Veranstaltung

„Ich sehe momentan nur Verlierer“

Beim DenkRaumForum in der IHK Hochrhein-Bodensee diskutierten Vertreter aus der Schweiz und Deutschland über das Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens CH/EU.
Sieben Jahre haben die EU und die Schweiz über ein neues Rahmenabkommen zur Gestaltung ihrer künftigen Beziehungen verhandelt. Keine leichte Aufgabe, sollte dieses Abkommen doch die bis dato bestehenden bilateralen Abkommen unter einem Dach bündeln und ihre Fortentwicklung im Gleichklang mit dem Europäischen Recht dynamisieren. Ende Mai hat nun der Schweizer Bundesrat die Verhandlungen abgebrochen. Unüberwindlich schien offenbar der verbliebene Dissens in wenigen Punkten, darunter die Personenfreizügigkeit, der Lohnschutz oder die Rolle des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf die Souveränität der Schweiz. Ob die Verhandlungen nochmals aufgenommen werden, ist derzeit mehr als ungewiss. Beim DenkRaumForum in der IHK Hochrhein-Bodensee kamen nun Vertreterinnen und Vertreter aus beiden Ländern zusammen, um über die Auswirkungen des gescheiterten Rahmenabkommens zu diskutieren.
Warum sind die Auswirkungen für die Schweiz und ihre EU-Grenzregionen so gravierend? „Weil die EU und die Schweiz wirtschaftlich und gesellschaftlich so eng miteinander verflochten sind“, sagt Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee. „So eng, dass "Verflechtung" eigentlich eine Untertreibung ist. Wir leben in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum. Bände man die Waren-, die Dienstleistungs- oder auch die Pendlerströme über die Grenze ab, fehlte uns nicht ein bisschen Arbeit oder Umsatz, da gingen sprichwörtlich die Lichter aus, und zwar hüben und drüben. Unseren beiden Volkswirtschaften geht es umso besser, je weniger die Grenze überhaupt als solche wahrgenommen wird.“
Anhand von Zahlen zum Außenhandel verdeutlichte Marx, wie wichtig die Schweiz für Deutschland und insbesondere für Baden-Württemberg ist. „Die Schweiz ist für uns nicht der kleine Nachbar im Süden, sondern ein Wirtschaftspartner auf Augenhöhe mit Riesen wie China. Bei den Einfuhren nach Baden-Württemberg etwa ist das Volumen aus beiden Wirtschafträumen etwa gleich groß. Und bei den Ausfuhren liegt die Schweiz für Baden-Württemberg auf Platz vier, nach China, den USA und Frankreich.“ Dabei gilt: Je näher die Grenze, desto enger die Verflechtung, desto größer die wechselseitige Abhängigkeit. Neben dem Waren- und Dienstleistungsverkehr sind es die vielen tausend deutschen Grenzgänger, die mit ihrer Arbeit zum Inlandsprodukt der Schweiz beitragen, mit ihrem Einkommenstransfer aber auch den Binnenkonsum auf der deutschen Seite stützen. „Während des Lockdowns in der Coronakrise haben wir eine Idee davon bekommen, was es bedeutet, wenn der grenzüberschreitende Waren- und Personenverkehr nicht mehr einwandfrei funktioniert“, so Marx.

Dr. Jan Atteslander von economiesuisse kann dem nur zustimmen. „Wir sind so eng verflochten, dass es manchmal ökonomisch sinnlos ist, von zwei Volkswirtschaften zu sprechen. Dass der Bundesrat einseitig die Tür für ein Rahmenabkommen zugeschlagen hat, hat auch uns überrascht. Das ist auch diplomatisch ein Betriebsunfall.“ Die ersten Auswirkungen zum Scheitern sind laut Atteslander bereits heute zu spüren. Die EU hatte für den Fall eines Scheiterns bereits angekündigt, keine neuen Marktzugangsabkommen mit der Schweiz zu schließen und bestehende Abkommen nicht zu aktualisieren. „Von dem wissenschaftliche Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe wurde die Schweiz praktisch schon ausgeschlossen. 2024 erwarten wir eine neue Maschinenverordnung, später auch in der Humanmedizin. Die EU ist eine Regulierungsmaschine. Die Schweiz war bei der Ausgestaltung immer voll dabei. Das ist alles im Moment blockiert“, so Atteslander. Auch in der Medizintechnikbranche zeichnen sich bereits spürbare Probleme ab. Doch auch die Europäer sollten sich keiner Illusion hingeben, meint Atteslander. „Eine Erosion schwächt nicht nur die Schweizer, sondern auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU und der grenzüberschreitenden Wirtschaftsräume.“
Gerade die Schweizer Gäste sahen die Verantwortung für das Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU in erster Linie bei der Schweizer Regierung. „Die Schweiz hat sich als David und die EU als Goliath gesehen. Diese Perspektive war immer eine Illusion“, sagte der gebürtige Schweizer Gerald Schneider, Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz. Mangelnde Kenntnisse und Gleichgültigkeit zu Mechanismen der EU warf auch Prof. Christoph Frei von der Universität St. Gallen den Schweizer Politikern vor. „Meine Kritik und meine Enttäuschung richten sich nicht an die Europäische Union. Wir haben zu viele Menschen in der Schweiz, die keine Ahnung haben, dass die EU keine Spielräume hatte. Ich würde nicht darauf wetten, dass es für die Schweiz einen besseren Deal gibt.“ Und zitierte den Schweizer Diplomaten Jakob Kellenberger, der die bilateralen Verträge Ende der 90er Jahre verhandelt hat. „Was uns Schweizern heute fehlt, ist der Sinn für korrekte Größenordnungen. Man will nicht zur Kenntnis nehmen, dass die EU eine regulatorische Supermacht geworden ist.“
Im anschließenden Podium diskutierten die FDP-Bundestagsabgeordnete Dr. Ann-Veruschka Jurisch und Fredy Fässler, Regierungsrat des Kantons St. Gallen und Vorsitzender der Internationalen Bodensee-Konferenz, darüber, ob es einer eigenen, grenzregionalen Politik bedürfte. „Ich sehe momentan nur Verlierer“, sagte Regierungsrat Fässler und fordert: „Wenn wir geballt als Bodenseeraum auftreten, könnte sich etwas bewegen.“ Und Ann-Veruschka Jurisch ergänzt: „Wir brauchen einen politischen Impuls. Die Bodenseeregion ist eine Chancenregion mit Forschungsinstitutionen und Wirtschaftskompetenz. Wir müssen uns um den See herum im Sinne eines europäischen Gedankens zusammenschließen.“
Das DenkRaumForum hat deutlich gemacht, wie sehr sich Vertreterinnen und Vertreter auf beiden Seiten um die künftigen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz sorgen. Claudius Marx sah darin auch ein positives Momentum: „Dieselben Parteien, die zuvor über Jahre an einer Kooperation gearbeitet haben, haben nach dem Scheitern der Verhandlungen ein eben so großes Interesse an der Schadensbegrenzung. Beide Seiten wissen, dass sie viel zu verlieren haben. Das war nach dem schweizerischen Nein zu EWR und EU nicht anders. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass Schweiz und EU auch dieses Mal eine Lösung finden werden, die die grenzüberschreitenden Beziehungen, wirtschaftlich und gesellschaftlich, nicht gefährdet, sondern im Gleichschritt fortentwickelt.“
Ein hoffnungsvoller Abschluss für eine sehr ehrliche Veranstaltung.