Interview mit MP Boris Rhein

„Renaissance der Realpolitik“

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein im Gespräch zum ehrenamtlichen Engagement von Unternehmerinnen und Unternehmern in der IHK-Organisation, der Bedeutung der Wahlen der IHK-Vollversammlungen, wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen für die Unternehmen und der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Politik.
Herr Ministerpräsident, noch bis zum 20. Februar können Unternehmerinnen und Unternehmer der zehn hessischen Industrie- und Handelskammern ihre Stimme für die IHK-Wahl abgeben. Mit welchen drei Argumenten würden Sie Unternehmer überzeugen, dass es wichtig ist, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen?
Unternehmerinnen und Unternehmer wollen in erster Linie selbst gestalten – und das können sie in einer Industrie- und Handelskammer. Denn die Industrie- und Handelskammern bringen sich zum einen als politische Impulsgeber ein, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Interesse der Betriebe mitzugestalten. Zum anderen stärken sie so das Prinzip der Selbstverwaltung, ein freiheitssicherndes Grundprinzip des Kammerwesens. Zweitens stärkt eine demokratisch legimitierte Selbstverwaltung die Akzeptanz unserer Wirtschaftsordnung. Unternehmen wirken in den Gremien der Industrie- und Handelskammern an der Gestaltung des Rechts- und Regulierungsrahmens entscheidend mit. Und drittens: Nur wer von seinem Wahlrecht Gebrauch macht, stärkt diese Mitwirkung und Selbstbestimmung. Die Unternehmen entscheiden über die Vollversammlung den Kurs ihrer Industrie- und Handelskammern mit.
Weshalb ist Ihrer Meinung nach das ehrenamtliche Engagement im Netzwerk der IHK-Organisation und insbesondere im höchsten Gremium, der Vollversammlung, besonders wertvoll für Wirtschaft und Gesellschaft?
Die IHK als Organisation der Eigenverantwortung lebt von der Mitarbeit der Unternehmerinnen und Unternehmer in der Region. Denn die wissen am besten, was die Wirtschaft bewegt und worauf es im Wirtschaftsleben ankommt. Die Vollversammlung ist in gewisser Weise das Parlament der regionalen Wirtschaft und somit das wichtigste Organ innerhalb der jeweiligen IHK. Das Engagement von IHK-Mitgliedern in Präsidien und Vollversammlungen erfordert großen Einsatz – und das zusätzlich zur eigenen unternehmerischen Tätigkeit. Deshalb verdient diese wertvolle ehrenamtliche Tätigkeit für das Gemeinwesen hohe Wertschätzung.
Kurz nach Ihrem Amtsantritt als hessischer Ministerpräsident haben Sie betont, dass „Wirtschaftspolitik in Hessen nur mit der geballten Kraft der IHKs gemacht werden kann“. Was meinen Sie damit konkret?
Für eine starke hessische Wirtschaft braucht es die Kraft aller hessischen Industrie- und Handelskammern. Sie nehmen wichtige Aufgaben in der Selbstverwaltung der Wirtschaft wahr. Hervorheben möchte ich die berufliche Bildung, die uns allen wegen des Arbeits- und Fachkräftemangels besonders am Herzen liegt. Dort müssen Politik und Wirtschaft im ganzen Land Hand in Hand zusammenarbeiten.
Fast zeitgleich beginnt für Sie als Ministerpräsident des Landes Hessen und für die Vertreter der Parlamente der Wirtschaft eine jeweils fünfjährige Wahlperiode. Welche Herausforderungen möchten Sie in dieser Zeit gemeinsam mit der Wirtschaft angehen?
Hessen ist ein großartiges, ein stabiles und ein starkes Land. Gleichzeitig müssen wir aktuell gemeinsam so viele Herausforderungen bewältigen wie noch nie: Ukraine-Krieg, Hamas-Terror, Corona-Pandemie, Preis-, Wirtschafts- und Migrationskrise und ganz neu die Haushaltskrise des Bundes. Hinzu kommen die digitale Transformation, der Klimawandel und die Demografie-Entwicklung, die fundamentale Veränderungen für Wirtschaft und Gesellschaft mit sich bringen. Die neue Hessische Landesregierung kümmert sich deshalb seit dem ersten Tag darum, die zentralen Versprechen unseres Staates einzuhalten: Wohlstand und Sicherheit für alle.
Wie möchten Sie Wohlstand und Sicherheit für alle hessischen Bürger gewährleisten?
Das tun wir, indem wir die gesellschaftliche Mehrheit stärken und gleichzeitig die Rechte von Minderheiten schützen. Wir holen außerdem die Debatten wieder in die Mitte der Gesellschaft, anstatt sie zu verdrängen. Die neue Hessische Landesregierung ist ein Regierungsbündnis für Stabilität und sanfte Erneuerung, also für eine Modernisierung mit den Bürgerinnen und Bürgern und natürlich auch mit den Unternehmen und den Industrie- und Handelskammern. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir betreiben eine Renaissance der Realpolitik.
Was können die mehr als 400.000 IHK-Unternehmen in Hessen in der neuen Legislaturperiode von der hessischen Politik erwarten?
Unser ambitioniertes Programm ist der Koalitionsvertrag der ersten demokratisch-christlich-sozialen Koalition seit 70 Jahren in Hessen. Darin haben wir viele konkrete Ideen entwickelt, wie wir die Wirtschaft weiter stärken und die Weichen auf Wachstum und Wohlstand stellen. Wir werden dafür die Rahmenbedingungen weiter verbessern, um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu steigern und den Wirtschaftsstandort Hessen zukunftssicher aufzustellen.
Können Sie das an Beispielen festmachen?
Wir werden die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung schrittweise umsetzen. Dazu verbessern wir die Ausstattung der Berufsschulen und führen die kostenfreie Meisterausbildung ein. Zweitens werden wir ein „Sounding Board“ in der hessischen Landesvertretung in Brüssel mit Vertreterinnen und Vertretern der Kammern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften einrichten. Zudem machen wir ernst mit einem Abbau der Bürokratie. Dafür werden wir ein ambitioniertes Paket für Bürokratieabbau und Planungsbeschleunigung auflegen und uns auf Bundesebene entschieden dafür einsetzen, die Belastungen für Unternehmen zu reduzieren.
Und umgekehrt: Was erwartet die Landesregierung von den Repräsentanten der Wirtschaft?
Bringen Sie sich bitte weiterhin aktiv in den Dialog mit der Politik ein! Nur gemeinsam werden wir den Strukturwandel erfolgreich gestalten und den Wohlstand in unserem Land mehren. In der neuen Legislaturperiode werden wir beispielsweise eine Kommission von Politik und Wirtschaft einrichten, die Vorschläge zum Bürokratieabbau entwickelt. Dafür braucht es den Sachverstand der Wirtschaft und die Erfahrungen aus der Praxis. Aber nicht nur in Wirtschaftsbelangen ist Engagement gefragt. Wir alle sind gerade in Zeiten großer Veränderungen gefordert, gemeinsam für unsere Ziele und Werte einzustehen. So gilt es beispielsweise, vor der Europawahl noch deutlicher zu machen, dass eine antieuropäische und antidemokratische Politik unseren Wohlstand gefährdet.
Was möchten Sie den Vertretern der Wirtschaft in den IHK-Vollversammlungen für die nächsten fünf Jahre mit auf den Weg geben?
Die Hessinnen und Hessen leben in Sicherheit und Wohlstand. Daran hat die Wirtschaft großen Anteil. Dank einer seit Jahrzehnten wachsenden Wirtschaft ist unser schönes Land ein wirtschaftliches Kraftzentrum im Herzen Europas. Sicherheit und Wohlstand sind allerdings angesichts der multiplen Krisen und der langfristigen Trends der Zukunft weder selbstverständlich noch auf ewig gesichert. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, können wir nur gemeinsam bewältigen. Hessen war und ist stark, weil wir zusammenhalten. Diese Grundeinstellung, unsere hessische Mentalität des Miteinanders, ist die Basis dafür, dass wir auch in Zukunft erfolgreich sein werden. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit den hessischen Industrie- und Handelskammern sowie den hessischen Unternehmen.
 
Das Interview führt Petra Menke, IHK Frankfurt am Main