkeit weiterhin bei den kommunalen Spitzenämtern wäre – diese Unterscheidung ist wichtig! Und die politisch Verantwortlichen können vor allem drei Dinge tun: Sie könnten in ihrer Amtszeit auch auf die verborgene Infrastruktur ein Hauptaugenmerk legen, auch wenn das nicht sehr attraktiv erscheint. Dann könnten sie den Mut aufbringen, Dinge zu benennen, die sichtlich schief laufen. Und drittens müssten sie voller Engagement versuchen, aus der Erkenntnis auch konkrete Maßnahmen abzuleiten. Beispiel Wasserschutz: Das Wasser von oben können wir nicht verhindern, aber wir können es besser führen, sobald es auf die Erde trifft.
Das Ahrtal war besonders betroffen, es gab entsetzliches Leid. Hat das nicht tun einem radikalen Umdenken geführt?
Becker: Nach drei Jahren ist der technische Hochwasserschutz erst jetzt konzipiert. Dafür gab es vorher kein Modell. Sie haben Recht: Man sollte denken, das Ahrtal muss und wird jetzt zusammenhalten – das tut es aber nicht vollumfänglich. Wir haben bis heute ein Kirchturmdenken. Jeder pflegt seine Organisationen, will zum Beispiel seine eigenen unabhängigen Wasser- und Abwassereinrichtungen behalten. Der Raum Dresden dagegen hat aus dem Hochwasser 2002 sehr viel gelernt. Da ist inzwischen der Landestalsperrenverband zuständig. Es braucht eine Landesbehörde, nicht viele Kreisverwaltungen.
Welche Erkenntnisse für die Infrastruktur lassen sich aus der Flutkatastrophe im Ahrtal ziehen?
© © Dominik Ketz
Becker: Im südlichen Westerwald und im Kreis Ahrweiler habe ich schon mit mehreren Bürgermeistern und anderen Akteuren reden können. Es gibt unterschiedliche Bewertungen des Wiederbaufbaus Die Bandbreite reicht von „Es läuft doch schon ganz gut“ bis „Es ist noch überhaupt nichts passiert“. Ähnlich unterschiedlich fallen die Reaktionen zum Buch aus.
Bislang haben wir „nur" über die Bedrohung der Infrastruktur durch Wasser gesprochen. Hat Ihr Buch den Anspruch, auch für andere Gefahren zu sensibilisieren, etwa Cyberattacken?
Quelle: Natürlich war es uns schon wichtig, den Transfer zu leisten. Deswegen lautet der Titel ja auch nicht „Und dann kommt das Wasser“, sondern „Und dann fällt der Strom aus“. Ein solcher Blackout kann bekanntlich diverse Ursachen haben. Der Strom ist eine Metapher. Wir wollen mit dazu beitragen, dass innerhalb von Kommunen, aber auch vor allem interkommunal verstärkt nachgedacht und kooperiert wird. Wenn zum Beispiel in Dortmund der Strom ausfällt – welche Nachbarkommune springt dann ein? Oder kann Wasserwerk B sofort übernehmen, wenn in Wasserwerk A ein größerer Störfall vorliegt? Das sind zwei von vielen ganz konkreten Fragen, auf die es Antworten geben muss.
Sie sind beide beruflich stark eingebunden. Warum war es Ihnen dennoch ein Bedürfnis, dieses Buch zu schreiben?
Quelle: Mit „Die Wahrheit liegt vor der Baggerschaufel“ hatten Markus und ich bereits ein Buch mit sehr guter Resonanz geschrieben. Und ab Tag 2 der Flutkatastrophe waren wir täglich in Kontakt. Sobald Markus wieder telefonieren konnte, haben wir uns ausgetauscht. Schnell war uns klar: Unsere Ansichten und Erkenntnisse müssen wir schriftlich festhalten und veröffentlichen.
Becker: Meine Hauptmotivation ist, dass ich nach dem größten Hebel suche. Infrastruktur befindet sich im Wettbewerb der großen Themen unter „ferner liefen“. Höchstens die gesperrte Autobahnbrücke sorgt noch für Aufregung. Um es etwas drastisch zu formulieren: Es gibt zweifellos zu wenig Pflegekräfte, über die häufig berichtet wird, aber es gibt auch zu wenig Ingenieure. Ich will mit diesem Buch mehr Aufmerksamkeit schaffen. Und das vor allem bei jenen Leuten, die an entscheidender Stelle sitzen.
Sie richten sich an Politik und Verwaltung – was sagt denn die Wirtschaft?
Becker: Aus meinem Umfeld kann ich sagen, dass hier große Existenzängste herrschen. Unternehmen in Flussnähe bekommen keine Versicherungen mehr, Tourismus und Gastronomie fragen sich, ob sich die einstige Romantik, der große Publikumsmagnet des Ahrtals, jemals wieder einstellen wird. Manche haben bereits aufgeben.
Quelle: Was den Handlungsbedarf angeht, verweisen die Unternehmen natürlich auf die kommunalen Einheiten. Die Wirtschaft braucht eine verlässliche, zukunftsfähige Infrastruktur, deren Rahmen sie nur sehr bedingt beeinflussen kann. Das ist Aufgabe der Politik.
Der Artikel erschien bereits in der Ruhr Wirtschaft 6/2024 (PDF).
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Redaktion Wirtschaftsspiegel