Die Schule der Zukunft

Wie die Digitalisierung das Lernen verändert

Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt derzeit revolutionär. Doch sind nicht nur die Unternehmen bei dem Thema gefordert, vor allem das Bildungssystem ist gefragt, Schüler, Auszubildende und Studierende - und damit künftige Arbeitnehmer - auf diese neue Welt entsprechend vorzubereiten. Wie steht es um die Digitalisierung der Bildung im Kammerbezirk der IHK Lahn-Dill? Der Verein media Lahn-Dill hat die digitale Lehre auf dem mediaForum 2021 mit Bildungsexperten thematisiert. Eine Bestandsaufnahme.
„Für das, was wir jetzt erreicht haben, hätten wir ohne Corona vermutlich vier Jahre gebraucht.“ Die Professorin und Vizepräsidentin der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM), Katja Specht, ist sehr zufrieden im Umgang ihrer Hochschule mit der Pandemie. „Lehrende an anderen Hochschulen, auch an deutlich größeren Universitäten, haben zum Teil einen Foliensatz auf die Lernplattform gestellt und anschließend den Klausurtermin bekannt gegeben“, so Specht. Die THM dagegen habe – bis auf Labore und Praktika - durchweg auf Onlineveranstaltungen gesetzt undKontakt mit den Studenten gehalten. Doch auch wenn das positive Fazit der Digitalisierung überwiegt - es gibt auch Schatten. „Wir haben im Online-Betrieb auch Studierende verloren.“
„Im Großen und Ganzen haben wir die Herausforderungen der digitalen Lehre sehr gut gemeistert.“ (Prof. Katja Specht, Vize-Präsidentin der Technischen Hochschule Mittelhessen)
Die Vizepräsidentin hat eine Umfrage zur digitalen Lehre in der Studentenschaft an der THM gestartet. Die größten Vorteile liegen demnach für die Studierenden im Wegfall der Fahrzeit (85,4 Prozent), der allgemeinen zeitlichen Flexibilität (67,1 Prozent) und insbesondere der Flexibilität beim Lernen (52,3 Prozent). Nachteile sieht die Studierendenschaft in der mangelnden sozialen Interaktion mit den Kommilitonen (82 Prozent), zu langen Bildschirmzeiten (71 Prozent), mangelnder Selbstdisziplin und Motivation (56,6 Prozent) sowie Verbindungsproblemen (56,9 Prozent). Fast zwei Drittel (61 Prozent) der Studierenden hätten zudem über physische und psychische Gesundheitsprobleme geklagt. Die Zahlen zeigten, dass die THM das Thema digitale Lehre im Großen und Ganzen gut umgesetzt habe. Dennoch müsse man jetzt zurück in die Präsenz: „Es ist eine gewisse Müdigkeit eingetreten, die Teilnehmerzahlen in den Onlineveranstaltungen brechen ab.“
„Machen wir in Zukunft weniger Mathe?“ (Professor Heinz Kraus, Vorstand der Stiftung für angewandte Forschung, Innovation und Transfer (fit) der Technischen Hochschule Mittelhessen)
Für Professor Heinz Kraus, Vorstand der Stiftung für angewandte Forschung, Innovation und Transfer (fit) der Technischen Hochschule Mittelhessen, steht fest, dass „die globale Vernetzung und die Nutzung großer, zugänglicher Datenmengen die bestehenden Formate von Lehren und Lernen grundlegend zur Disposition stellen“. Der Umbruch durch die fortschreitende Digitalisierung schlage sich nachhaltig in allen Lebensbereichen nieder und werde das Wissenschaftssystem erreichen. Doch dürfe man nicht den Fehler machen, „schlechte Lehrformate einfach zu digitalisieren“: „Das macht sie nicht besser.“ Neben den Lehrformaten müsse sich auch der Lernraum verändern. „Die Schule der Zukunft ist ein Innovationszentrum, sie hat keine Öffnungszeiten“, so Prof. Kraus. Das Lernen könne nur im Team funktionieren, das Klassenzimmer muss ganzkörperliche Lernerfahrungen ohne die bekannten Hierarchien bieten, wagt er einen Ausblick.
Noch etwas gibt der Digitalisierungsexperte der THM zu bedenken: Wenn man neue Formate und Inhalte in die Lehre aufnimmt, müsse man sich an den Schulen, Berufsschulen und Hochschulen von dem einen oder anderen alten Zopf trennen. Doch wohin mit den neuen Fächern rund um die Digitalisierung? Der Stundenplan sei vollgepackt mit den klassischen Fächern wie Mathe, Deutsch, Naturwissenschaften, Fremdsprachen, Kunst, Musik, Religion und Sport. Professor Kraus: „Wir können nicht immer oben drauf packen. Doch wo streicht man die Stunden? Machen wir in Zukunft weniger Mathe? Oder streichen Latein und setzen auf Informatik!“
„Auszubildende brauchen eine Risiko- und Sicherheitskompetenz.“ (Frank Benner, Geschäftsführer der B + T Unternehmensgruppe)
Wie dringend Schule die Lehre umstellen muss, zeigt ein Blick in die Produktion des ausbildenden Unternehmens B + T Oberflächentechnik in Rechtenbach. Am neuen Standort des Oberflächenspezialisten der B + T Unternehmensgruppe ist die Industrie 4.0 eingezogen, sind die Anlagen und Maschinen konsequent miteinander vernetzt. Zwei Galvanik-Linien und eine Wärmebehandlungsanlage produzieren nach dem neuesten Stand der Technik. Der Datenaustausch mit Kunden oder Lieferanten läuft digital, mittels Kunden-, Lieferanten-, Planungs- und Produktionsinterface kann jederzeit die Lieferkette eingesehen und überprüft werden. Augmented Reality unterstützt den Produktionsprozess. „Man sieht, dass die Welt komplexer geworden ist“, sagt Frank Benner, Geschäftsführer der B + T Unternehmensgruppe. „Das stellt natürlich auch neue Anforderungen an unsere Ausbildung.“
Ausbilder müssten heute mindestens eine digitale Grundkompetenz vorweisen sowie eine digitale Grundausstattung bedienen können. Das gelte genauso für Azubis, wobei Frank Benner unter „digitaler Grundkompetenz“ keinesfalls das Bewegen in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram meint. „Auszubildende brauchen eine Risiko- und Sicherheitskompetenz, sie sollten eine schädliche Mail von einer normalen unterscheiden können und wissen, dass ein Eingabefehler in einer vernetzen Welt schwere Folgen haben kann.“ Weitere Grundvoraussetzungen für den Geschäftsführer: „Heutige Azubis müssen digital teamfähig sein, über den Tellerrand hinausschauen und sollten das Office Paket 365 genauso gut wie die 4 Grundrechenarten beherrschen. Ausbildung muss mit der Zeit gehen.“ Apropos Zeit: Was könnte im Stundenplan wegfallen, damit die Schüler und Azubis Neues lernen können? Frank Benner stellt die Frage anders: „Braucht man in der Berufsschule noch Religion und Sport?“
„Ein Bewusstsein über den kritischen Umgang mit den Medien wird vermittelt.“ (Studiendirektor Florian Müller, Theodor-Heuss-Schule Wetzlar)
„Bewährtes mit Hilfe der digitalen Medien verbessern“, so sieht Studiendirektor Florian Müller von der Theodor-Heuss-Schule (THS) in Wetzlar die Digitalisierung an seiner Berufsschule. Die THS geht bereits digitale Wege und ist dafür erst vergangenes Jahr – wie auch die Kaufmännischen Schulen des Lahn-Dill-Kreises - von der Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär, mit dem Prädikat „digitale Schule“ ausgezeichnet worden. An der THS sind bei den Verwaltungsfachangestellten, Bankern und Großhändler iPad-Klassen am Start, die Zwischenprüfungen bei den Verwaltungsfachangestellten werden bereits digital geschrieben, „der nächste Schritt, den wir gehen wollen, ist die digitale Abschlussprüfung“, so Florian Müller. Für die Lehrkräfte werden IT-basierte Fortbildungen und Blended Learning als Grundlage des Unterrichtens angeboten. Wobei Blended Learning mehr bedeutet, als die bloße Kombination aus virtuellen und klassischen Lernmethoden. Die Unterrichtsform soll vielmehr eine Brücke schlagen zwischen dem reinen E-Learning und dem klassischen Präsenzunterricht, erklärt Florian Müller. Mit dem Projekt „SAP4School“ besetzt die THS zudem die Schnittstelle zwischen Berufsschule und praktischer Ausbildung. „Dadurch können wir die gesamte Wertschöpfungskette moderner Unternehmen praxisnah abbilden und Verständnis für Prozessabläufe in einer digitalisierten Arbeitswelt fördern.“
Die Goetheuniversität in Frankfurt begleitet derzeit den Unterricht in einer der iPad-Klassen, um zu analysieren, wo die Chancen und Risiken des iPad-Einsatzes liegen. Für Müller liegen die Chancen des Tablet-Einsatzes bereits auf der Hand: „Kollaboratives und dezentrales Lernen wird vereinfacht, ein Bewusstsein über den kritischen Umgang mit den Medien wird vermittelt.“ Dabei setze man Methoden und Medien so ein, dass sie für die Schüler von Vorteil sind. In einer internen Schülerbefragung hat sich bereits die Mehrheit der Berufsschüler eindeutig pro iPad entschieden, die Anmeldungen für die iPad-Klassen im beruflichen Gymnasium haben sich laut Müller im letzten Schuljahr verdreifacht.
Bis auf die iPad-Klasse der Banker – hier werden die Geräte durch die ausbildenden Betriebe finanziert -, sind die Geräte mischfinanziert: „60 Prozent der Geräte vom Betrieb, 40 Prozent der Geräte von den Lernenden beziehungsweise dem Elternhaus“, so Müller. „Das klappt nicht überall.“ Hier wünscht er sich mehr Unterstützung bei der Ausstattung der Schulen.

Drei Fragen an…
… Prof. Katja Specht, Vize-Präsidentin der Technischen Hochschule Mittelhessen für Studium und Lehre
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Die Digitalisierung der Lehre ist nicht mehr aufzuhalten. Inhalte und Formate werden sich auch in Präsenzzeiten ändern müssen. Wie?
Prof. Katja Specht: Das Thema „Digitalisierung“ ist in dem Entwicklungsprozess aller neuen und bestehenden Studiengänge mitzudenken. Die Studieninhalte müssen zukunftsweisend sein, um die Kompetenzen unserer Absolvent*innen so zu entwickeln, dass auch zukünftige Berufsbilder abgebildet werden. Das ist ein spannender, aber in zweifacher Hinsicht nicht einfacher Prozess. Einerseits bedeutet Curriculumsentwicklung häufig, sich von alt bewährten Lehrinhalten zu verabschieden, das fällt nicht leicht. Andererseits ist die Frage, was das zukünftige Berufsbild ist, nicht einfach zu beantworten. Da setzen wir auf die Expertise unserer Lehrenden und die vielfach einbezogenen Praxiskontakte.
Wir haben durch die Pandemie sehr viel gelernt. Diese Erfahrungen zeigen, dass die Lehre an der THM als Präsenz-Hochschule zukünftig weder ausschließlich in Präsenz noch rein digital, sondern „digital gestützt“ sein sollte. Dazu haben sich und werden sich noch viele verschiedene Ausprägungen von Lehr-Settings entwickeln. Wir als THM wollen unseren Studierenden und auch Lehrenden auf der Basis der aktuellen Erkenntnisse viele Optionen von Formaten anbieten, immer verbunden mit dem Ziel, am Ende gemeinsam maximalen Lernerfolg zu erreichen.
Lehre der Zukunft wird hybrid sein in vielfältigen Ausprägungen. Das kann die Unterstützung der Präsenzlehre durch elektronische Quizze sein, ein Mix von digitalen Elementen und begleitenden Präsenzteilen (Blended Learning Konzepte) bis hin zu einer zeitsynchronen Übertragung der Präsenzveranstaltung auf die heimischen Bildschirme der Studierenden, um einige Beispiele zu nennen.
Mit welchen Formaten arbeiten Sie aktuell bzw. was ist derzeit an der THM im digitalen Lehrbereich möglich?
Prof. Katja Specht: Es wird sowohl zeitsynchrone wie auch asynchrone Lehre angeboten. Grob gesprochen basieren synchrone Veranstaltungen im Wesentlichen auf Videokonferenzsystemen (teils Eigenentwicklungen der THM), so dass die Lehrenden im Grunde die Veranstaltung live durchführen wie es auch im Hörsaal der Fall wäre. Unter asynchroner Lehre sind die Formate zu verstehen, bei denen die Lehrenden den Studierenden Lernvideos und andere Materialen über eine Plattform zur Verfügung stellen und die Studierenden die zeitliche Bearbeitung selbst bestimmen. Grundlage aller Veranstaltungen ist ein Lernmanagementsystem, über das die Studierenden alle relevanten Informationen und Materialien zu Veranstaltungen erhalten. Für das bevorstehende Semester konzentrieren wir uns insbesondere auf hybride Lehr-Formate im Sinne der Übertragung von Präsenzveranstaltungen.
Neben der Durchführung der Lehrveranstaltungen spielt auch die Prüfung eine wichtige Rolle. Wir sind diesbezüglich im intensiven Austausch mit den hessischen Hochschulen und bauen kontinuierlich Pilotbereiche zur Erprobung von Online-Prüfungen aus. Dabei stellen insbesondere datenschutzrechtliche Aspekte eine große Herausforderung dar, denen wir uns aber stellen müssen.
Auch wenn die Vorteile des digitalen Unterrichtens überwiegen, wie eine Umfrage unter den Studierenden der THM gezeigt hat: Wie wollen Sie in Zukunft verhindern, dass Sie Studierende beim digitalen Lernen verlieren?
Prof. Katja Specht: Hochschule ist ein Ort des persönlichen Diskurses. Es geht nicht nur um Vermittlung von Lehrinhalten, sondern der Austausch der Studierenden untereinander und mit den Lehrenden ist ein extrem wichtiger Aspekt eines Studiums. Zudem versteht sich die THM als physischer Ort der Anwendung des Erlernten in Laboren und Werkstätten. Diese Möglichkeiten sind aktuell nicht ausreichend möglich, wodurch wir die Bindung zu unseren Studierenden – insbesondere zu den jungen Semestern - nicht ausreichend aufbauen konnten. Dabei sei betont, dass in den Bereichen der Studienberatung, des International Office, der Bibliothek und des Hochschulsports in Verbindung mit dem studentischen Gesundheitsmanagement eine große Anzahl von digitalen Angeboten als Ersatz sehr engagiert entwickelt wurde. Doch gerade in diesen Handlungsfeldern spielt die Sozialisation eine große Rolle, die mit digitalen Formaten nur bedingt erreicht werden kann.
Daher wollen wir im kommenden Semester in der Lehre und auch in den studiennahen Bereichen so viel wie möglich in Präsenz anbieten. Dabei werden weiterhin die bewährten Hygienekonzepte der THM Gültigkeit haben, was zu einem weitreichenden Angebot der Übertragung der Präsenzveranstaltungen führen wird. Dazu hat die THM an allen Standorten ausgewählte Hörsäle mit vollautomatischen Videosystemen ausgestattet. Diese werden durch mobile Ausstattung für die Lehrenden ergänzt, deren Einsatz wir zentral durch ein eLearning-Team unterstützen. Ein elektronisches Buchungssystem der je nach Infektionslage zur Verfügung stehenden Plätze im Hörsaal und eine App zur Kontaktnachverfolgung sind wichtige Bausteine zum Gelingen dieser Öffnungsstrategie.
Damit steht die THM - nach dem kompletten Umstieg auf rein digitale Lehre in den vergangenen Semestern – wieder vor einer großen Herausforderung, der wir uns aber zum Wohle unserer Studierenden gern stellen.
Das Interview führte Iris Baar

Der Verein media Lahn-Dill e. V. ist eine Initiative aus regionalen Institutionen und Unternehmen aus Industrie, Handel, Handwerk und Dienstleistung, die sich seit 1996 der Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft verschrieben hat. Hierzu wurde das jährlich stattfindende mediaForum als starke Plattform etabliert. Schwerpunkte werden außerdem gesetzt im Bereich der IT-Sicherheit mit dem media IT-SicherheitsForum, regelmäßigen Netzwerktreffen sowie der flächendeckenden Versorgung mit schnellem Internet, für eine starke Wirtschaft im ländlich geprägten Raum. Der Vorsitzende des Vereins ist IHK-Bereichsleiter Recht | FairPlay, Christian Bernhard.