EURO 2024

Wasserstoff wird zum Spielmacher

Kurz vor der EM besuchten internationale Medien den „Champion des Strukturwandels“, die Emscher-Lippe-Region. „From Coal to Goal“ lautete das Motto, statt um Kohle geht es um Tore – und um Wasserstoff. | Text: Tobias Hertel
Die WiN Emscher-Lippe hatte eingeladen und den plakativen Slogan gewählt. Dr. Babette Nieder und Boris Meurer vom Wirtschaftsförder-Netzwerk wählten den Fußball als Aufhänger und präsentierten auch gleich einen neuen Spielmacher: Wasserstoff soll Antreiber der industriellen Transformation des nördlichen Ruhrgebiets werden. Davon überzeugt zeigten sich auch Dr. Jochen Grütters, Leiter des IHK-Standorts Emscher-Lippe, und IHK-Vizepräsidentin Tatjana Hetfeld von der Public Relations-Agentur RDN aus Recklinghausen, die die Pressetour begleiteten.

Große Augen bei Schalke

Der Einladung gefolgt waren unter anderem Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, von SAT.1 und der spanischen Presseagentur EFE. Die Spanier tragen ihr Vorrundenspiel gegen Italien in der Arena AufSchalke, wie sie während des Turniers heißt, aus. Für Rodrigo Zuleta von EFE war die EM deshalb der Anlass, aus dem Berliner Büro nach Gelsenkirchen zu reisen und sich den Spielort genauer anzusehen. „Die Spanier machen große Augen, wenn sie FC Schalke 04 hören: Da hat doch Raúl gespielt“, erzählt er. Die Transformation des nördlichen Ruhrgebiets interessiere ihn aber ebenso, sagt er.
Und die hält für den Journalisten aus Spanien Überraschungen bereit: Zum Beispiel, dass an der Emscher Wein angebaut wird, wie Prof. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband, verriet – wenn auch kein Rioja wie in seiner Heimat. Kaum vorstellbar, dass die Emscher einst als „Köttelbecke“ verschrien war. Die offene Kloake hat sich dank Milliardeninvestitionen in einen sauberen Fluss mit hohem Natur- und Freizeitwert verwandelt.

Wasserstoff-Modellregion

Wie grün das Ruhrgebiet ist, erstaunt auswärtige Besucher noch immer. Ob, wie bei der Pressetour, der Blick von der im Jahr 2000 geschlossenen Zeche Ewald in Herten oder vom Chemiepark Marl ins Umland schweift, überall sind Wälder und Felder zu sehen. Das industrielle Erbe scheint fast versteckt, ist aber immer präsent und eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Transformation in Richtung einer Wasserstoff-Modellregion.
Denn zu sehen sind auch unzählige Leitungen, die die vielen energieintensiven Unternehmen mit Strom versorgen. Aus großer Höhe nicht zu erkennen, aber ebenfalls vorhanden sind die Anschlüsse an die Wasserstoff-Pipeline „GET H2“. Durch sie soll ab 2025 grüner Wasserstoff von Lingen in den Chemiepark Marl und zur Ruhröl-Raffinerie in Gelsenkirchen fließen. „Unsere industrielle Infrastruktur zahlt sich aus“, betonte Dr. Babette Nieder, die ebenso wie die IHK im Verein h2-netzwerk-ruhr mitarbeitet.

Das Know-how ist da

Das Netzwerk wurde bereits 2008 gegründet. Die Region ist also früh dran gewesen am Thema Wasserstoff und hat sich so eine gute Ausgangsposition verschafft. „Das Know-how ist da“, unterstrich Dr. Babette Nieder. So produzieren Zulieferer, die einst Pumpen für den Bergbau herstellten, heute Komponenten für die Wasserstoff-Wirtschaft. „Wir haben hier die Firmen, die den Wasserstoff benötigen, und die Firmen, die die Anlagen dafür bauen.“ Die Region verfüge über die größte Produktion und Nutzung von Wasserstoff in Europa. Und Herten mit dem Kompetenzzentrum h2herten ist eines der Zentren dieser Technologie im Ruhrgebiet.
80 Jobs sind in den Start-ups hier entstanden, insgesamt sprach Dr. Babette Nieder von knapp 2000 Arbeitsplätzen innerhalb des Wasserstoff-Netzwerks. Etwa 120 hat ein US-Unternehmen geschaffen, das Brennstoffzellen baut und aktuell eine neue Produktionslinie plant. Als „State of the Art“ hätten die Amerikaner den Hydrogenpark in Herten bezeichnet, berichtete sie nicht ohne Stolz. Auch Hochschulen und Energieversorger sind hier vertreten, zudem eine von fünf Wasserstoff-Tankstellen in der Region. Die ganze Wasserstoff-Wertschöpfung lässt sich in Herten besichtigen. Unternehmen seien aber oft noch vorsichtig: „Investiert wird erst, wenn klar ist, wann und zu welchem Preis Wasserstoff verfügbar sein wird“, erklärte sie.

Akademie für Wasserstoff

Wie es mit den Fachkräften für die neuen Technologien aussieht, erkundigte sich der FAZ-Redakteur. Elektrotechniker und Industriemechaniker fänden hier eine berufliche Zukunft, hieß es. Für die Aus- und Weiterbildung unternimmt die IHK Nord Westfalen einiges. Dr. Jochen Grütters stellte die vom Bund geförderte Wasserstoff-Akademie H2!Academy vor. Die Westfälische Hochschule und die Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie sind hier mit im Boot.
Wasserstoff ist nicht nur Energieträger der Zukunft, sondern im Chemiepark Marl auch wertvoller Rohstoff für nachhaltige Chemikalien.10000 Beschäftigte arbeiten hier, 7000 allein bei Evonik Industries. 18 Unternehmen sind hier insgesamt ansässig, erfuhren die Medienvertreter.

Nachhaltig mit Kreislaufwirtschaft

„Nachhaltigkeit muss wettbewerbsfähig sein“, betonte Lars Baumgürtel, IHK-Vizepräsident und geschäftsführender Gesellschafter von ZINQ in Gelsenkirchen, der nächsten Station. Den Weg zur klimaneutralen Industrie geht der Oberflächenspezialist seit etwa 15 Jahren mit der Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft. Denn Klimaneutralität ist mehr als CO2-Neutralität, also „Zero Carbon“. Kein Müll, keine Luftverschmutzung gab er als weitere, ambitionierte Ziele für die Energiewende aus: „Wir brauchen auch Zero Waste und Zero Pollution.“
Der digitale Produktpass, den die EU einführt, ist aus seiner Sicht ein Schritt in Richtung mehr Wettbewerbsfähigkeit durch Nachhaltigkeit. „Dann müssen China und die USA die Karten auf den Tisch legen, welche Klimaauswirkungen ihre Produkte haben.“ Und das gilt für den gesamten Lebenszyklus. Ein plakatives Beispiel hatte Baumgürtel parat: Der Eiffelturm sei bestimmt gut 20-mal schon gestrichen worden. Vielleicht zunächst teurer, aber auf lange Sicht nachhaltiger und damit günstiger wäre eine Verzinkung gewesen: „Die hält 100 Jahre“.

Klimaneutraler Hafen

Am Klimahafen Gelsenkirchen treiben ZINQ und 15 weitere energieintensive Unternehmen die Umstellung von Erdgas auf grünen Wasserstoff voran. Ab diesem Jahr kommt in einem ersten Schritt wasserstoffhaltiges Energiegas zum Einsatz, bis 2028 soll der Klimahafen an die Versorgung mit grünem Wasserstoff angebunden sein. Mehr als bis zu 30000 Tonnen CO2 würden dann pro Jahr eingespart, so die Angaben aus dem Klimahafen Gelsenkirchen.
Auf dem Weg zurück zur Arena führte die Pressetour an einem weiteren Hafen vorbei, dem Stölting Harbor. Auf einer ehemaligen Industriebrache ist ein attraktives Quartier für Arbeit, Wohnen und Freizeit entstanden, inklusive eines Yachthafens. Hier hat die Stölting Service Group mit bundesweit 14400 Beschäftigten ihren Hauptsitz, ein breit aufgestellter Dienstleister in den Sparten Reinigung, Sicherheit und Personal. Diese Vielfalt war es auch, die den Redakteur der FAZ beeindruckte. „Das Ruhrgebiet ist mehr als Bergbautradition und Fußball, sondern auch ein Standort für moderne Industrie und Dienstleistung“, lautete sein Fazit der Tour.
Fußball ist allerdings, nicht nur zur Europameisterschaft, ebenfalls ein Wirtschaftsfaktor. 300 feste Mitarbeiter beschäftigt der FC Schalke 04, an Spieltagen kommen fast 900 Servicekräfte hinzu. Und es wird nicht nur gekickt in der Arena: Bands wie Rammstein und AC/DC treten hier auf, und natürlich Superstar Taylor Swift. Deren Shows sind auch in Amerika ausverkauft, „weshalb wir sogar Besucher aus den USA in Gelsenkirchen haben werden“, berichtete Kathrin Vieth von FC Schalke 04. Auch die Gäste aus Übersee werden sich überraschen lassen von der Zukunftsregion Ruhrgebiet, die alte Klischees längst abgelegt hat.